NZZ, Abdel-Hakim Ourghi, 30.06.2023
«Ḫaibar, Ḫaibar, oh ihr Juden!», wird an antiisraelischen Demonstrationen gerufen. Die Parolen zeugen von einem jahrhundertealten muslimischen Judenhass
Anders als von vielen Linken behauptet, wurden Juden auch in muslimischen Gebieten verfolgt – Judenfeindschaft in der islamischen Welt ist nicht auf den Fundus des europäischen Antisemitismus zurückzuführen. Wenn es im Nahen Osten Frieden geben soll, braucht es eine ehrliche Vergangenheitsbewältigung.
Palästinenser verbrennen die israelische Flagge bei Ausschreitungen während dem «Tag der Nabka» am 15. Mai. 2011 in Israel.
Die Vergangenheit einer Kultur lässt sich nicht einfach per Befehl abschalten. Kein Mensch, keine Gemeinschaft und keine Religion kann ihrer Vergangenheit entkommen, auch wenn immer wieder versucht wird, die dunklen Epochen der eigenen Geschichte zu vergessen oder zu verdrängen. Besonders in aktuellen Konfliktsituationen holen die vergangenen Ereignisse die Menschen ein.
In der tragischen Begegnung der Juden mit den Muslimen im siebten Jahrhundert wurde der Grundstein für ein historisches Trauma gelegt, das im Laufe der Jahrhunderte nicht geheilt wurde und in den gegenwärtigen politischen Konflikten immer wieder von neuem aufbricht. Dies lässt sich auch an der – unter anderem – religiös legitimierten und in vielen muslimischen Ländern zur Staatsräson erhobenen Verachtung der Juden und am zunehmenden islamischen Antisemitismus in westlichen Ländern beobachten.
Antisemitismus ist unislamisch – sagen linke Ideologen
Es muss hier zuerst an die Diskriminierung, die Verfolgung, die Enteignung und die systematische Eliminierung einer zweitausendjährigen jüdischen Kultur in den arabisch-islamischen Ländern erinnert werden, die nach der Gründung des Staates Israels im Jahre 1948 einsetzten. Dies ist bis heute unter Muslimen ein Tabuthema geblieben: ein irreparabler Verlust, der auch als ein weiterer Baustein der gegenwärtigen Sinnkrise des Islam angesehen werden kann. Ein Weiterbestehen der jüdischen Gemeinden in der arabisch-islamischen Welt hätte gewiss zur kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entfaltung der arabisch-islamischen Welt beitragen können.
Bis heute behaupten Muslime und viele westliche Linke, dass die meisten Elemente von Judenfeindschaft und Antijudaismus in der islamischen Welt und muslimischen Gemeinden der westlichen Länder mit ihren Stereotypen auf den Fundus des europäischen Antisemitismus zurückzuführen seien. Das Phänomen soll ein europäisches sein, das als antisemitische Ideologie in die arabisch-islamische Welt importiert wurde. Für seine flächenbrandartige Ausbreitung sei die Staatsgründung Israels der Auslöser gewesen.
Der Koran, die Tradition des Propheten (as-sunna) und das Handeln des Propheten sollen damit überhaupt nichts zu tun haben. Diese ideologische Agenda will demonstrieren, dass Antisemitismus unislamisch sei und überhaupt nichts mit den Lehren des Islam zu tun habe. Schliesslich sei es den Juden unter islamischer Herrschaft gut gegangen.
Zwar kann niemand leugnen, dass es historische Phasen gab, in denen es den Juden unter muslimischer Herrschaft gut ging. Doch ist das keineswegs durchgehend der Fall gewesen. Der «glückliche Jude» in einer islamischen Geschichte, in der die Juden und andere Minderheiten keine Verfolgungen, Pogrome und Vertreibungen erlebten, ist ein Mythos. Die Entstehung dieses Mythos der toleranten Koexistenz zwischen Juden und Muslimen in «goldenen Zeitaltern» ist eine Rückprojektion der Geschichtsschreibung der frühen Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert.
In «abscheuliche Affen» verwandelt
Islamischen Antijudaismus gibt es nicht erst seit der Staatsgründung Israels. Das zeigen Pogrome, Verfolgungen und Vertreibungen der Juden, etwa in Granada (1066), Fes (1565), Benghasi (1785), Algier (1815), Damaskus (1840) oder Kairo (1844). Der 1138 geborene Arzt und Philosoph Moses Maimonides schrieb: «Kein Volk hat jemals Israel mehr Leid zugefügt. Keines hat es ihm gleichgetan, uns zu erniedrigen und zu demütigen. Keines hat es vermocht, uns so zu unterjochen, wie sie es getan haben.» Damit meinte er die Muslime.
Moritz Daniel Oppenheim: Jüdischer Gefangener in der Damaskusaffäre (Gemälde 1851)
Nachdem der Prophet im Jahr 622 von Mekka nach Medina gezogen war, versuchte er sich dem Judentum als monotheistischer Religion anzunähern. Bewusst änderte er seine Strategie, in der Hoffnung, dass sie ihn als Gesandten Gottes und den Koran als Bestätigung des Alten und des Neuen Testaments anerkennen würden. Die Juden sollten sich zum Islam bekehren lassen. Diese Strategie blieb jedoch erfolglos, weshalb in Medina eine neue Ära der Gewalt begann.
Schon ab dem Jahr 623 werden die Juden – ähnlich wie die Christen – als Ungläubige (kuffār) bezeichnet, über die Gottes Fluch komme, solange sie sich nicht zum Islam bekennten. Sie hätten den Bund, den sie mit Gott geschlossen hätten, gebrochen und stünden in Sünde und Übertretung der göttlichen Gebote zusammen. Die Juden seien Irrende, ihr Herz härter als Stein, und viele von ihnen seien Frevler. Im Koran ist ebenfalls zu lesen, dass sie dem Zorn Gottes verfielen, weil sie nicht an seine Offenbarung glaubten und seine Propheten töteten. Der Koran unterstellt ihnen auch, sie entstellten das Wort Gottes und verdrehten den Wortlaut der Schrift.
Auch alltägliche Lebensweisen der Juden werden kritisiert. So nähmen sie Zins, obwohl es ihnen verboten sei, und sie brächten die Leute in betrügerischer Weise um ihr Vermögen. Wegen ihrer Sünden und ihrer Torheit habe Gott die Juden in Tiere verwandelt. So heisst es, er habe sie zu «abscheulichen Affen» werden lassen, nachdem sie sich über seine Gebote wie das Sabbatgebot hinweggesetzt hätten. An anderer Stelle werden Juden und Christen daran erinnert, dass Gott andere aus ihren Reihen verflucht habe und aus ihnen «Affen und Schweine und Götzendiener gemacht hat».
Eine Oase als Namensgeber für die Raketen des Hizbullah
In diesem geistigen Angriff gegen die Juden werden diese zu den historischen Widersachern des Islam und der Muslime erklärt. Der Koran skizziert regelrecht ein Programm für Judenhass, der auf der Auffassung gründet, die Juden blieben auf ewig Feinde der Muslime. Er legalisiert den Status der Inferiorität der Juden und legitimiert somit ihre Unterwerfung, sogar Vertreibung und Tötung.
Im April 624 liess der politische Prophet zwei jüdische Stämme ohne Hab und Gut aus Medina vertreiben, um ausreichende Mittel für den geplanten heiligen Krieg gegen die Mekkaner zu erhalten. Die Sure 33 spricht zudem offen über das Massaker, das am 25. April 627 am dritten jüdischen Stamm von Medina verübt wurde: Die muslimischen Krieger massakrierten unter der Aufsicht Mohammeds 600 bis 900 Männer und verschonten nur die, die sich zum Islam bekehrten. Auch jüdische Dichter, wie etwa Ka‘b Ibn al-Ashraf, wurden auf Befehl des Propheten hingerichtet, weil sie Schmähgedichte über den Propheten und die Ehefrauen der Muslime verfasst haben sollen.
Im Mai 628 griff der Prophet die Oase Ḫaibar an, die von einigen jüdischen Clans besiedelt war. Nach etwa acht Wochen Belagerung und Kampf kapitulierten die Juden und schlossen Frieden mit Mohammed, der ihnen seine Bedingungen diktierte. Die Juden erhielten zwar eine Schutzgarantie, mussten jedoch auf unbestimmte Zeit die Hälfte ihrer Ernte als Tribut an die neuen muslimischen Herren entrichten. Noch heute erinnern Muslime in der ganzen Welt, die gegen Juden und den Staat Israel demonstrieren, an diese Unterwerfung: «Ḫaibar, Ḫaibar, oh ihr Juden! Mohammeds Heer wird bald wiederkehren!» Die aus Iran importierten Raketen, mit denen die Terrororganisation Hizbullah 2006 Israel angriff, trugen den Namen «Ḫaibar 1».
Ali ibn Abi Talib tötet Marhab in der Schlacht
Im Dezember 630, zwei Jahre vor dem Tod des Propheten, kam es zur Einführung der ğizya als den Juden und Christen auferlegte Kopfsteuer, die zur Sicherung des Unterhalts der neuen Gemeinde der Muslime dienen sollte. In Algerien und Marokko gab es vor der Kolonialzeit Rituale, bei denen die Juden bei der Entrichtung der Kopfsteuer durch Anwendung von körperlicher Gewalt – Ohrfeige, Stockschlag oder Schlag in den Nacken – öffentlich gedemütigt wurden.
An der gelben Kopfbedeckung sollten sie erkannt werden
Ab 634 wurde die Unterdrückung weiter verschärft. Den Juden war es fortan verboten, neue Synagogen zu bauen. Jüdische Kultstätten mussten niedriger als Moscheen sein. Gottesdienste waren im Verborgenen zu verrichten, und neu gebaute Gotteshäuser sollten zerstört und durch den Bau von Moscheen ersetzt werden können. Juden und Christen durften während der muslimischen Gebetszeiten ihre Stimme nicht erheben, ihre Religion und deren Symbole nicht öffentlich zeigen. Ihre Beerdigungen sollten in aller Stille durchgeführt und ihre Toten nicht in der Nähe der Muslime begraben werden. Sie durften keine Waffe tragen und nicht auf Pferden reiten.
Die weitere Geschichtsschreibung hat ganz unterschiedliche Traditionen bewahrt. Ausser von Phasen des friedlichen Miteinanders wird immer wieder von zahlreichen muslimischen Herrschern in nahezu allen islamischen Ländern berichtet, die Juden und Christen aus Staatsämtern entliessen oder ausschlossen. Juden und Christen durften die Bäder der Muslime nicht betreten; ihre Kinder sollten nicht von muslimischen Gelehrten unterrichtet werden, die Farbe ihrer Kleidung musste sie als Angehörige einer minderwertigen Religion kennzeichnen. Weil laut der Tradition Mohammed die Farbe Gelb nicht mochte, wurde ein gelber Flicken auf der Kleidung oder eine gelbe Kopfbedeckung zum Erkennungszeichen der Juden. Diese Massnahmen wurden bis zur Kolonialzeit in wechselnder Weise umgesetzt. Sie zielten auf eine klare Separierung und Unterwerfung der Juden und Christen ab.
Kollektives Erinnern ist ein ethischer Imperativ, der vor allem das Ziel hat, dass sich das vergangene Unheil nicht wiederholen möge. Wichtig wäre eine Vergangenheitsbewältigung, die auf einer kritisch-reflektierenden Aufarbeitung der Geschichte des Islam beruht. Der heutige islamische Antisemitismus ist eine radikale Form des klassischen Antijudaismus. Für seine Perpetuierung wirkte die Entstehung des Staates Israel wie ein Brandbeschleuniger. Jedoch darf die Rolle der religiös begründeten, tradierten und praktizierten Herabsetzung der Juden und des Antijudaismus unter muslimischer Herrschaft bei der Vertreibung und Enteignung der Juden in arabisch-islamischen Ländern nicht unterschätzt werden.
Eine Wiedergutmachung könnte durch die Errichtung von Gedenkstätten und Denkmälern, vor allem in Medina, Damaskus und anderen Städten arabischer Länder, wo Juden lebten, in Angriff genommen werden. Es muss endlich an die Vertreibung der Juden aus den arabisch-muslimischen Ländern erinnert und das Thema Schuld zu einem Kern der muslimischen Identität erhoben werden. Ein von Schuld mitgeprägtes Selbstbild der Muslime könnte den Beginn des Wegs der Versöhnung mit den Juden bedeuten. «Nie wieder», wie es Elie Wiesel nach dem Holocaust forderte, sollte auch den Muslimen ein Leitwort sein: Dies ist der Weg zu Frieden und humanistischen Werten, die alle Menschen miteinander verbinden.
Abdel-Hakim Ourghi ist Islamwissenschafter, sein Buch «Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit fatalen Folgen» ist im Mai 2023 im Claudius-Verlag erschienen.