NZZ, 31.12.2021
Steht uns mit der weiteren Fortführung des fossilen Zeitalters eine Apokalypse bevor? Viele denken, dass wir uns mit der Klimaerwärmung an der Erde schuldig machen, aber die Naturgeschichte kennt keine Schuld. Gastkommentar von Konstantin Sakkas
«Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein, / In Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.» (Grillparzer: «Ein Bruderzwist in Habsburg»)
Wir leben, so viel scheint sicher, im Anthropozän. Darüber, wann dessen Beginn erdgeschichtlich anzusetzen sei, wird freilich gestritten. Manche verorten ihn vor 12 000 Jahren, also zeitgleich mit Beginn des Holozäns, andere vor 9000, als mit dem ersten Reisanbau der Ausstoss von Methan in die Höhe schnellte, einige zu Beginn der industriellen Revolution im 18. Jahrhundert, wieder andere erst in den sechziger Jahren, seit denen Atombombentests messbare Spuren im Erdsystem hinterlassen.
Einig sind sich aber alle: Der Mensch hat die Erde geformt, und das nicht zum Guten. Die Klimaerwärmung, bedingt durch menschliche Treibhausgasemissionen, bringt das Ökosystem und mit ihm die Menschheit an den Rand des Untergangs. Es sei fünf vor zwölf, und wir befänden uns in der «grössten Krise der Menschheitsgeschichte».
Fünf Massenaussterben
Wer so spricht, hat das publizistische Momentum auf seiner Seite. Doch hat er auch Geschichte und Naturgeschichte verstanden? Die heutige Krisenrhetorik verkennt, dass das Menschsein seit je krisenhaft ist. Zudem ist es eingeschrieben in die Naturgeschichte, die ihrerseits eine Krisengeschichte ist. Erwärmung und Abkühlung, Katastrophe und Erholung reichen in ihr einander die Hand.
Die populäre Rede vom «sechsten Massenaussterben» – der Begriff wurde 1995 vom Paläoanthropologen Richard Leakey geprägt – relativiert sich, betrachtet man sie auf ihrem semantischen Horizont: Die anderen fünf Massenaussterben des Phanerozoikums, also der letzten etwa 500 Millionen Jahre, hatten nämlich jeweils ein dermassen katastrophisches Ausmass, dass man den – unbestrittenen – menschlichen Eingriff in die Artenvielfalt kaum mit ihnen vergleichen möchte. So führte die erstmalige Entstehung von Landpflanzen vor rund 300 Millionen Jahren bedingt durch die nunmehr ungeheuer ausgeweitete Fotosynthese zu einem «schlagartigen» Rückgang der CO2-Konzentration; die Folge waren eine weltweite (die insgesamt fünfte) Vereisung und in ihrem Gefolge ein ökozidales Massenaussterben.
Andere «mass extinction events» wurden durch punktuelle Ereignisse ausgelöst, auf die das strapazierte Wort Apokalypse wahrhaft zutrifft: Bekanntestes Beispiel ist der Asteroideneinschlag auf der Halbinsel Yucatán, der vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier auslöschte und den Weg freigab für den Siegeszug der Säugetiere. Wissenschafter spekulieren darüber, ob das erste Massenaussterben seit der Entstehung vielzelligen Lebens vor etwa 440 Millionen Jahren durch einen Gammablitz ausgelöst wurde, der, ausgehend von einer Supernova, zufällig die Erde traf und binnen Sekunden alles Leben bis auf einen Meter unter dem Meeresspiegel vernichtete. Ein weiteres Massenaussterben wurde durch die geotektonische Drift vor etwa 200 Millionen Jahren ausgelöst, als der bisher letzte Superkontinent Pangäa zerfiel; der Zeichentrickfilm «In einem Land vor unserer Zeit», der die Dinosaurierwelle der späten achtziger Jahre inspirierte, spielt in diesem Umfeld.
Schneeball Erde
Man kann noch weiter zurückgehen. Vor etwa zweieinhalb Milliarden Jahren, als es noch lange kein vielzelliges Leben auf der Erde gab, existierte eine Art Cyanobakterien, die eine Form von Fotosynthese betrieben und dabei Sauerstoff ausschieden. Dieser Sauerstoff oxidierte erst alles flüssige Eisen in den Ozeanen (unser heutiges Eisenerz stammt aus jener Zeit), sodann das Methan in der Erdatmosphäre. Es kam zur Grossen Sauerstoffkatastrophe: Der von den Bakterien ausgeschiedene Sauerstoff zehrte alles Methan, bekanntlich ein sehr potentes Treibhausgas, auf, woraufhin die Temperaturen rapide abstürzten. Die Erdkugel wurde zum «Schneeball Erde»; erst nach einigen hundert Millionen Jahren taute sie wieder auf.
Generell war es in dieser Frühzeit auf der Erde allerdings wesentlich heisser als heute. Doch auch zu späteren Zeiten, als es bereits entwickeltes Leben gab, lagen Temperaturen und Treibhausgaskonzentration oftmals weit über ihrem heutigen Niveau. In der späten Kreidezeit, zur Hochzeit der Dinosaurier, war es zeitweise 8 Grad wärmer als heute, und auf Antarktika wuchs damals ein Tropenwald. Die CO2-Konzentration lag beim Vier- bis Fünffachen des heutigen Werts von etwa 420 ppm (parts per million). Sie musste, nachdem sich schon bei 1000 ppm eine Abkühlung eingestellt hatte, auf etwa 600 ppm fallen, damit es vor etwa 33 Millionen Jahren zum insgesamt sechsten Eiszeitalter kam, in dem wir heute noch leben. Ursächlich hierfür waren die Abtrennung Antarktikas von Australien und Amerika sowie, vor etwa 2,6 Millionen Jahren, die Schliessung der Strasse von Panama. Sie bewirkten, dass salzhaltiges Warmwasser nicht mehr überall gleichmässig hinkam: Dadurch vereiste zum einen die Antarktis; zum anderen erkaltete der Pazifik, was auch die Arktis gefrieren liess.
Der Prozess der Hominisation
Mitten in diesen Prozess der Abkühlung fällt der Prozess der Hominisation. Er erreicht seinen vorläufigen Endpunkt mit dem Auftreten des Homo sapiens vor etwa 300 000 Jahren. Damals wechseln Kalt- und Warmzeiten einander in vieltausendjährigem Rhythmus ab, auch unsere eigene Periode, das Holozän, ist nur eine Warmzeit, ein «Interglazial» zwischen einer gewesenen (der Würm- beziehungsweise Weichsel-) und einer wahrscheinlichen künftigen «Kaltzeit». (Wohlgemerkt: In einer «Eiszeit» leben wir ohnehin, und zwar je nach Bewertung seit 2,6 oder auch schon seit 33 Millionen Jahren.) Aber auch innerhalb der Weichsel-/Würmkaltzeit (vulgo der «letzten Eiszeit») gab es über zwanzig schubartige Wärmephasen, sogenannte Dansgaard-Oeschger-Ereignisse, über deren Genese die Forschung sich bis heute im Unklaren ist. Und noch in der Frühphase des Holozäns, vor etwa 9000 Jahren, war es schätzungsweise 2 bis 3 Grad wärmer auf der Erde als heute, ganz ohne anthropogene Emissionen.
All dies soll uns nicht freisprechen. Es soll zum einen zeigen, wie klein der Mensch sich innerhalb der Naturreiche und von deren Geschichte ausnimmt; zum anderen, dass er als Naturwesen nicht mehr und nicht weniger einflussreich – oder «schuldig» – ist als die kleinste Mikrobe oder ein Gammablitz. Trug die Megafauna des Pleistozäns zur letzten Eiszeit bei, indem sie grossflächig Wälder abfrass, so dass das einfallende Sonnenlicht nicht mehr absorbiert werden konnte; so verursachte der Homo sapiens, indem er Mammuts und Wollnashörner bejagte und sich die Grünflächen dadurch erholen konnten, die Erwärmung, die zum Holozän – und damit zur menschlichen Zivilisation – führte. In diesem Kontext ist es vielleicht wissenswert, dass Grünflächen aufgrund der Fotosynthese einerseits die Funktion einer Kohlenstoffsenke haben, andererseits aber durch die absorptive Wirkung ihrer Oberfläche selber zum Treibhauseffekt beitragen.
Ein schwerer Vulkanausbruch, ein Einschlag eines grossen Asteroiden hätten, wie einst in der Kreidezeit, einen vulkanischen oder Impaktwinter zur Folge, der die Basis der industrialisierten Zivilisation zerstören und einen beträchtlichen Teil der Weltbevölkerung ausrotten würde. In einer solchen Situation wäre die Menschheit für jedes wärmespeichernde CO2-Molekül dankbar. Mit einem ähnlichen Szenario spielt der Regisseur Roland Emmerich in seinem Katastrophenfilm «2012» (2009), in dem er die Caldera des Yellowstone als Supervulkan ausbrechen lässt.
Wir Menschen tun gut daran, Tiere, Pflanzen, Flächen und Atmosphäre so weit wie möglich zu entnutzen; aber wir sollten nicht der säkularen protestantischen Grössenphantasie erliegen, wir beherrschten durch von uns ausgelöste physikalische Prozesse das System Erde und könnten beziehungsweise müssten nun grosszügigerweise damit aufhören. Dass Lebewesen in die Natur eingreifen, ist normal; dass das Naturierte aber «die Natur» selbst auslöschen könne, unwahrscheinlich. Die Natur, die von der Klimabewegung so süsslich und so pseudoschuldbewusst beschworene Mutter Erde selbst wird für eine Korrektur sorgen; unser Fortbestand als tierische Gattung liegt in ihrer Hand mehr als in unserer. «Schuld» und «Apokalypse» aber sind keine naturgeschichtlichen Kategorien.
Konstantin Sakkas lebt als Philosoph und Historiker in Berlin und arbeitet als Sachbuchkritiker und Essayist unter anderem für den SWR 2 und für Deutschlandfunk Kultur.