Fast rührten sie ihn zu Tränen
Weltwoche, 05.11.2020, Von Hanspeter Born

Donald Trump und seine Anhänger schwebten in einer Glückskugel durch den Wahlkampf. Dass der Präsident die Herzen vieler Amerikaner erreicht, zeigt sein erstaunlich gutes Ergebnis.

Frieden und Wohlstand: Trump mit Gattin Melania.

Nie zuvor in diesem Jahrhundert war der Ausgang einer amerikanischen Präsidentschaftswahl derart ungewiss wie heute. Im Jahr 2000, als der Demokrat Al Gore das Ergebnis im Bundesstaat Florida anzweifelte, sprach der Oberste Gerichtshof ein Machtwort. Eine Nachzählung bestätigte später den Sieg von George W. Bush. Diesmal ist die Lage erheblich komplizierter.

Am Tag nach der Wahl war in mehreren Bundesstaaten – Arizona, Georgia, Pennsylvania, Nevada und North Carolina – der Stimmenunterschied zwischen Donald Trump und Joe Biden derart minim, dass weiterhin offenblieb, wer im nächsten Jahr im Weissen Haus residieren wird. Vermutlich wird keiner der beiden eine Niederlage eingestehen. Wahlbetrug ist nicht ausgeschlossen. Erneut wird der Supreme Court eingeschaltet werden.

Bei Redaktionsschluss am Donnerstagmorgen sieht es eher nach einem Sieg Bidens aus. Das Ergebnis ist aber auf jeden Fall viel knapper, als fast alle Prognosen vermuten liessen. In Europa herrscht trotzdem grosses Frohlocken. Der ungeliebte Trump scheint endlich weg vom Fenster. Man wird versuchen, ihn und seine Amtszeit aus dem Gedächtnis zu tilgen. Wie einen Albtraum. Das ist ungerecht.

Phalanx erfahrener Konkurrenten

Rufen wir uns in Erinnerung, was dieser aus dem anrüchigen New Yorker Einwandererquartier Queens stammende, ungehobelte Baulöwe und Showman vollbracht hat. Er schlug in der Ausmarchung der Republikaner vor vier Jahren eine ganze Phalanx erfahrener Konkurrenten aus dem Feld, die teils als Gouverneure oder Senatoren auf eine beachtliche Karriere zurückblickten. Dann siegte er in einem Wahlkampf, in dem seine Gegnerin, die ehemalige Aussenministerin Hillary Clinton, die heimliche, illegale Unterstützung von FBI, CIA und des Justizdepartments Barack Obamas genoss.

Kaum gewählt, strengten die Demokraten ein Absetzungsverfahren gegen ihn an, wobei sie sich wiederum ungesetzlicher Mittel bedienten. Die angebliche Kollusion mit Putins Russland stellte sich als eine von den Geheimdiensten inszenierte üble Erfindung heraus. Obschon das spätere Impeachment kläglich scheiterte, beanspruchte es wertvolle Zeit und Energie des Präsidenten. Zudem traf er bei all seinen reformerischen Bemühungen auf die sture Obstruktion von Speakerin Nancy Pelosi und des Minderheitsführers im Senat, Charles «Chuck» Schumer.

Energieunabhängig

Trotzdem lässt sich das Ergebnis seiner Amtszeit sehen. Er hat dank Steuersenkungen und der Entwirrung des angewachsenen Regulierungsdickichts die Wirtschaft angekurbelt und Wachstumsraten erreicht, die diejenigen der acht Jahre Obamas um ein Mehrfaches übertrafen. Gerade Männer und Frauen aus unteren Schichten, darunter Schwarze und Hispanics, profitieren (oder profitierten vor Corona) von rekordtiefer Arbeitslosigkeit und höheren Löhnen. Trump hat die USA, die seit Jahrzehnten auf Öleinfuhren aus dem Mittleren Osten angewiesen waren, nicht nur energieunabhängig, sondern auch zu einem Exporteur von Erdgas und Petroleum gemacht.

Anders als seine Vorgänger hat er nicht junge Männer in neue fremde Kriege geschickt. Präsident Dwight Eisenhower warb vor 64 Jahren mit dem Slogan «Peace and Prosperity». Auch Trump hat seinem Land Frieden und Wohlstand beschert. Selbst die ihm mehrheitlich feindlich gesinnte Gilde aussen- und sicherheitspolitischer Experten zieht den Hut vor dem Frieden, den sein Schwiegersohn Jared Kushner zwischen Israel und einigen arabischen Staaten eingefädelt hat. Der zur Zeit Obamas befürchtete Nuklearkrieg mit Nordkorea blieb dank Trumps unorthodoxem Umgang mit Kim Jong Un aus. Gegenüber einem aggressiven und in seinen Mitteln nicht wählerischen China, dem Hauptrivalen der USA, verfolgte Trump eine harte Handelspolitik, die bei nüchternen Geopolitikern wie Ex-Aussenminister Henry Kissinger Unterstützung gefunden hat.

Vor der Corona-Krise, die wie auch in anderen Ländern zu einem dramatischen Wirtschaftseinbruch führte, hätte Trumps Leistungsausweis ihm vermutlich einen klaren Wahlsieg verschafft. Zur Seuche kam auch noch die durch den unglücklichen Tod eines von der Polizei festgenommenen Afroamerikaners ausgelöste «Black Lives Matter»-Bewegung mit den sie begleitenden Unruhen und Plünderungen hinzu. In den USA löst in diesen Zeiten des Wohlstands eine Massenhysterie die nächste ab.

Empfehlung des Medizinjournals

In den gebildeten Kreisen der Ost- und der Westküste, in den Medien, an den Unis und unter den Kulturschaffenden entsetzt man sich über angeblich universelle sexuelle Bedrängung wehrloser Frauen durch mächtige Männer (hMeToo), über die Klimakatastrophe (Greta), über systemischen Rassismus und über die verbale Verwundung von Opfergruppen jeder Art (microaggression). In all diesen herbeigeredeten Krisen zeigte Trump zu wenig Empathie. Seine Sünden kumulierten sich. Jetzt erdreistet er sich sogar, die Gefahr von Covid-19 herunterzuspielen, zu behaupten, die USA hätten «die Kurve gekriegt», und liess bei seinem fragwürdigen Auftritt in der Wahlnacht, in der er sich als Sieger präsentierte («Frankly, we did win»), das Publikum maskenfrei im Saal sitzen.

Im abgelaufenen Wahlkampf zeigte das alte, von Trump und seiner «deplorablen» Gefolgschaft von Hinterwäldlern verdrängte Establishment Zähne. Die massgeblichen Zeitungen des Landes, New York Times und Washington Post voran, griffen ihn mit zunehmender Gehässigkeit an. Mit Ausnahme von Fox News nahmen die massgeblichen Fernsehsender, insbesondere CNN, offen Partei für die Demokraten. Die immer einflussreicheren Social Media – Twitter, Facebook, Youtube – stiessen ins gleiche Horn. Sie scheuten sich nicht, Meldungen über Hunter Bidens Computer, der für Vater Joe Biden kompromittierende Texte über geschäftliche Beziehungen der Familie zu einer von der chinesischen KP kontrollierten Firma enthielt, einfach totzuschweigen.

An den führenden Universitäten, Harvard als Fahnenträger, machten die grossen Namen im Lehrkörper aus ihrer Verachtung für Trump und seine Wähler kein Geheimnis. Nicht zu reden von prestigeträchtigen Nichtregierungsorganisationen und professionellen Vereinigungen. Wissenschaftliche Zeitschriften wie das New England Journal of Medicine, die früher nie politische Empfehlungen abgegeben hatten, forderten ihre Leserschaft zur Stimmabgabe für Biden auf. Selbstverständlich liessen sich die Hollywood- und Rockstars auch nicht lumpen und überboten sich in den Beschimpfungen des Ungeheuers Trump.

Von der Leber weg

Trump liess sich nicht unterkriegen. Wie schon vor vier Jahren stürmte er in den letzten Tagen vor der Wahl in den «Swing States» Michigan, Pennsylvania, Wisconsin, Ohio und Florida von Flughafen zu Flughafen und zog jeweils riesige Mengen von meist gutgelaunten Fans an, die ihm fast andächtig zuhörten. Trumps Rhetorik unterscheidet sich von derjenigen seiner Vorgänger im Weissen Haus. An Wahlauftritten benutzt er weder Teleprompter noch eine ausgearbeitete schriftliche Vorlage. Er spricht von der Leber weg, sagt, was ihm gerade in den Sinn kommt, und verzichtet darauf, seine Gedanken in wohlgeformte Sätze zu giessen. Er plaudert, wie man im Alltag plaudert.

Der ehemalige Immobilienhengst und Fernsehunterhalter übertreibt oft masslos. Alles ist «great» oder «incredible». Er wird nicht müde, sich selber zu rühmen und erinnert einen dabei unweigerlich an «The Greatest», den Boxer Muhammad Ali. Trump sagt nichts, was er nicht selber glaubt. Seine Gegner machen sich einen Spass daraus, sogenannte fact checkers auf ihn zu hetzen, die ihm lustvoll eine Vielzahl von «Lügen» vorhalten. Man kann es auch anders sehen: Nur wer sein Gegenüber mit einer Aussage bewusst täuscht, lügt.

Trump hielt seine letzte Wahlkampfrede nach Mitternacht auf dem Flughafen von Grand Rapids in Michigan. Tausende und Abertausende waren herbeigeströmt, um ihrem Helden zu lauschen. Sie mussten stundenlang in der Kälte und Nässe warten, bis Trumps Maschine endlich landete und der Präsident zu reden begann. Er tat dies ruhig, unbombastisch, fast ein wenig wehmütig. Der Ausdruck corny (abgeleitet von corn, Mais), was so viel heisst wie «kitschig, banal», passt auf manches, was er sagt. «We love you», skandierten die Zuschauer. «I love you, too», antwortete er und fügte hinzu, «you are making me cry.»