Wie schon die #MeToo-Bewegung bringt auch «Black Lives Matter» die arabischen Gesellschaften eher in Verlegenheit als in Wallung. Araber sind eben nicht nur Opfer, sondern auch Täter.
In einigen arabischen Ländern hat sich die Sklaverei bis in die 1960er Jahre gehalten.
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Als der Sturm der Empörung, den die sadistische Ermordung George Floyds weltweit auslöste, in der arabischen Welt ankam, war er ein sanftes Lüftchen. Es gab ein paar Wortmeldungen in den sozialen Netzwerken, einige Strassendemonstrationen, dann war Schluss.
Das erstaunt, und es hat viele empört. Denn die Araber wissen aus schmerzvoller Erfahrung, was Knechtschaft und Rassismus ist. Sie litten Unsägliches unter den Kreuzrittern, deren Blutdurst in nichts hinter dem des heutigen Islamischen Staats zurückstand. Sie erduldeten die Härten des Osmanischen Reichs, sie mussten zusehen, wie sich die Siegermächte des Ersten Weltkriegs die Hinterlassenschaft der Türken einverleibten, und die meisten erleben die westliche Politik bis heute als Schmach und Ursache für ihre wirtschaftliche Dauerkrise. Hätte man da nicht etwas mehr Solidarität mit Schwarzen erwarten können?
Geteiltes Leid
Die Ausgangslage schien gut. Es gibt gemeinsame Feinde. Viele Araber sehen den Kapitalismus des Westens als Motor imperialistischer Unterdrückung, viele schwarze Aktivisten sagen, ohne die Sklaverei hätte der amerikanische Kapitalismus nie entstehen können. Je nach Bedarf sind Schwarze in den westlichen Medien verspottet, verniedlicht oder dämonisiert worden, Araber sehen sich von der Filmindustrie Hollywoods («True Lies») zu Karikaturen entstellt.
Die ersten Reisebeschränkungen Trumps von 2017 trafen grösstenteils Araber. Weisse Frauen, die mit Arabern leben, werden im Westen genauso geächtet wie Frauen, die eine Beziehung mit Schwarzen eingehen. Schwarze Schüler schneiden schlechter ab als Ostasiaten, Inder und Weisse, arabische ebenso. Araber wie Schwarze kommen im Westen seltener in Spitzenpositionen und verdienen weniger. «Dein Kampf ist mein Kampf», hiess es auf Plakaten, die Demonstranten in Tunesien in die Höhe hielten.
Verschworene Brüder, Seite an Seite? Ganz im Gegenteil. Das Verhältnis zwischen Arabern und subsaharischen Afrikanern gehört zu den schwierigsten überhaupt, mit furchtbarer, bleierner Geschichte. Höchstens Somali mit ihrem den Arabern abgeschauten rassistischen Überlegenheitswahn können in Ostafrika ähnlich verhasst sein wie die Araber. Fast tausend Jahre lang war jeder Araber südlich der Sahara ein Sklavenjäger, wurden aus der Region der Grossen Seen, vom Oberlauf des Kongos, aus dem Süden Äthiopiens und des Sudans Millionen Schwarze an die Küste des Indischen Ozeans und nordwärts ins Niltal verschleppt, um dann an Araber und Türken verkauft zu werden.
Im 18. und 19. Jahrhundert ging die Kontrolle über den Sklavenhandel an die Kolonialisten, beteiligt waren die Araber noch immer. In Ländern wie Saudiarabien und Mauretanien hat sich die Sklaverei bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts gehalten. In Mauretanien lebt fast ein Fünftel der Menschen noch heute faktisch versklavt. In Libyen werden subsaharische Migranten gefangen genommen, verkauft und zur Arbeit gezwungen.
Von Algerien bis Jemen wird für Schwarze der Ausdruck «Abid» («Sklave») verwendet. Afroaraber, dunkelhäutige Araber subsaharischer Herkunft, sehen sich aufs Übelste diskriminiert. Und in zahlreichen Golfstaaten wie auch in Libanon zwingt das Kafala-System die Gastarbeiter in eine faktische Rechtlosigkeit, die an Sklaverei grenzt.
Lachen über Drollige
Zur handfesten Repression kommt die Diskriminierung. Schwarze sind Menschen dritter Klasse. Über bemalte Araber, die Schwarze mimen und ihnen dabei meist drollige bis trottelige Charakterzüge geben, lachen Fernsehzuschauer von Marrakesch bis Maskat. Blackfacing ist in den arabischen Medien häufig, und vielen scheint das Herabsetzende dabei gar nicht bewusst zu sein. Diverse arabische Show-Grössen wollten sich mit der «Black Lives Matter»-Bewegung solidarisieren. Sie schwärzten sich das Gesicht, stellten die Bilder ins Netz und schmückten ihre Postings mit Koran-Suren, die Menschenliebe und Gleichberechtigung besingen. Sie wurden in sozialen Netzwerken gehörig gerüffelt, zeigten sich aber wenig einsichtig.
Sie hasse es, wenn «alles psychologisiert» werde, liess der marokkanische Soap-Opera-Star Mariam Hussein wissen. «Das ist nur in Amerika ein Thema. Wir Araber kennen keinen Rassismus.»
Es ist eine beachtliche Verdrängungsleistung – und eine typische. Das Bedürfnis, die Schattenseiten der eigenen Geschichte kennenzulernen, ist gering. Regierungen tun nichts dafür, im Gegenteil, sie basteln an nationalen Mythen. Warum diese Scheu vor dem Blick ins Horrorkabinett der eigenen Geschichte?
Zum einen, weil dabei Unangenehmes zutage gefördert werden könnte: die Tatsache, dass es nach dem «Goldenen Zeitalter», der Blüte des Islams von Mitte des 8. bis Mitte des 13. Jahrhunderts, mit der arabisch-islamischen Kultur nur noch bergab ging. Die Tatsache, dass die Pflege des antiken Wissenschaftserbes und der religiösen islamischen Gelehrsamkeit zum überwiegenden Anteil eine Leistung von Persern war – wo doch das Arabische, als Sprache des offiziell unübersetzbaren Korans, die Araber turmhoch über nichtarabische Muslime stellt. Und schliesslich das Faktum, dass alle grossen arabischen Politprojekte gescheitert sind: der Panarabismus ebenso wie der Panislamismus, der arabische Sozialismus, der Schritt in die Moderne, die Vernichtung Israels.
Das geliebte Opfer-Narrativ
Zum andern, weil es schmerzte, sich vom arabischen Opfer-Narrativ zu verabschieden. Egal, ob auf der Strasse, im Regierungspalast oder an der Uni: Fast jedes Gespräch mutiert über kurz oder lang zur Klage über die Verworfenheit der westlichen Welt, der Amerikaner, der Juden, der Finanzoligarchie und der Iraner. Man fühlt sich missverstanden, ausgebeutet, geschunden. Die Fehler der eigenen Führung hingegen werden übersehen.
Diktatorisch, korrupt und grausam sind die anderen. Selbst die reichen Saudi pochen auf ihren Opfer-Status: Die bösen Iraner umzingeln sie und wollen ihre Paläste, ihr Öl und ihr Leben. Sieht man das nicht deutlich in Jemen, wo die Huthi wüten?
Die Vorteile dieser Strategie liegen auf der Hand. Opfer sein hilft. Opfer rühren Westler, die ihre Schuld erkennen und spenden, um sie zu tilgen. Der Opfer-Status validiert die Argumentation, imprägniert sie gegen Kritik und regelt die Debatte. Schwarze, als Opfer struktureller Knechtung, könnten gar keine Rassisten sein, hiess es in den Siebzigern bei der Nation of Islam Louis Farrakhans.
Täter hingegen tun sich schwer. Täter sollen sich schämen, nicht mitreden. Wenn sich die «TAZ»-Geschäftsführerin Aline Lüllmann wünscht, die «White Privilege People» sollten schweigen, wenn strukturelle Diskriminierung erörtert wird, dann heisst das exakt so viel: Haltet die Klappe. Erhellend ist das nicht. Aber bequem.
Outeten sich die Araber ernsthaft auch als Täter, büssten sie diese Vorteile ein. Aber sie gewännen Glaubwürdigkeit. Was schonungslose Aufarbeitung bringt, hat Deutschland vorgemacht. Dafür, dass es nicht dazu kommen wird, sorgen Despoten wie Sisi, der ägyptische Präsident, und Mohammed bin Salman, der saudische Kronprinz. Sie geben sich zwar als Modernisierer und Wohltäter. Doch es ist genau diese gruselig antiquierte, herablassende «Güte» gegenüber Sklaven, Frauen, Völkern, der die Aktivisten von «Black Lives Matter» und #MeToo den Garaus machen wollen. Sie wollen keine Gnadenakte. Sie wollen Rechte.
Passiver Westen
Der Westen hat überwiegend freundlich auf #MeToo und «Black Lives Matter» reagiert. Zeitungen, die man einst «konservativ» nannte, berichten voller Sympathie. Gesetze und Geisteshaltungen werden überprüft, Institutionen reorganisiert. Selbst Donald Trump sah sich genötigt, ein paar mitfühlende Worte abzusondern und ein Polizeireförmchen zu dekretieren. Die Grundpostulate der Bewegungen – Rechtsgleichheit, Chancengleichheit, Schutz vor Übergriffen – stellt ausser ein paar Erzreaktionären niemand infrage.
All das ist schön und erhebend. Doch gleichzeitig hat es den Westen, wieder einmal, in die Glaubwürdigkeitsfalle gestossen. Gilt, was für uns gilt, auch für andere? Für Araber? Für die Menschen in den fernen Ländern, die man einst die «Dritte Welt» nannte? Nicht wirklich. Zwar hätte der Westen Ansprechpartner. Die arabischen «Black Lives Matter»-Aktivisten sind bekannt: Es sind dieselben Leute, die 2011 Mubarak, Ben Ali und Ghadhafi stürzten und letztes Jahr in Algier und Beirut die «Arabellion 2.0» lancierten. Sie sind jung, frech, urban, polyglott und weltoffen. Die Corona-Krise hat ihnen zugesetzt, die lokalen Eliten bekämpfen sie, und die reaktionären Trolle im Westen verhöhnen sie als Agenten im Sold der Amerikaner. Sie brauchten Hilfe, der Westen könnte sie leisten.
Doch der Westen tut nichts. Stattdessen hofiert er Typen vom Schlage Sisis und Mohammeds, verkauft ihnen Waffen, fördert Erdgas für sie und lobt sie als wackere Genossen im Kampf gegen die Iraner. Experten nennen das Realpolitik, schütteln bedenklich den Kopf und sagen, da könne man halt nichts machen. Die Welt braucht noch ein paar Hashtag-Revolutionen.
Im Cockpit der Selbstbestimmung
Ulrich Schmid, Jericho 02.07.2016