Free Palestine» gibt es vermutlich nur mit einer israelischen Kooperation und der Absicherung der palästinensischen Bevölkerung durch Dialog und Kompromiss. Leichter aber ist es, immer für alles Israel die Schuld zu geben.
NZZ, Mirna Funk, 18.10.2023
Juden abschlachten, ihnen den Tod wünschen und gleichzeitig von ihnen Essen, Wasser und Elektrizität fordern, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Seit Jahren ruhen sich die Palästinenser auf ihrem Opferstatus aus und lassen sich vom verhassten zionistischen Staat Israel mit allem versorgen, was sie brauchen, anstatt eine dicke, fette Mauer um ihr 400 Quadratkilometer grosses Land zu ziehen. Sie hätten sich das Abu Dhabi der Levante an diesen Strandabschnitt hinsetzen können. Dafür wäre es notwendig gewesen, diplomatische Beziehungen zu Ägypten aufzunehmen, schliesslich teilen die beiden eine Grenze. Längst würde die Wirtschaft florieren. Vielleicht hätten sie sogar einen Flughafen. Von 1998 bis 2000 gab es nämlich schon einmal einen. Sie wären verschont von diesen ekelhaften Zionisten.
Der Anfang eines freien palästinensischen Staates wäre gemacht. Aber so denken die Palästinenser offensichtlich nicht. Im Gegenteil. Sie erinnern mich auf erschreckende Weise an einen bockigen 30-Jährigen ohne Freundin, der bei seiner Mutter im Souterrain wohnt und den ganzen Tag Videogames spielt. Immer wenn er die Mutter sieht, schreit er sie an. Manchmal beleidigt er sie. Aber meistens fragt er, wo sein Abendbrot bleibt und ob Mami endlich die Wäsche gewaschen hat. Alles und jeder ist schuld daran, dass er da unten im Souterrain wohnt, ausser er selbst. Natürlich.
Seit 2005 eigentlich frei
Es ist achtzehn Jahre her, dass Israel sich aus dem Gazastreifen zurückzog. Jeder Jude, der dort lebte, wurde umgesiedelt. Gaza wurde für die zartbesaiteten Palästinenser «judenfrei» gemacht. Das Erste, was die Bevölkerung tat, war, die Hamas zu wählen, dann die Anhänger der gegnerischen Partei Fatah von den Dächern zu werfen und alle von Israel dort zurückgelassenen Infrastrukturen, wie Gewächshäuser und Technologien, zu zerstören. Okay, fine for me.
Anschliessend steckte die Hamas Zeit und Energie in den Aufbau ihrer jihadistischen Armee, die das Ziel hat, alle Juden auf der Welt auszulöschen. Das ist das Allerwichtigste, was betont werden muss: Denn in der Hamas-Charta, Artikel 7, steht: «Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, solange Muslime nicht die Juden bekämpfen und sie töten. Dann aber werden sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken, und die Steine und Bäume werden rufen: ‹Oh, Muslim, ein Jude versteckt sich hinter mir, komm und töte ihn.›»
Gefangen im Feindbild
Wer die deutsche Geschichte nicht völlig verdrängt hat, bei dem müsste es jetzt ordentlich klingeln. Diese Erlösungsphantasien gab es nämlich schon einmal. Auch die Nazis glaubten, erst wenn die Welt von den Juden befreit sei, könne die deutsche Seele gesunden: «Die Arier sind die Gotteskinder, und sie beantworten die Frage, warum die göttliche Potenz des Ariers als Basis des deutschen Volkes noch nicht entfaltet wurde, sie sagen, es gibt eine übermächtige Gegenkraft, die uns daran hindert – das ist die Verkörperung des Bösen. Und diese Verkörperung des Bösen (. . .) – das sind die Juden. Das Böse ist also die Kraft, die hinter dem Judentum steht», so beschreibt es der Historiker Claus-Ekkehard Bärsch in seinem Buch «Die politische Religion des Nationalsozialismus».
Nachdem also alles Jüdische in Gaza zerstört und der religiöse Kampf ausgerufen worden war, liessen sich die Bewohner Gazas trotzdem vom «bösen Yehudi» Elektrizität, Wasser, Nahrung und alles, was man sonst so braucht, liefern. Sie forderten von der ganzen Welt Hilfsgelder, weil es ihnen da in Gaza so furchtbar geht, und fingen irgendwann auch noch an, Raketen Richtung Israel zu schicken, die sie aus Rohren bauten, die eigentlich für den Bau eines Abwassersystems gedacht waren. Mit dem Notwendigsten wurden sie von den bösen Zionisten versorgt. Sie hatten genug Zeit, sich den lieben langen Tag dieselbe Kamelle vom bösen Juden zu erzählen, der dringend umgelegt werden müsse, damit es ihnen gutgehen könne.
Dann kamen Social Media, und anstatt ein eigenes Elektrizitätswerk zu bauen, Arbeitsplätze zu schaffen und den Tourismus für ihren Beachstreifen am Mittelmeer zu fördern – fingen sie an, den cleversten Move aller Zeiten zu machen, und das muss man ihnen wirklich zugestehen. Die Palästinenser haben es geschafft, ihr Opfernarrativ bis in den hinterletzten Hörsaal jeder Universität zu verbreiten, jede Menschenrechtsorganisation auf ihre Seite zu ziehen und eine Kampagne zu starten, die die Welt im Glauben liess, es gehe ihnen um Freiheit. Man erfand das «grösste Freiluftgefängnis» der Welt, an dem natürlich ausschliesslich Israel schuld war und ist, obwohl Gaza an ein anderes arabisches Land grenzt.
Ägypten könnte in null Komma nix die Lage der Palästinenser verbessern. Aber kein Pieps zu Ägyptens Verantwortung. Weder von den Palästinensern selbst noch von den Spinnern, die sich ihnen weltweit angeschlossen haben, ohne das geringste Verständnis vom Nahen Osten zu haben. Denn würden alle öffentlich über Ägypten sprechen, dann müssten alle öffentlich über innerarabische Konflikte sprechen, und das Ergebnis wäre, dass Ägypten die Palästinenser genauso wenig will wie Libanon, Jordanien und Syrien.
Palästinenser sind das Pfand für die arabische Welt
Deswegen ist es wirklich so wie bei dem 30-Jährigen, der noch bei seiner Mutter wohnt. Der trollt im Internet, ist sauer auf die ganze Welt, vielleicht ballert er sogar noch Kinder in einer Highschool ab, aber ausziehen, also das ist wirklich zu viel verlangt. Weil natürlich die Emanzipation am schmerzhaftesten und am schwersten ist.
Die Palästinenser werden niemals «frei» sein, wenn sie sich nicht endlich emanzipieren. Dazu müssten sie anerkennen, dass sie für die Arabische Liga nichts weiter als ein Pfand sind und die Idee eines Palästinas «from the river to the sea» – also der Vernichtung Israels – niemals realisiert werden wird. Denn Israel wird bleiben. Wer immer nur Nein sagt, der wird am Ende gar nichts haben. Dazu gehörte auch, sich nun lautstark und weltweit von der Hamas abzugrenzen. Ständig hört man, die Hamas, das seien nicht die Palästinenser.
Aber, wo sind denn dann die anderen Palästinenser? Wo sind die Demos, auf denen von Palästinensern lauthals «Free Gaza from Hamas» gerufen wird? Wo sind die anonymen Schreiben von emanzipatorischen Gruppierungen in Gaza, die Amerika und die Europäische Union und die arabische Welt bitten, ihnen zu helfen? Wo sind die Palästinenser ohne Hamas? Ich sehe und höre sie nicht. Ich würde sie aber gerne sehen und hören. Sonst muss man irgendwann die Mär widerlegen und ganz klar sagen, es gibt sie wohl nicht.
In der Geschichte der Menschheit gab es immer wieder Aufstände und Revolutionen und Befreiungen von herrschenden Klassen. Darum soll es angeblich auch bei «Free Palestine» gehen. Bloss wird der Feind aufgrund der islamistischen Erlösungsphantasie beim Falschen ausgemacht. Seien wir ehrlich: Würde es auf diesem Stück Land, das Israel heisst, keine Juden mehr geben, die Palästinenser müssten vermutlich sofort gegen Ägypten – weil die Ägypter die Muslimbrüder hassen – in den Krieg ziehen und im Norden gegen den Hizbullah kämpfen, weil dessen Angehörige Schiiten sind. Aber die Hamas, das sind Sunniten, und Sunniten und Schiiten schlagen sich ja schon die ganze Zeit im Irak die Köpfe ein.
Was ich damit sagen will: «Free Palestine» gibt es mit grosser Wahrscheinlichkeit nur mit einer israelischen Kooperation und der Absicherung der palästinensischen Bevölkerung durch Dialog und Kompromiss. Und vielleicht werden die Palästinenser irgendwann zurückblicken und begreifen, was ihnen da jahrzehntelang entgangen ist, weil sie bockig vom Souterrain ihre Wäsche waschende und Abendbrot machende Mutter angeschrien haben, anstatt endlich auszuziehen.
Aber vielleicht ist es jetzt zu spät. Zu spät deshalb, weil am 7. Oktober 2023 das grösste Massaker an Juden seit dem Holocaust begangen wurde.
Komplett dichtmachen
Seit Tagen werde ich nach einer möglichen Lösung des Konflikts gefragt. Und die habe ich sogar. Aber nicht für die Palästinenser, weil ich es leid bin, mir mehr Gedanken um sie zu machen, als irgendeiner ihrer 200 Millionen Brüder und Schwestern es tut, die in der Region leben.
Die Lösung, die habe ich für die Israeli: Nehmen wir einmal an, wir schaffen es, die rund 200 Entführten zu befreien. Ich weiss, unwahrscheinlich, aber ich möchte nach einer Woche Trauer auch einmal träumen dürfen. Ich würde eine Mauer um Gaza bauen, so hoch wie der Eiffelturm. Komplett dichtmachen und dann sagen, die Hamas müsse jetzt bitte Gespräche mit Ägypten beginnen, wir hätten uns entschieden, keinerlei Verantwortung mehr zu übernehmen. Ende und aus. Keine Elektrizität, kein Wasser, kein Essen, keine Hilfsgüter mehr über einen Grenzzugang von Israel. Denn den gibt es nicht mehr.
Wird dies zu einer humanitären Katastrophe führen? Sehr wahrscheinlich. Werden dann die Ägypter daran schuld sein? Vermutlich wieder nicht, obwohl sie es schon seit achtzehn Jahren sind. Von dieser humanitären Katastrophe würden wir allerdings keine Bilder sehen. Keine Videos. Wir würden auch nichts hören. Es werden sehr viele Köpfe abgeschlagen werden, aber «dekolonialisieren» bedeutet auch, anzuerkennen, dass andere anders kommunizieren.
Als humanistische Europäerin wünsche ich mir natürlich, das würde nicht passieren. Aber Emanzipation bedeutet auch, damit aufzuhören, «die da unten» zu bevormunden, als wären sie kleine Kinder. Die Palästinenser sind Erwachsene, und wenn sie sich die Köpfe abschlagen wollen, wenn sie vergewaltigen, foltern und Leichen schänden wollen, dann müssen sie das machen. Nur eben nicht mit Juden.
Es wird Zeit, der Welt zu zeigen, wo das eigentliche Problem liegt.
Mirna Funk ist eine deutsche Schriftstellerin und Publizistin. Jüngst von ihr erschienen ist das emanzipatorische Pamphlet «Who Cares! Von der Freiheit, Frau zu sein» (DTV, München 2022).