Blühende Weinstöcke im Dezember

Weltwoche, Max Kern, 18.5.2022

Credit: Pump Park Vintage Photography / Alamy Stock Photo

Die Chronik der Innerschweizer Wetterschmöcker zeigt: Petrus spielte schon immer verrückt. Was dürfen wir vom Sommer 2022 erwarten?

Klimaerwärmung! «Das ganze Gejammer ist langsam schlimm», sagt der Schwyzer Filmemacher Thomas Horat, 58, Aktuar des Meteorologischen Vereins Innerschwyz, auch bekannt als Wetterpropheten oder Wetterschmöcker. «Wir sollten das Leben mehr geniessen.»

Wir sitzen am Fuss der beiden Mythen in Horats Küche. Das Holzhaus an der Strasse in Richtung Ibergeregg stammt aus dem Jahr 1600. Horat: «Hier drin war das erste Spital von Schwyz.» Vor ihm liegt die «Chronik der Wetterpropheten», ein 82-seitiges Buch zum 75-Jahr-Jubiläum des Vereins.

Dieser Klub der Wetterschmöcker entstand 1947 im Muotatal, als im Radio die Wetterprognosen immer populärer wurden. Viele Einheimische sorgten sich, dass deswegen die jahrhundertealte Tradition des Vorhersagens durch sorgfältige Naturbeobachtung verschwinden könnte.

Heute zählt der Meteorologische Verein Innerschwyz mehrere tausend Mitglieder, unter ihnen Martin «Wettermissionar» Horat, 78. Anhand der Fleischigkeit von Ameisenbeinen oder des Geruchs von Schnee sagt er das Wetter voraus. Sein Kollege Martin «Muser» Holdener aus dem Weiler Haggen bei Schwyz prophezeit für dieses Jahr einen heissen Sommer: «Die Klimaforscher fühlen sich wie Könige.»

Die Ironie ist gewollt. Denn nicht erst in unserer Zeit gibt’s heisse Sommer und schneefreie Winter, Felsstürze und Überschwemmungen, Trockenheit und Dürre. Schon vor tausend Jahren litten die Menschen unter Wetterextremen. «Wir sollten uns nicht in Angst und Schrecken versetzen lassen, wenn das Wetter Kapriolen schlägt», sagt Filmemacher Horat.

Wir blicken mit ihm zurück auf tausend Jahre Innerschweizer Wettergeschichte. Die Aufzeichnungen stammen grösstenteils von Geistlichen aus der Region.

1005 : Auf eine Dürreperiode folgt eine Hungersnot.

1185/6 : Blühende Bäume und Weinstöcke im Dezember, Januar und Februar.

1473 : Zwölf Wochen ohne Regen. Die Kirschbäume tragen zweimal Früchte, an Pfingsten und Martini.

1540 : Sehr heisser, extrem trockener Sommer. Der Boden hat schuhbreite Spalte.

«Der Monat Juni startet heiss, die Älpler ohne Vollbart haben zu kämpfen mit Bremen und Mücken.»

1616: Strengwinter. Dafür sommers eine der extremen Hitzewellen der letzten 500 Jahre.

1696: Lichter Winter. Kaplan Hasler bringt in der Heiligen Nacht eine frische, vollkommen gewachsene Schlüsselblume in die Sakristei.

1794: Im Februar blühen sonnig gelegene Kirschbäume. Mitte März gibt’s Laub und Gras. Ende April beginnt der Heuet.

1806: Den ganzen Winter über gefriert kein Brunnen. Der trockene, heisse Mai treibt Spalte in den Boden, der nasse Sommer füllt diese mit Wasser und dehnt sie aus. Nach mehrtägigen, schweren Regengüssen kommt es am 2. September zum Bergsturz in Goldau. 457 Menschen und viele Tiere finden den Tod. (Die Schweiz hat bis auf den heutigen Tag keine so schlimme Naturkatastrophe mehr erlebt.)

1900: Milder Winter. Der erste Schnee fällt erst am 23. März.

1920: Goldener Herbst des Jahrhunderts mit 47 Tagen ohne Regen. Aare, Linth, Reuss und Muota lagen seit hundert Jahren nicht mehr so tief.

1947: Trockenster und heissester Sommer seit Menschengedenken.

Filmemacher Horat bilanziert: «Das Wetter können wir nicht ändern.» Ihn beschäftigt dafür ein anderes Thema: der Wolf, dem er 2019 eine Dokumentation gewidmet hat («Die Rückkehr der Wölfe»).

Diesen Sommer dürfte die Lage besonders heikel werden. «Im Glarnerland hat sich ein Rudel gebildet», berichtet Horat. «Jetzt wandern die Jungtiere ab und suchen einen Platz, um selbst ein Rudel zu bilden. Die Bauern hier haben Angst, dass sie mit den Tieren nicht zur Alp können. Oder wieder runterkommen müssen. Denn die Schafe sind für die Wölfe wie ein gedeckter Tisch.»

Und wie wird nun der Sommer 2022? Thomas Horat präsentiert uns die Prognosen einiger Wetterschmöcker.

Martin «Muser» Holdener: «Juni: Die ersten Tage noch schön. Nachher muss keiner mehr unter die Dusche, fünfzehn Tage Regen, man wird draussen sauber genug. Ende Juni schön. Im Juli hält das schöne Wetter an. Um die Monatsmitte immer heisser, die Sonnencreme trocknet auf der Haut aus und bröckelt ab, besser wäre altes Pommes-frites-Öl. Im August wird viel Vieh von den Alpen geholt, nicht wegen Grasmangel, sondern wegen des Lümmelwolfs.»

Kari «Naturmensch» Hediger : «Der Monat Juni startet schwül und heiss, die Älpler ohne Vollbart haben zu kämpfen mit Bremen und Mücken. Ab Mitte Monat kommt gewitterhaftes und heisses Wetter auf uns zu. Vom 11. Juli bis Ende Juli grosse Hitze mit starken Gewittern. Zu Beginn der Hundstage (16.) heiss. Bis Mitte August weiterhin viel zu trocken und luftig, kaum etwas Regen. Der Rest des Monats immer noch ‹süttig›: Bier, Most und Mineral haben Hochkonjunktur, es wird nur noch gesoffen.»

Alois «Tannzapfen» Holdener: «Vom 1. bis am 10. Juni werden viele Leute schräg aus dem Fenster gucken, da es viel regnet. Juli: In den ersten zwölf Tagen heiss, aber gewittrig. Vom 13. bis am 24. Juli schönes und zu heisses Wetter. Vom 25. bis Ende Juli immer noch recht schön, aber starke Gewitter (Hagel nicht ausgeschlossen). Vom 21. August bis Ende August Hudelwetter, Regen und in den oberen Bergspitzen weiss.»

Martin Horat, Rothenthurm : «Anfang Juli Schnee, immer nass, kein trockener Faden mehr an den Kleidern. Vom 10. bis am 20. Juli sieht man keine jungen Pärchen mehr schmusen, da es wegen des heissen Wetters zu grusig ist, um zusammenzukommen. Auf Ende Juli sind die Leute wieder guter Laune. Anfang August ziemlich schön. Wegen der Umweltverschmutzung sollten die Grünen kein Feuerwerk entfachen.»