Die Ausgangslage: Vor kurzem berichteten die Medien aufgeregt darüber, dass laut einer neuen niederländischen Studie der Golfstrom versiegen könnte. Das würde in Europa zu einer verheerenden Abkühlung führen.
Warum das wichtig ist: Seit langem gilt das mögliche Ende der Atlantischen Umwälzbewegung (AMOC), gemeinhin als Golfstrom bezeichnet, als einer der gefährlichsten Kipppunkte, auf den sich die Erde wegen des Klimawandels zubewegen könnte. Tatsächlich hätte es wohl drastische klimatische Folgen, wenn dieser Fall eintreffen sollte
Die Schlagzeilen:
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«Forscher warnen vor ‘verheerendem Kipppunkt’ bei Strömungen im Atlantik» («Spiegel», 10. Februar 2024, siehe hier)
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«Atlantik-Strömung steht vor dem Kollaps – und könnte Europa zum Kühlschrank machen» («Focus», 13. Februar 2024, siehe hier)
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«In Europa könnte es deutlich abkühlen» («Tages-Anzeiger», 14. Februar 2024, siehe hier)
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«Sorgt Atlantik-Strömung bald für eisige Temperaturen?» («Blick», 27. Februar 2024, siehe hier)
Die AMOC (Atlantic Meridional Overturning Circulation):
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Es handelt sich um eine Strömung, die warmes Wasser vom Südwestatlantik (vor der Küste Amerikas, wo unter anderem der Golf von Mexiko ist) in den Nordatlantik vor die Küsten Europas transportiert.
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Im Norden sinkt das nun kühlere Wasser ab und strömt in den Tiefen des Atlantiks wieder zurück. So entsteht eine Umwälzbewegung.
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Die AMOC sorgt in Europa für vergleichsweise milde Temperaturen.
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Wenn im Nordatlantik sehr viel Süsswasser ins Meer strömt – etwa wegen des Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes infolge des Klimawandels – könnte das das Absinken des Wassers verlangsamen oder sogar stoppen. Denn Süsswasser ist leichter als Salzwasser. Im Extremfall käme die AMOC zum Erliegen.
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Ohne AMOC würde es in Europa wahrscheinlich deutlich kälter. Es würden Zustände wie während einer Eiszeit drohen.
Die neue niederländische Studie (siehe hier): Forscher um den Atmosphären-Wissenschaftler René van Westen haben im Februar 2024 im Fachblatt «Science Advances» neue Resultate in Sachen AMOC publiziert. Die wichtigsten Punkte:
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Die Wissenschaftler haben mit einem Supercomputer durchrechnen lassen, welche Auswirkungen die Erderwärmung gemäss moderner Klimamodelle auf die AMOC haben könnte.
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Sie sind zum Schluss gekommen, dass tatsächlich ein Abbruch der Strömung bevorstehen könnte. Wann es aber soweit ist, lässt sich nicht sagen.
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Die Folgen wären drastisch: In manchen Gegenden Europas könnten die Temperaturen innert hundert Jahren um bis zu 15 Grad fallen.
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Gemäss Messungen soll es seit 2004 bereits zu einer leichten Verlangsamung der AMOC gekommen sein.
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«Schlechte Nachrichten für das Klimasystem und für die Menschheit», schreiben die Forscher.
Die Diskussionen um den Golfstrom: Der mögliche Zusammenbruch der AMOC bewegt die Wissenschaft und die Öffentlichkeit seit über 30 Jahren. Immer wieder wurden entsprechende Warnungen von Forschern aber widerlegt. Einige Stationen:
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1991 schrieb der «Spiegel» über den Golfstrom: «Der Lebensnerv Europas könnte in naher Zukunft versiegen.» (siehe hier)
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2004 kam der Spielfilm «The Day After Tomorrow» von Roland Emmerich in die Kinos. Darin wird gezeigt, wie der Abbruch des Golfstroms zu einer sofortigen, katastrophalen Vereisung von Europa und Nordamerika führt (siehe hier). Seither gehört der «Kipppunkt Golfstrom» quasi zum Allgemeinwissen.
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Ebenfalls 2004 schrieb der «Spiegel», dass Forscher überzeugt seien, dass der Zusammenbruch von Meeresströmungen zu einer «neuen Eiszeit» in Europa führen könnte (siehe hier).
Die Warnungen von Stefan Rahmstorf: Es gibt eine Handvoll Forscher, die ständig vor dem Abbruch der AMOC warnen. Zu ihnen gehört der einflussreiche deutsche Klimawissenschaftler Stefan Rahmstorf (siehe hier und hier):
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2018 twitterte Rahmstorf: «Klimamodelle haben es lange vorhergesagt, jetzt passiert es: Das Golfstromsystem schwächt sich ab.» (siehe hier)
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2020 schrieb Rahmstorf in einem Gastbeitrag: «Nun könnte die lang befürchtete Golfstromsystem-Abschwächung eintreffen, mit Folgen für Europa.»
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Nach der Publikation der erwähnten niederländischen Studie schrieb Stefan Rahmstorf in seinem Blog: «Die Milliarden-Dollar-Frage lautet, wie weit dieser Kipppunkt noch entfernt ist.» Das Problem sei nicht, «ob wir sicher sind, dass dies passieren wird. Das Problem ist, dass wir es zu 99,9 Prozent ausschliessen müssen.»
Der Standpunkt des Weltklimarats: Trotz der Warnungen einiger lauter Wissenschaftler wie Stefan Rahmstorf äussert sich der IPCC bisher zurückhaltend zu einem möglichen Kippen der AMOC (siehe hier):
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Gemäss dem Sachstandsbericht des IPCC von 2022 wird die AMOC im Laufe des 21. Jahrhunderts zwar sehr wahrscheinlich abnehmen.
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Man sei aber relativ sicher, dass das nicht zu einem Kollaps vor dem Jahr 2100 führe.
Die Kritik an der niederländischen Studie:
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Gemäss einem Artikel im «Telegraph» haben britische Forscher bemängelt, das Resultat der Studie sei «forciert» worden, indem unrealistisch hohe Süsswasserzuflüsse angenommen worden seien (siehe hier)
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Laut Jonathan Bamber, Direktor des Bristol Glaciology Centres, sind die angenommenen Zuflüsse aus dem Grönländischen Eisschild «selbst für das extremste Erwärmungs-Szenario für das nächste Jahrhundert völlig unrealistisch».
Das Zitat: «Abwägende Risiko-Kommunikation verspricht eben keine Aufmerksamkeit.» (Jochem Marotzke, Co-Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, zu den Diskussionen um die AMOC, im Juli 2023 zur «Welt», siehe hier)
Meine Einschätzung: Gemach, gemach! Medien feiern bekanntlich Katastrophenmeldungen aus der Wissenschaft. Und Klimaforscher, die um öffentliche Aufmerksamkeit buhlen, nutzen das gezielt aus. Wetten, dass auch die neueste Untergangsstudie zum Golfstrom bald widerlegt oder zumindest relativiert wird?