Der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde prägte die Formulierung, dass der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Böckenfördes Skepsis gegenüber dem Islam und seine migrationspolitischen Empfehlungen hingegen sind weitgehend unbekannt, aber brisant.

NZZ, Martin Rhonheimer 20.8.2019, 05:30 Uhr

Wird sich der migrationsbedingt und aufgrund höherer Geburtenraten in westlichen Ländern zunehmend stärker vertretene Islam in Zukunft, analog den christlichen Kirchen, mit dem säkularen Verfassungsstaat und der Religionsfreiheit theologisch versöhnen können? Und was wäre, wenn darauf keine Aussicht bestünde?

Diese Fragen stellte der im Februar verstorbene Staats- und Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde in einem Vortrag bei der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, der 2007 in einer Kurzfassung in der NZZ und dann unter dem Titel «Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert» publiziert wurde. Es handelte sich dabei gleichsam um einen Nachtrag zu seinem klassischen Text «Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation» aus dem Jahre 1964. Böckenfördes Antwort auf die von ihm gestellten Fragen hat viele überrascht.

Gesetz, nicht Gesinnung

Der Islam als Herausforderung für den säkularen, freiheitlichen Verfassungsstaat: Das war 1964 noch kein Thema gewesen. Für Böckenförde wurde es zu einem solchen aufgrund einer Grundsatzerklärung des Zentralrats der Muslime in Deutschland aus dem Jahre 2001: «Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten.»

An sich kein Problem, so Böckenförde, denn was der liberale Staat von seinen Bürgern verlangt, ist Loyalität zur säkularen Rechtsordnung, und zwar nicht unbedingt aus innerer Gesinnung – der liberale Staat fordert keine Gesinnungen, auch keine innere Zustimmung zu «Werten». Er verlangt allein die Befolgung der geltenden Gesetze.

Was aber, wenn vorauszusehen wäre, dass eine Religion wie der Islam, «sofern sich politische Möglichkeiten, etwa über Mehrheitsbildung, dazu bieten», sich gegenüber der Religionsfreiheit «auf Dauer aktiv resistent verhält, sie also abzubauen suchte»? Dann «hätte der Staat dafür Sorge zu tragen, dass diese Religion beziehungsweise ihre Anhänger in einer Minderheitenposition verbleiben. (. . .) Das würde gegebenenfalls entsprechende politische Gestaltungen im Bereich von Freizügigkeit, Migration und Einbürgerung notwendig machen.»

Der Islam erscheint uns heute vor allem in der Gestalt des gewalttätig-terroristischen Islamismus als Herausforderung. Böckenfördes Perspektive greift jedoch weiter aus und ist grundsätzlicher. Es übersteige zwar seine Kompetenz, zu entscheiden, ob auch der Islam zu einer theologischen Versöhnung mit der Idee des säkularen Verfassungsstaates gelangen könne, schrieb er 2007.

Vier Jahre später jedoch äusserte er sich weniger zurückhaltend. In seiner Rezension der an der Universität Bern entstandenen und 2009 veröffentlichten Dissertation «Islam und Verfassungsstaat» von Lukas Wick, der massgebliche, nur in arabischer Sprache zugängliche Werke gegenwärtiger islamischer Theologen untersuchte, kommt Böckenförde – «ernüchtert», wie er bemerkt – zum Schluss, der Islam sei aus inneren, theologischen Gründen nicht fähig, den säkularen Staat «in seinem Freiheitsgehalt» zu akzeptieren. Für ihn bleibe «Bewahrung beziehungsweise Verwirklichung der göttlichen Ordnung (. . .) die grundsätzliche Aufgabe des Staates». Auch die «abweichende Position für das Leben in der Diaspora, die (. . .) vom Zentralrat der Muslime in Deutschland vertreten wird», erscheine aufgrund dieser theologischen Quellen «durchaus umstritten».

Die beiden Ordnungen

Böckenfördes liberale Grundposition wird durch diesen Befund nicht tangiert. Bei uns lebende Angehörige des Islam, betont er auch jetzt, müssten «ungeachtet ihrer bestehenden Vorbehalte gegenüber Säkularisierung und Religionsfreiheit ungeschmälert der Rechte teilhaftig werden, die unsere freiheitliche Ordnung gewährleistet». Zudem, so Böckenförde, «wirkt Freiheit am ehesten ansteckend und fördert die Integration».

Gleichzeitig jedoch – und das wird nun nicht mehr bloss hypothetisch gefordert – müsse der Staat, solange die genannten Vorbehalte fortbestünden, «durch geeignete Massnahmen im Bereich von Freizügigkeit und Migration» dafür Sorge tragen, dass die Muslime «in ihrer Minderheitenposition verbleiben, ihnen mithin der Weg verlegt ist, über die Ausnutzung demokratischer politischer Möglichkeiten seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen». Dies sei nicht mehr als «Selbstverteidigung, die der freiheitliche Verfassungsstaat sich schuldig ist».

Man könnte dem entgegenhalten: Woher nimmt ein demokratischer Staat die Legitimation zu solcher Selbstverteidigung? Gilt in der Demokratie nicht das Mehrheitsprinzip?

Nein, westliche Demokratien sind wesentlich Rechtsstaaten, die auf der verfassungsmässigen Garantie individueller Freiheitsrechte beruhen. Sie gründen auf der Überzeugung, dass allen Individuen die gleiche menschliche Natur und entsprechende Würde zukommt, unabhängig davon, ob sie Christen, Juden, Muslime, Atheisten oder was auch immer sind. Genau diese Überzeugung, die die in dieser Hinsicht wesentlich christlich geprägte Aufklärung deklariert hat und die Prämisse eines säkular-liberalen Staatsverständnisses ist, lehnen alle relevanten Spielarten des Islam ab. Die Ablehnung gründet letztlich darauf, dass es im Islam keine Unterscheidung zwischen Schöpfungs- und Heilsordnung gibt.

Für den Islam ist der Mensch von Natur aus Muslim, als solcher wurde jeder Mensch von Allah erschaffen. Islamische Naturrechtstheoretiker in westlichen Ländern bezeichnen deshalb Nichtmuslime als «pervertierte» Menschen, durch ihre Umwelt dem naturgegebenen Menschsein entfremdete Abtrünnige. Ebenso gelten islamische Menschenrechte, wie etwa jene der Erklärung von Kairo aus dem Jahre 1990, immer nur unter dem Vorbehalt der Bestimmungen der sich am Koran orientierenden Scharia – auch wenn deren faktische Implementierung in muslimischen Ländern sehr unterschiedlich ist.

An westlichen Universitäten lehrende und liberal gesinnte Reformmuslime versuchen zwar die Vorstellung einer muslimischen Menschennatur zu überwinden. Ihre Bemühungen stehen aber im Widerspruch zur islamischen Anthropologie, die bisher einer theologischen Anerkennung der Religionsfreiheit im Weg gestanden hat.

Der Weg des Christentums

Die christlichen Kirchen gelangten zur theologischen Versöhnung mit dem säkularen Verfassungsstaat, indem sie zu ihren theologischen Ursprüngen zurückkehrten: «Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser, und Gott, was Gott gehört.»

Die spezifisch christliche Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Gewalt prägte die Entwicklung der europäischen Rechtskultur und ermöglichte immer wieder, historischen Ballast abzuwerfen. Der Islam hingegen, will er zu seinen Anfängen zurückkehren, stösst auf eine in seinen heiligen Texten und dem massgeblichen Medina-Modell begründete politisch-religiöse Ordnung. Innerislamische Aufklärungsbestrebungen, die diesem und anderen theologischen Engpässen zu entrinnen suchten, sind immer wieder gescheitert.

Da die den säkularen Staat tragende Kultur sich «weithin aus bestimmten religiösen Wurzeln, aus den davon geprägten Traditionen und Verhaltensweisen geformt» hat, schrieb Böckenförde 2007, müsse man die Frage stellen, ob der säkulare Staat seine Säkularität auch dann noch bewahren könne, wenn «der kulturelle Sockel, auf dem er aufruht, sich zunehmend parzelliert, aushöhlt und seine verbindende Kraft einbüsst».

Die Antwort ist eindeutig: Er kann es nicht. So besagt es das berühmte Böckenförde-Diktum von 1964: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Was er aber kann, ohne mit seiner Freiheitlichkeit in Widerspruch zu geraten, ist: verhindern, dass eine religiös-kulturelle Kraft, die zu seinem «kulturellen Sockel» geradezu eine Antithese bildet, im Staat zu einer Mehrheitsposition gelangt.

Die Grundsatzfrage, die Böckenförde gestellt hat, ist keine der «nationalen» oder gar «ethnischen» Identität. Wer es so sieht, befindet sich auf abschüssigem Gelände. Vielmehr spricht aus ihr die Verantwortung für eine säkulare und freiheitliche politische Ordnung, die Sorge um deren Wahrung für die kommenden Generationen und um eine Migrationspolitik, die damit vereinbar ist.

Die liberale Lösung besteht nicht darin, die Grenzen für Muslime dichtzumachen. Wohl aber verlangt sie Besinnung auf die Grundlagen unserer freiheitlichen Kultur und eine entsprechend klar definierte Einwanderungspolitik. Schliesslich ist sie ein Integrationsangebot an unsere muslimischen Mitbürger und die Einladung, Denken und Gesinnung vom Reiz der Freiheit anstecken zu lassen.

Martin Rhonheimer ist Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien, wo er gegenwärtig lebt. Zum Thema veröffentlichte er 2012 im Herder-Verlag das Buch «Christentum und säkularer Staat», zu dem Ernst-Wolfgang Böckenförde das Vorwort schrieb.