Christliche Sklaven, muslimische Herren

300 Jahre lang versklavten Piraten aus dem Maghreb Hunderttausende von Europäern. Warum wissen wir so wenig darüber?

Christliche Sklaven, muslimische Herren: Fast 300 Jahre lang bedrohten Piraten aus dem Maghreb die Seefahrt im Mittelmeer. Die Forschung schenkt diesem Kapitel der Geschichte wenig Beachtung, obwohl es bis heute nachwirkt.

NZZ, Beat Stauffer, 5.11.2020

Hier feiern Klischees fröhliche Urständ: Orientalische Piraten würfeln um die weibliche Beute. Die Radierung entstand nach einem Gemälde von Frederick Richard Pickersgill.

Die lustigen «Piratenschiffe», die an unzähligen Badeorten an der Küste des Mittelmeers vor Anker liegen, amüsieren Touristen und lösen vielleicht auch einen leisen Schauder aus. Doch kaum jemand weiss noch, dass Piraten – auch Korsaren genannt – jahrhundertelang im Mittelmeer Angst und Schrecken verbreitet haben.

Sie kaperten Handelsschiffe, unternahmen regelmässige Raubzüge entlang der Küsten, verschleppten alle, die nicht fliehen konnten, setzten Fischerdörfer und Städte in Brand. Die Opfer dieser Raubzüge wurden nach Algier, Tunis oder Tripolis gebracht und versklavt. Hunderttausende Europäer erlitten dieses Schicksal.

Räuberische Staaten

Dass auch Europäer Opfer von Sklaverei geworden sind, scheint aus heutiger Perspektive kaum nachvollziehbar. Die Eroberung der Welt durch europäische Kolonialmächte und der transatlantische Sklavenhandel haben diesen Aspekt der Geschichte des Mittelmeerraums vollkommen in Vergessenheit geraten lassen.

Doch die Raubzüge von Piraten aus den sogenannten Barbareskenstaaten, den osmanischen Regentschaften Algier, Tunis und Tripolis und dem Sultanat Marokko, sind gut dokumentiert. All diese fragilen Staatsgebilde lebten zur Hauptsache von Piraterie, Raub und Lösegelderpressung. Zwischen 1530 und 1780, so schätzt der amerikanische Historiker Robert C. Davis, sollen zwischen 1 und 1,25 Millionen Europäer – grösstenteils Männer – verschleppt und versklavt worden sein.

Davis stützt sich bei seinen Berechnungen in erster Linie auf unzählige Akten aus staatlichen Archiven und solchen von Ordensgemeinschaften, die sich um den Freikauf und um die Betreuung der christlichen Sklaven gekümmert haben. So soll etwa die Royal British Navy allein zwischen 1606 und 1609 einige zehntausend Mann Besatzung und 606 Schiffe an algerische Korsaren verloren haben. Am meisten hatte aber die Bevölkerung an den Küsten Spaniens, Portugals, Italiens und vieler Mittelmeerinseln unter den Raubzügen der maghrebinischen Piraten zu leiden. So machten algerische Piraten laut zeitgenössischen Chroniken allein im Jahr 1544 in der Bucht von Neapel rund 7000 Gefangene. Sizilien schliesslich wurde zwischen 1570 und 1606 insgesamt 136 Mal angegriffen.

Kerker für christliche Sklaven

Algier war im 17. und 18. Jahrhundert das bei weitem wichtigste Zentrum der Korsaren. Laut zeitgenössischen Berichten von Ordensbrüdern, europäischen Gesandten und Kaufleuten gab es damals in Algier acht grosse Gefängnisse für christliche Sklaven – sogenannte Bagnos –, von denen das grösste, das «Bagno Beyliç», rund 2000 Insassen zählte.

In diesen Gefängnissen herrschten katastrophale Bedingungen. Eingepfercht in enge, unbelüftete Verliese, mussten die Insassen tagsüber härteste Arbeiten verrichten. Sie schufteten in Steinbrüchen und auf Galeeren, bauten Strassen, Festungen und Paläste. Schilderungen der Gefangenen, die über Ordensleute nach Europa gelangten, vermitteln noch heute drastische Bilder von unsäglichem Leid und tiefer Verzweiflung.

Etwas besser erging es einer kleinen Minderheit von Sklaven, die aufgrund ihres Ranges bevorzugt behandelt wurden, zum Islam konvertierten oder aufgrund ihrer beruflichen Fähigkeiten einen «privaten» Herrn fanden. Dadurch wurden sie zu Haussklaven beziehungsweise Dienern. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Sklaven wurde auch freigekauft; so der spanische Schriftsteller Cervantes, der fünf Jahre in Algier versklavt war.

Auch in Tunis und Tripolis, in Salé und Meknès existierten solche Gefängnisse, die heute mehrheitlich zerstört sind. Zu den wenigen Ausnahmen gehört das Christengefängnis Habs Kara im nordmarokkanischen Meknès, erbaut von einem portugiesischen Architekten, der in Gefangenschaft geraten war. Die riesigen, unterirdischen Verliese, in denen Gefangene darauf warteten, freigekauft zu werden, vermitteln noch heute einen niederschmetternden Eindruck. Eigentliche Erinnerungsstätten für die versklavten Christen im Maghreb existieren allerdings keine.

Die Dimensionen des Kerkers Habs Kara in Meknès lassen ahnen, dass auch hier Gefangene in grosser Zahl festgehalten wurden.

Ein ignoriertes Stück Geschichte

Nur wenige Historiker haben sich bisher dieses Kapitels der Geschichte angenommen. Manche Forscher zweifeln auch die Schätzungen und Hochrechnungen über die Zahl der versklavten Europäer an. Sie halten die Datenlage für zu unsicher, um zuverlässige Schätzungen vorzunehmen, und verweisen auf die nur beschränkte Aussagekraft der Zeugnisse freigelassener Sklaven. Dennoch ist es erstaunlich, dass der Sklavenhandel in umgekehrter Richtung derart aus dem Blickfeld der Forschung und dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist.

Das Thema der Versklavung von Europäern im Mittelmeerraum darf keinesfalls dazu verwendet werden, die zahlenmässig weitaus bedeutendere transatlantische Sklaverei in irgendeiner Weise zu relativieren. Sie in Erinnerung zu rufen, ergibt aber Sinn, um einer ideologischen und voreingenommenen Sicht auf dieses überaus komplexe Phänomen etwas entgegenzusetzen.

So weist die Versklavung von hellhäutigen und christlichen Bewohnern des Mittelmeerraums darauf hin, dass die Sklaverei in der frühen Neuzeit nicht von Anfang an das Resultat eines tief verwurzelten europäischen Rassismus gegen Menschen schwarzer Hautfarbe gewesen ist. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass dunkelhäutige Sklavenjäger und arabische wie auch kreolische (Zwischen-)Händler beim afrikanischen Sklavenhandel eine zentrale Rolle gespielt haben. Darauf haben unter anderem der algerisch-französische Soziologe Malek Chebel und der senegalesische Anthropologe Tidiane N’Diaye hingewiesen.

«Möglicherweise gab es innerhalb Afrikas mehr Sklaven, als exportiert wurden», schreibt Michael Zeuske in seinem 2019 publizierten «Handbuch Geschichte der Sklaverei». Die meisten afrikanischen Reiche hätten «Menschenjagd sowie aktiven Menschen- und Sklavenhandel» betrieben. Doch gebe es bis heute keine «nennenswerte afrikanische nationale Historiografie aus der jeweiligen Binnenperspektive». Postkoloniale und panafrikanische Theoretiker vermieden diesen Teil der Geschichte in ihren Darstellungen.

Das Piratenwesen im Maghreb und die damit verbundene Versklavung von Europäern – auch in den heutigen Balkanstaaten – liegt mehr als 200 Jahre zurück. Doch die jahrhundertelange Bedrohung durch Korsaren und das Osmanische Reich ist im kollektiven Unterbewusstsein der Menschen an den nördlichen Mittelmeerküsten gespeichert geblieben. Sie dürfte bis heute als Ressentiment nachwirken und, nicht anders als die europäische Kolonialherrschaft, die Realisierung eines gemeinsamen Mittelmeerraums erschweren.

Parallelen zur Gegenwart

Irritierende Parallelen zur Gegenwart ergeben sich zudem in Libyen. Zwar stammen die Opfer heute ausschliesslich aus Ländern des Südens. Doch sklavereiähnliche Formen von Gewalt und Freiheitsberaubung sind nach wie vor verbreitet und offenbar weitherum akzeptiert. Allein schon der Umstand, dass schwarze Gastarbeiter in Libyen von vielen noch heute als «abidat» – zu Deutsch: Sklaven – bezeichnet werden, legt davon ein beredtes Zeugnis ab.

Bezüglich der weltweiten Bewegung «Black Lives Matter» ermöglicht die Geschichte des maghrebinischen Piratenwesens zudem einen etwas anderen Blick. Sie zeigt zum einen auf, dass eine vereinfachende Einteilung in Täter und Opfer oft irreführend ist: Die späteren Opfer der europäischen Kolonialpolitik im Mittelmeerraum waren zuvor während Jahrhunderten selber Urheber von Raub und Versklavung.

Zum andern ist zur Kenntnis zu nehmen, dass Unterdrückung und Ausbeutung die ganze Geschichte der Menschheit geprägt haben und dass sie keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal des europäischen Imperialismus sind. Auf der Basis dieser Erkenntnis liesse sich im 21. Jahrhundert vielleicht erfolgreicher gegen alle Formen von Rassismus und Diskriminierung vorgehen; entschlossen, aber im Wissen um die Fehlbarkeit der Menschen und die Anfälligkeit der Gesellschaften.