«Wir Menschen können uns täuschen»

Weltwoche, 01.09.2021, Roger Köppel und Beat Gygi

** Auf den Intensivstationen der Schweizer Spitäler liegen vor allem Ungeimpfte. Der Infektiologe Manuel Battegay zur Natur des Virus und zur Verantwortung der Einzelnen in der Pandemie.**

** Die Corona-Zahlen sind wieder am Steigen, es werden mehr Kranke in die Spitäler eingewiesen, und viele befürchten eine baldige Überlastung der Intensivstationen. Wie bedrohlich ist die Lage, wie gefährlich ist das Virus, was bringt die Impfung? Der renommierte Experte Manuel Battegay legt hier dar, was man darüber weiss. Der 61-jährige Wissenschaftler ist Chefarzt der Klinik für Infektiologie & Spitalhygiene am Universitätsspital Basel und Professor für Innere Medizin und Infektiologie an der Universität Basel. Wir treffen ihn zum Gespräch in seinem nüchternen Büro im Basler Universitätsspital.**

Weltwoche: Herr Battegay, in welcher Verfassung geht die Schweiz Ihrer Ansicht nach jetzt in den Corona-Herbst?

Manuel Battegay: Wir stehen in einer heiklen Phase, das gilt für die Schweiz und andere Länder. Wenn wir die Zahlen der Ansteckungen, Hospitalisierungen und belegten Intensivstationen anschauen, die im Vergleich zur ersten und zweiten Welle stärker steigen, dann ist das eine wirklich angespannte Situation.

Weltwoche: Was wäre denn zu tun?

Battegay: Wir wären sehr gut vorbereitet, wenn wir noch deutlich mehr impften. Es sind zurzeit fast nur Ungeimpfte in den schweizerischen Spitälern. Das Impfen bringt eine starke Entlastung. Von den über Siebzigjährigen beispielsweise sind jetzt deutlich über 80 Prozent geimpft, aber es sind die verbleibenden Ungeimpften, die dem Risiko schwerer Krankheitsverläufe ausgesetzt sind und gegebenenfalls Intensivstationen beanspruchen.

Weltwoche: Was wissen wir eigentlich über dieses Virus? Man hört von Krankheitsverläufen, die auch Ärzte immer wieder überraschen, mal von Gedächtnisstörungen, mal von plötzlichen Koordinationsproblemen im Sport. Was ist das Spezielle, Geheimnisvolle, Bedrohliche an diesem Virus, was wissen wir?

Battegay: Im Prinzip wissen wir sehr viel darüber, wenn es auch immer noch Neues gibt. Innert Wochen wurde dieses Virus sequenziert, also dessen genetischer Code entschlüsselt. Die dreidimensionale Struktur ist bekannt, die Beschaffenheit der Oberfläche. Und das klinische Bild beschrieben und weltweit sehr ähnlich, ob in China, in Südamerika, in den USA oder der Schweiz. Die Sterbewahrscheinlichkeit bei einer Infektion beträgt im Durchschnitt ungefähr 1 Prozent, bei Jungen bei der Alpha-Variante ist sie nicht viel höher als bei der Grippe. Bei über fünfzigjährigen Menschen steigt sie jedoch exponentiell, auf das Zehn- bis über Hundertfache der Grippesterblichkeit in den höchsten Altersklassen. Bei Delta sind nun auch Jüngere betroffen, ungleich mehr als bei der Grippe.

Weltwoche: Also ein grenzenloses Virus?

Battegay: Wir haben tatsächlich weltweit ein uniformes Krankheitsbild, und die Risikofaktoren sind überall die gleichen: Diabetes, Übergewicht, zu hoher Blutdruck, kardiovaskuläre Risiken, männlich – und nicht zu vergessen: das Alter an sich, selbst ohne Vorerkrankungen. Die Uniformität ist etwas vom Eindrücklichsten. Wir wissen auch, dass das Coronavirus viel weniger stark zu Mutationen neigt als das HIV. Und es ist klar, dass sich das Coronavirus im Unterschied zum HIV nicht ins Erbgut einschleusen kann. Die Menschen kicken das Virus quasi aus dem Körper, wobei leider zu viele schwer daran erkranken oder sterben.

Weltwoche: Was wissen wir nicht?

Battegay: Wir können nicht voraussagen, wer individuell schwer daran erkrankt oder wann und wo eine Corona-Mutation auftaucht, gegen die das Impfen unzureichend oder nicht wirkt, und das ist belastend. Niemand kann jetzt sagen, wie es im Winter genau weitergeht. Der beste Fall wäre, wenn wir nun durch eine sehr hohe Impfrate die Grundimmunität in der Bevölkerung noch massiv erhöhen könnten. Klar, gegen die Delta-Variante ist die Impfung schwächer wirksam. Aber die Impfung reduziert die Wahrscheinlichkeit, schwer zu erkranken, massiv, um das zirka 25- bis 50fache, und reduziert die Infektionen. Bei tiefer Impfquote werden die Hospitalisationszahl sowie die Zahl der Toten hoch bleiben und im Herbst und Winter wahrscheinlich ansteigen. Die Pandemieüberwindung wird bei tiefer Quote verzögert werden.

Weltwoche: Von Fachleuten hört man oft, dass das Coronavirus durch Mutationen harmloser und nicht gefährlicher werde.

Battegay: Das ist eine wichtige Frage. Aber wir stehen erst am Anfang der Coronavirus-Entwicklung. Die Delta-Variante zeigt, dass die Koevolution Virus–Mensch noch am Anfang steht. Delta verbreitet sich aggressiver und macht schwerer krank. Immerhin scheinen sich noch schwerer krank machende Mutationen nicht durchsetzen zu können. Aber warten wir ab. Es kann sein, dass das Coronavirus bei einer sehr hohen Immunität der Gesellschaft harmloser wird, da es ausweichen muss, und ähnlich sein wird wie die Grippe – aber wir sind noch nicht dort. Gut können wir Impfungen mit den neuen Technologien den aktuellen Viren anpassen.

Weltwoche: Was war für Sie persönlich das einschneidendste Erlebnis mit Corona?

Battegay: Das war, als ich Anfang 2020 die Kombination Übertragungspotenzial und Krankheitspotenzial sah, die auf eine unglaubliche Dynamik hindeutete. Ich sagte zu meinem Team im Februar: «Es wird eine Zeit vor Covid-19 und eine nach Covid-19 geben.»

Weltwoche: Ist das für Sie quasi ein Weltereignis der obersten Kategorie?

Battegay: Ich habe die HIV/Aids-Epidemie erlebt, ich muss überlegen, ob ich ja sage. Klar ja, in der Art, dass es die ganze Weltgemeinschaft belastet, denn bei Aids wusste man nach einiger Zeit, wie man sich spezifisch schützen kann – trotzdem hat Aids ein unglaublich hohes Leid mit über 35 Millionen Toten seit Beginn der Pandemie gefordert. Bei Corona erscheinen 1 Prozent Sterblichkeit im Durchschnitt und 0,7 Prozent für die Schweiz zunächst geringfügig. Aber konkret gesehen ist es hoch: Eine grosse Fluggesellschaft hatte vor Corona zirka 5000 Flüge pro Woche. Nehmen wir an, 1 Prozent der Flugzeuge stürzte ab, dann wäre das jedes hundertste Flugzeug – und das wären 50 Flugzeugabstürze –, inakzeptabel. Menschen wollen nicht sterben – wir haben einen Überlebenstrieb bis weit ins hohe Alter und bis weit in schwere Krankheiten hinein. Ich erlebte als Arzt häufig, wie Menschen, wenn Sie mit der Endlichkeit konkret konfrontiert sind, anders entscheiden.

Weltwoche: Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass so schnell Impfungen gefunden wurden?

Battegay: Ich finde es fantastisch. Warum? Weil jetzt jahrzehntelange Forschung zusammenkommt und eine derart schnelle Identifikation des Virus ermöglichte. Wichtig waren da auch Arbeiten der Schweizer Nobelpreisträger Rolf Zinkernagel oder Kurt Wüthrich, die haben viel zum Fortschritt beigetragen. Und jetzt wurde extrem rasch eine Produktion in grossem Massstab möglich, wie nie vorher.

Weltwoche: Was ist das Spezielle daran?

Battegay: Die Einfachheit. Das Prinzip der Impfung ist genial einfach. Und nach der Grundlagenforschung kam der zweite Teil der Erfolgsgeschichte. Die Produktion und Studien, die sich normalerweise über Jahre erstrecken, liefen auch dank Social Media schnell und sicher ab. Über fünf Milliarden Menschen weltweit erhielten mittlerweile mindestens eine Impfdosis. Und das neue Tempo betrifft auch die Berichte über Nebenwirkungen. Ein Beispiel aus Israel: Herzmuskelentzündungen als Nebenwirkungen, wie sind die Kausalzusammenhänge? Es zeigte sich: 2,7 von 100 000 Personen haben die Komplikation höchstwahrscheinlich wegen der Impfung, aber 11 Menschen wegen der Infektion. Das heisst: Ja, es gibt die Nebenwirkung, doch lieber Impfung als Infektion.

Weltwoche: Es gibt die Befürchtung, dass sich die Corona-Impfung ins menschliche Erbgut einschleust.

Battegay: Die sogenannte mRNA kann sich nicht in das Erbgut einfügen. Beim HIV bringt das Virus quasi die Rückwärtskopiermaschine mit und schleust sich zu 100 Prozent in das Erbgut ein. Bei der Impf-mRNA aber gibt es diese Rückwärtskopiermaschine nicht. Die Impfung geht nicht ins Erbgut.

Weltwoche: Unter keinen Umständen?

Battegay: Man könnte diese Situation in der Fantasie konstruieren, aber es geschieht weder bei Coronavirus-Infektionen noch bei der Impfung. Aber nehmen wir als Fantasie an, es wäre so – bei der natürlichen Infektion wäre die Einwirkung ja viel grösser, es ist ja die gleiche RNA. Da sind Impfskeptiker, die das Einschleusen befürchten, im inneren Widerspruch: Gälte ihre Hypothese, wäre ja das Virus selbst die grössere Bedrohung für das Erbgut als die Impfung. Das sind falsche Konstruktionen – fernab von wissenschaftlicher Evidenz.

Weltwoche: Aber diskutiert man in der Öffentlichkeit ernsthaft genug all die Nebenwirkungen?

Battegay: Diese Diskussion ist meiner Ansicht nach so transparent wie nie vorher in Impfdebatten. 80 Prozent der Leute haben Nebenwirkungen respektive eine Impfreaktion, und ich werde jetzt häufiger gefragt «Habe ich genügend Reaktionen?», als dass über Beschwerden geklagt wird.

Weltwoche: Aber das brisante Thema sind ja die wirklich schweren Nebenwirkungen.

Battegay: Ja. Die Anaphylaxie zum Beispiel, der allergische Schock, ist eine der schwersten Nebenwirkungen, führt glücklicherweise dank den weltweiten Zentren aber praktisch nie zum Tod. Da ist die Häufigkeit ungefähr 1 zu 50 000 bis 1 zu 100 000. Und die Nebenwirkungen auf das Herz sind sehr selten! Venöse Thrombosen sind laut neuen Daten bei der Impfung nicht gehäuft, aber treten bei Infektionen mit dem Virus vermehrt auf.

Weltwoche: Was sagen Sie einem jungen Menschen, der meint, seine Überlebenschance sei ja 99,97 Prozent in seiner Alterskategorie, er sei topfit, er lasse sich nicht impfen, man wisse ja nie, was in der Spritze sei?

Battegay: Zuerst muss ich erfahren, ob Ängste vor der mRNA da sind. Dann bespreche ich das Risiko. Als noch das Alpha-Virus dominierte, sagte ich ihnen, das Risiko einer schweren Erkrankung sei für sie praktisch gleich null. Heute mit dem Delta-Virus ist das nicht mehr der Fall, und jeder wird sich in den nächsten Monaten infizieren. Würde man das Risiko in andere Lebensbereiche übersetzen, würde sich Jung oder Alt da sofort absichern wollen. Das Coronavirus kann ins Gehirn gehen und Beeinträchtigungen verursachen. Und ohne zu dramatisieren, komme ich auf Long Covid zu sprechen, mit langwierigen, schwereren, langanhaltenden Fällen mit bis zu 3 Prozent Wahrscheinlichkeit, aber auch belastenden milderen zu einem höheren Prozentsatz. Ohne dass ich eine Empfehlung ausdrücke, fragen viele: Wo kann ich mich heute impfen lassen?

Weltwoche: Wie beruhigen Sie einen totalen Skeptiker, der sagt: Stopp Impfung, ich will keine fremden Gene in meinem Körper.

Battegay: Ich versuche ihm klarzumachen, dass mRNA nicht ins Erbgut eingebaut, sondern sehr schnell abgebaut wird und nichts verändert an den Genen. Es ist für seriöse Impfexperten weltweit nicht vorstellbar, dass auf Gen-Ebene etwas passiert. Aber ich akzeptiere es auch. Ich will niemanden überreden.

Weltwoche: Und Langzeitwirkungen anderer Art?

Battegay: Rein theoretisch könnte ja ein Langzeitschaden entstehen, den man noch nicht kennt. Aber man hat jetzt weltweit ungefähr fünf Milliarden Impfdosen verabreicht, und wenn es solche Folgen gäbe, dann müsste sich doch das allmählich zeigen.

Weltwoche: Langzeitfolgen können sich erst nach langer Zeit zeigen.

Battegay: Ich sehe jedenfalls nichts, was bleibende Spuren im Körper hinterlassen könnte, ausser den Abwehrreaktionen, die ja gewollt sind und von den natürlichen Körperzellen stammen. Die richten sich ja gegen das Virus. Und wichtig: Diese mRNA entspricht der Virus-RNA.

Weltwoche: Wie gehen Sie damit um, dass beim Wort «Gen» sofort die schlimmsten Fantasien und Befürchtungen aufkommen?

Battegay: Wir leben in einem anderen Zeitalter. Ich, wie wohl die meisten Leser, wurden früher geimpft, ohne gross gefragt zu werden, unsere Eltern erlebten ja noch schreckliche Infektionskrankheiten wie die Polio. Da war man dankbar für eine Impfung. Heute wissen wir viel mehr, und die Menschen wollen dies auch wissen, das ist völlig in Ordnung. Aber je mehr wir wissen, desto mehr wird alles hinterfragt. Es würde mehr Vertrauen schaffen, wenn in den Medien mehr Experten zu Wort kämen, die komplementäre, durchaus auch konträre Ansichten haben, und Diskussionen führten: etwa ein Epidemiologe, ein Infektiologe, ein Intensivmediziner. Dass in den Medien Leute mit Extremmeinungen und mit einer schwachen oder keiner wissenschaftlichen Grundlage gleiches Gewicht erhalten wie Experten, finde ich bedenklich. Den Begriff des «false balancing», der falschen Gewichtung, kannte ich lange nicht, aber er trifft das Problem. Denn dadurch entstehen eine falsche Wahrnehmung und grosse Verunsicherung.

Weltwoche: Aber das Gefühl in der Bevölkerung ist wahrscheinlich nicht ausgeräumt, es werde zu wenig über Nebenwirkungen diskutiert.

Battegay: Das stimmt. Da müssen wir sehr gut erklären und über Studienresultate berichten.

Weltwoche: Dann könnten die Jungen auch sagen, die Impfrisiken seien wohl grösser als ihr Risiko, krank zu werden, also sei ihr Entscheid gegen die Impfung rational.

Battegay: Das ist ein Trugschluss. Die Leute täuschen sich, das muss ich ganz klar sagen. Das ist ein Problem der Wahrnehmung. Denken Sie an die Übertragung des Risikos auf ein imaginäres Flugrisiko. Praktisch niemand würde bei einem 1:100-Risiko mehr fliegen, das Risiko ist zu hoch. Bei schwerer Krankheit werden kritische Ansichten über Spitzenmedizin sehr häufig schnell über Bord gekippt. Wer gesund ist, kann sich nicht vorstellen, was es heisst, wenn es dann plötzlich anders aussieht. Wir Menschen führen eine doppelte Buchhaltung, in der guten Zeit blenden wir Krankheit und Risiken aus. Gott sei Dank für unser Wohlbefinden, aber hier dürfen wir es nicht. Wir Menschen können uns täuschen. Und die Impfung gibt eine wirkliche Sicherheit.

Weltwoche: Jetzt kann man aber sagen, die Ausländer seien das Problem, sie belegten ja unsere Intensivstationen, während die Schweizer sich wegen der Personenfreizügigkeit nun einschränken müssten und all das bezahlten. Wie sehen Sie das?

Battegay: Im Moment sind es tatsächlich überwiegend Menschen mit Migrationshintergrund, die auf unseren Abteilungen liegen, aber jeder wird dem Virus begegnen, einfach zeitlich etwas verschoben, irgendwann. Delta hat eine zu hohe Transmissionsrate.

Weltwoche: Auch wenn die Leute eigenverantwortlich handeln und sich schützen?

Battegay: Ich finde das Wort Eigenverantwortung nicht so gut, besser: Verantwortung, wir leben doch seit Menschengedenken in einem sozialen Kontext. Wir haben das Epidemiegeschehen im Zusammenhang mit Influenza erforscht und gesehen, dass Menschen mit mehr Wohnraum weniger infiziert werden als Menschen mit weniger Wohnraum. Das hängt zusammen mit Familiengrösse, Zusammenkünften und mit Informationsstand. Es ist wichtig, auf Bevölkerungsgruppen zuzugehen, aber auch, dass jetzt in Gruppen mit Migrationshintergrund Initiativen entstehen zugunsten des Impfens. Genauso wichtig sind Initiativen auf dem Land bei Menschen, die schon lange hier leben. Daten zeigen, dass es gerade bei der schweizerischen Landbevölkerung eine starke Impfskepsis gibt. Wir haben jetzt einfach keine Zeit mehr für ein Spiel der gegenseitigen Beschuldigungen.

Weltwoche: Geht es also doch darum, irgendwie Druck in Richtung Impfen auszuüben?

Battegay: Ich gehe ganz an den Anfang zurück, der heisst: Menschen wollen überleben. Das bringt sie automatisch dazu, in dieser Situation weniger Risiken einzugehen, und da ist das Impfen der wichtigste Pfeiler. Ich will damit sagen, der Druck ist nicht top-down, von oben, vom BAG oder Bundesrat – sich zu schützen, gehört zum Menschen. Aber um dies klar zu sagen: In den Spitälern sind wir für alle Menschen da, für Ungeimpfte und Geimpfte.

Weltwoche: Stellt ein Ungeimpfter eigentlich eine Bedrohung dar?

Battegay: Das ist keine einfache Frage. Ich habe das Wort Bedrohung nicht gerne. Das Risiko für ihn selbst ist am grössten, er tut sich selbst den grössten Dienst mit der Impfung. Zweitens ist es eine Infektionskrankheit, und Impfungen reduzieren die gesamte Viruszirkulation in der Gesellschaft stark, auch im Hinblick auf Kinder, welche nun ab zwölf Jahren geimpft werden können. Drittens verlängert er damit die Pandemie, das betrifft die Gesellschaft. Und viertens, ganz konkret: Wir sehen bereits wieder eine grosse Belastung der Akutspitäler, die nicht weiter ansteigen darf. Spitalkapazitäten können zwar umorganisiert werden, aber tangieren dann andere Eingriffe und Betreuungen. Vice versa: Eine hohe Impfrate ist das Beste, damit es nicht zu starken Massnahmen kommt.

Weltwoche: Die Ungeimpften können doch jetzt sagen, der Staat und die Medizin hetzten alle gegen sie auf und stellten sie als Bedrohung dar, weil von der Begrenzung der Gesundheitskapazitäten abgelenkt werden soll. Kritisch gefragt: Wie ernst nimmt die Schweiz den Kampf gegen dieses Virus? In einem Krieg ist man am Anfang immer unvorbereitet, die Armee ist klein. Um im Bild zu bleiben: Wo bleibt die Aufrüstungsenergie des Gesundheitswesens in der Schweiz? Wenn jetzt die Ärzte und die Spitaldirektoren sagen, die Intensivstationen seien eine fixe Grösse, nicht ausbaubar, wie eine festgefügte Bürokratie, dann muss man fragen: Ist die grösste Bedrohung der Gesundheit nicht der Gesundheitssektor, der nicht aufrüsten will?

Battegay: Sie irren sich. Erstens haben die Schweiz und vor allem die Intensivmediziner selber mit dem Krisenstab und der Armee eine wichtige Änderung eingeführt, nämlich dass Covid-19-Patienten zwischen Spitälern verlegt werden können. Die Helikopter flogen, und dadurch war die zweite Welle bewältigbar. Zweitens erreichten wir eine Sterberate bei Hospitalisierten in den ersten zwei Wellen von 10 bis 13 Prozent in allen Akutspitälern. Grossbritannien hatte derweil eine solche von 20 bis 30 Prozent. Unsere Akutmedizin hat also exzellent gearbeitet. Und zu den Kapazitäten stellt sich primär die Frage: Wie viele Schwerkranke und Tote toleriert eine Gesellschaft?

Weltwoche: Wie meinen Sie das?

Battegay: Wir könnten theoretisch auf Kriegsmedizin gehen, indem wir sagen: Wir erhöhen die Bettenzahl auf 2000 bis 3000 Betten, aber dann wird die Sterblichkeit nicht um 2 oder 3 Prozent, sondern enorm steigen.

Weltwoche: Sie sagen also: Die Aufrüstung der Intensivstationen würde zu mehr Todesfällen führen?

Battegay: Ja, die Ausweitung der Plätze wäre mit einer Streckung des Personals verbunden, die Folge wäre ein signifikanter Qualitätsverlust. Zudem würde es eine falsche Sicherheit vermitteln, wegen exponentieller Anstiege. Trotzdem: Corona ist für mich ein Hinweis, dass wir weniger Akutspitäler haben sollten, dafür solche mit intensiver behandelbaren Patienten – das ist auch sonst nötig.

Weltwoche: Und die Armeespitäler? Können die im Notfall nicht zusätzliche Kapazitäten bieten?

Battegay: Ich wäre da sehr skeptisch, da die Komplexität der Betreuung immens ist.

Weltwoche: Wie hat die Schweiz Ihrer Ansicht die ganze Pandemie bisher bewältigt?

Battegay: Die Pandemie ist nicht vorbei. Die Schweiz bewältigt die Pandemie aus einem tiefen Selbstverständnis. Es gab 2020 bei uns keinen Sofort-Kippschalter für Krise. Jeder und jede äussert seine Meinung und die Vielschichtigkeit der Entscheide ist nicht einfach nachzuverfolgen. Da gibt es einiges zu lernen für die Zukunft – auch unter Beibehalt der demokratischen Prozesse. Nun sollten wir eine typische schweizerische Eigenschaft mehr leben und mit der Impfung in der Hand pragmatisch vorangehen. Wir lernen schnell und das ist nun wieder nötig! Dann bewältigen wir die Pandemie weiterhin gut.