«Es ist zu hoffen, dass es nicht so schlimm kommt wie nach dem Ersten Weltkrieg»
Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn erwartet, dass das Coronavirus 2021 besiegt wird und die Wirtschaft anschliessend floriert. Die Folge könnte aber eine steigende Inflation sein.
NZZ, Michael Ferber, 03.12.2020
«Wir befinden uns in einem ausgehebelten System», sagt der Ökonom Hans-Werner Sinn.
Wir stecken mitten in der zweiten Coronavirus-Welle. Wie hart trifft diese die Wirtschaft?
Die Folgen halten sich stärker in Grenzen als bei der ersten Welle im Frühjahr, weil die Einschränkungen geringer sind. Zumindest in Deutschland ist das so, denn hier sind nur 4 Prozent des Bruttoinlandprodukts betroffen, und das auch nur für einen Teil des Jahres. Die anfängliche Hoffnung, dass es keine zweite Welle geben wird, war zwar vergeblich. Die gute Nachricht ist aber, dass das Virus nächstes Jahr besiegt werden wird, da wir jetzt die Impfstoffe bekommen. Das ändert alles, wir sind in einem neuen Regime. Im Vereinigten Königreich, in den USA und in Deutschland sollen die Impfungen schon im Dezember beginnen. Das ist in den ganzen Statistiken noch nicht drin. Die nächsten Konjunkturumfragen nach dem Beginn der Impfungen könnten schon wieder ins Positive drehen. Es wird auf jeden Fall im Herbst eine starke wirtschaftliche Erholung wegen der Impfstoffe geben.
Trotzdem hinterlässt das Coronavirus erhebliche Spuren in der Wirtschaft …
Das Problem ist, dass die Gegenmassnahmen gegen das Virus aus dem Ruder gelaufen sind. Mit der Begründung Corona konnte man all die Dinge realisieren, für die bisher kein Geld da war. Es ist eine Whatever-it-takes-Mentalität entstanden, bei der überhaupt keine Schranken mehr zu bestehen schienen. Das, was jetzt schon ausgegeben wurde, hat beispielsweise die Staatsquote in Deutschland auf deutlich über 50 Prozent gehoben. Ausserdem wird die Schuldenquote des Staates wahrscheinlich um 17 Prozentpunkte steigen. Ein grosses Problem ist auch, dass diese Schulden nicht bei den Bürgern gemacht wurden, sondern bei der Zentralbank.
Die Zentralbanken sind in der Corona-Krise ja einmal mehr als Retter in der Not aufgetreten. Wie lange kann das noch so funktionieren, und was sind die Folgen?
Seit dem Kollaps der US-Bank Lehman Brothers im Jahr 2008 läuft das so. Danach hat es immer wieder neue Runden von Geldschöpfungskrediten und Asset-Käufen durch die Zentralbanken gegeben. Dadurch wurde die Geldmenge dramatisch aufgebläht. Die Europäische Zentralbank hat die bereits sehr hohe Geldmenge M 0 vom Jahresbeginn bis zum November um 1,4 Billionen Euro auf 4,6 Billionen Euro aufgebläht. Dieser Zuwachs ist wesentlich mehr als die knapp 900 Milliarden Euro, die kurz vor der Lehman-Krise des Jahres 2008 insgesamt als Schmiermittel für die Euro-Zone ausgereicht hatten. Die Banken haben riesige Bestände an Zentralbankgeld auf ihren Konten bei der Europäischen Zentralbank. Sie verleihen diese Bestände aber nicht, was man daran sieht, dass die anderen Geldaggregate M 1 bis M 3 nicht ebenfalls anziehen. Das Geld ist nicht nachfragewirksam, weil es gehortet wird. Die Geldpolitik ist deshalb unwirksam. Die Gefahren dieser Politik könnten sich aber zeigen, wenn die Corona-Krise überwunden ist und die Wirtschaft anzieht. Wenn dann irgendwann eine Inflation beginnt, kann man sie nicht mehr stoppen. Die Zentralbank müsste dann bremsen und kann das nicht mehr. Das Potenzial für eine sehr hohe Inflation ist vorhanden, doch heisst das nicht, dass es auch ausgeschöpft wird. Es lässt sich nun einmal nicht prognostizieren, wann die Horte aufgelöst werden.
Besteht denn nicht die Chance, dass die Zentralbank das Geld wieder abschöpft und wir zurück zur früheren Normalität kommen?
Diese Chance ist gering. Bis zum Sommer nächsten Jahres wird die EZB insgesamt über 3 Billionen Euro an Papieren öffentlicher Institutionen mit frisch gedrucktem Geld gekauft haben. Diese Papiere kann sie nicht wieder in den Markt zurückgeben, denn dann würden ihre Kurse purzeln und die Zinsen, die die Staaten zu bezahlen haben, in den Himmel gehen. All die Blasen, die in den Bilanzen der Banken aufgebaut wurden, die ähnliche Papiere in den Büchern halten, würden dann platzen. Das Resultat wäre ein riesiges Bankensterben. Umgekehrt würde das dann entstandene höhere Zinsniveau den überschuldeten Staaten der Euro-Zone bei ihrer Finanzierung Schwierigkeiten bringen. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Rückwärtsgang, wir kommen von dieser Schiene kaum mehr herunter. Wir laufen in ein Dauerregime mit extrem niedrigen Zinsen hinein, das sich eines Tages inflationär zu entladen droht. Wenn das passiert, ist hier der Teufel los.
Was wären die Konsequenzen?
Es ist zu hoffen, dass es nicht so schlimm kommt wie nach dem Ersten Weltkrieg. Der deutsche Staat hatte sich im Krieg und in den schwierigen Jahren danach mit der Druckerpresse finanziert, denn die Reichsbank erwarb immer mehr von den zunächst am Markt verkauften Staatspapieren. Das heizte die Inflation immer mehr an. Die Preise stiegen erst allmählich, dann galoppierten sie, und schliesslich entstand eine Hyperinflation, die den Geldwert fast vollständig vernichtete. Nicht nur der Geldadel, auch der kleine Mittelstand verarmte dabei, weil er zu arm war, um Aktien und Häuser zu besitzen. Diese Menschen hatten Sparguthaben und Lebensversicherungen, die dann nichts mehr wert waren. Zehn Jahre später haben sie Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt. Ich sage nicht, dass so etwas wieder passieren wird. Aber wir müssen jetzt eine Politik machen, die das von vornherein verhindert. Es braucht engere Budgetbeschränkungen, man darf nicht mehr länger aus der Druckerpresse leben.
Sehen Sie die in den vergangenen Jahren stark gestiegenen Vermögenspreise, etwa für Aktien und Immobilien, als Vorboten für diese Entwicklung?
In gewisser Weise ist das schon eine Inflation, wenn auch in einem weiteren Sinne. Güter des täglichen Bedarfs kann man sich für sein Geld zwar noch kaufen, aber Häuser nicht mehr. Eine junge Familie kann sich in Zürich oder in München kein Haus mehr leisten.
Wird sich die Inflation der Vermögenspreise in den kommenden Jahren weiter fortsetzen?
Das hängt davon ab, wie die Geldpolitik fortgesetzt wird. Bei Nullzinsen können Aktienkurse oder Immobilienpreise theoretisch immer weiter anwachsen, ohne eine klar umrissene Grenze; bei Negativzinsen erst recht. Wir sind in einem ausgehebelten System. Die normalen Gesetzmässigkeiten der Knappheit über Preissignale spielen am Kapitalmarkt keine Rolle mehr. Wir halten alle möglichen Zombie-Unternehmen aufrecht. Wir erzeugen in Anlageportfolios schöne jährliche Gewinne, doch die sind blosse Luftnummern, weil sie keine Dividenden-Erwartungen abbilden, sondern nur die Flucht aus den Kreditpapieren. Wenn die Zinsen wieder auf Normalniveau stiegen, würden die schönen Portfolios wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Mit dieser künstlichen Ökonomie und den laufend neu verbuchten Scheingewinnen erhält man Strukturen aufrecht, die eigentlich nicht überlebensfähig sind. In Japan wurde die ganze Bankenwelt durch diese Politik gerettet, aber die Banken schleppen sich bis heute als Scheintote durch die Geschichte, während die japanische Realwirtschaft seit Jahrzehnten stagniert.
Sollten Sparer und Anleger in diesem Umfeld versuchen, von der Vermögenspreisinflation zu profitieren?
Wer rechtzeitig in Sachwerte ging, ist gesichert. Die Gelackmeierten sind die Geldhalter. Davon gibt es in Deutschland sehr viele. Die Geldmenge im Euro-Raum ist insgesamt viel zu gross, sie wird sich mit den bereits beschlossenen Kaufprogrammen bis zum Sommer 2021 relativ zur Wirtschaftsleistung verfünffachen. Ausserdem haben die Deutschen besonders viel Liquidität, weil die Target-Salden so gross sind. Das sind ja alles netto nach Deutschland überwiesene Liquiditätsbestände, die gegen Waren, Staatspapiere, private Wertpapiere, Immobilien, Aktien oder ganze Unternehmen eingetauscht wurden. Die Deutschen haben ihre Vermögenstitel zum Teil an Investoren aus anderen Ländern gegeben und dafür Zentralbankgeld bekommen, das jetzt bei ihnen im Tresor oder auf den Konten liegt, die ihre Banken bei der Bundesbank unterhalten. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern haben sie weit überproportional Euro-Liquidität im Portfolio.
Zum Thema Geopolitik: Was bedeutet die Wahl von Joe Biden zum US-Präsidenten für die Weltordnung und Europa?
Eigentlich nur Gutes, weil Donald Trump ja gegen Europa hart vorgehen wollte. Ich nehme an, Biden wird die Europäer jetzt etwas netter behandeln und sich stärker mit China beschäftigen. Anders als Trump wird er keinen Zwei-Fronten-Handelskrieg führen wollen. Aber wir dürfen keine Illusionen haben: Bei der Ostsee-Gasleitung Nordstream 2 gehört Biden, der ein grosses Interesse an der Ukraine hat, zu den grössten Kritikern. Für diejenigen, die da dranhängen, ist das keine gute Nachricht.
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben sich im Sommer auf einen Coronavirus-Fonds in Höhe von 750 Milliarden Euro geeinigt. Die EU bewegt sich immer stärker in Richtung einer Transferunion. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?
Das ist nicht nachhaltig. In der Schweiz gibt es keine Haftungsunion, in Europa aber schon. Die Staaten haften gemeinsam für die Rückzahlung der Gelder, die jetzt verteilt werden – nicht formal, aber faktisch schon. Letztlich sind es Eurobonds, die hier ausgegeben wurden. Und zudem noch Eurobonds, die die Europäische Zentralbank dann kauft. Frankreich und die südeuropäischen Länder wollten das ja schon immer. Jetzt haben sie sich in der Corona-Krise durchgesetzt nach dem Motto «Don’t waste a crisis».
Und als Folge werden die Schulden in Europa weiter steigen?
Ja, selbst der deutsche Finanzminister sagt, dass das erst der Anfang war. Man macht die Rechnung zulasten der künftigen Generationen und gefährdet den Geldwert.
Was bedeutet das für die Zukunft des Euro?
Die nicht mehr wettbewerbsfähigen Länder Südeuropas werden durch die Transfers politisch stabilisiert, doch wirtschaftlich werden sie geschwächt. Sie gerieten ja durch den billigen Kredit, den der Euro brachte, im ersten Jahrzehnt nach der Gründung der Währungsunion in eine inflationäre Wirtschaftsblase, die ihre Wettbewerbsfähigkeit zerstörte. Die Transfers halten nun die Löhne und Preise dauerhaft auf einem zu hohen Niveau und zementieren diesen Zustand. Eigentlich müssten diese Länder billiger werden, um wieder attraktive Standorte für Industrieinvestitionen zu werden, aber das wird durch die Transfers verhindert. Das Geld, das die südlichen Länder nicht mehr verdienen können, weil sie zu teuer sind, das schenkt man ihnen. Auch Gelder, die zunächst nur verliehen werden, so die der Rettungsschirme, werden letztlich zu Geschenken mutieren. Am Beispiel Griechenland hat man ja gesehen, wie das läuft. Der Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro ist von vornherein als Geschenk konzipiert.
Was würde langfristig schwaches Wirtschaftswachstum in Europa für die Schweiz bedeuten?
Die Schweizer Wirtschaft macht einerseits die meisten Geschäfte mit der Euro-Zone und ist folglich davon betroffen. Andererseits hat die Schweiz viele Kontakte zum Rest der Welt, sie ist weltoffen. Von Vorteil ist auch, dass sich die Schweiz nicht an den Lasten dieser Verschuldungsorgie beteiligt. Der Franken wird nicht deshalb inflationär, weil der Euro inflationär wird.
Könnte die starke chinesische Wirtschaft ein Rettungsanker für Europa sein?
Konjunkturell natürlich schon, aber strukturell und wettbewerbsmässig nicht. Es wird Europa immer schwerer fallen, im Wettbewerb mit China zu bestehen. Die Chinesen holen den Wohlstandsrückstand auf und werden uns bis zur Mitte des Jahrhunderts vielleicht sogar erreichen oder überholen. Angesichts der Grösse der chinesischen Bevölkerung und der Dynamik der Wirtschaft wird es nicht mehr lange dauern, bis die chinesische Wirtschaftskraft die amerikanische überholt. An einer Kooperation mit China führt gar kein Weg vorbei.
Wie schätzen Sie die wirtschaftliche Lage in Deutschland ein?
Erst einmal kommt der Aufschwung durch die Impfstoffe. Spätestens im Jahr 2022 wird die Weltwirtschaft wieder Tritt gefasst haben, und davon wird auch Deutschland profitieren, das ja stets wie ein Korken auf den Wogen der Weltkonjunktur schwimmt. Doch wird der grüne Dirigismus, der in Brüssel und Berlin um sich greift, der Wirtschaft nachhaltig schaden. So will man ja mit aller Macht gegen die Wünsche der Hersteller und Verbraucher die Elektroautos erzwingen. Dabei sind diese beim deutschen Energiemix derzeit überhaupt nicht sauberer als Autos mit Verbrennungsmotor. Die von der EU auf dem Verordnungswege erzwungene Bevorzugung der Elektroautos ruiniert die deutsche Automobilindustrie, deren Domäne bei den Verbrennungsmotoren lag. Französische Autohersteller stehen mit einer Menge von Elektroautos in den Startlöchern, und Frankreich hat den billigen Atomstrom. Wenn der Markt die Elektro-Autos dennoch nicht will, dann muss halt die Politik die Änderung herbeiführen. So ist das heute in Europa.
Hans-Werner Sinn
Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn war bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 2016 Präsident des Münchener Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Direktor des Center for Economic Studies (CES) an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Geschäftsführer des Forschernetzwerks CESinfo GmbH. Sinn, 72, beteiligt sich weiterhin intensiv am öffentlichen Diskurs. Seit 2017 lehrt er als ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern und hat zum Jahreswechsel 2019/2020 die Leitung des ordnungspolitischen Ausschusses des Wirtschaftsrates Bayern übernommen. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Sinn durch seine wirtschaftspolitischen Sachbücher bekannt, darunter «Ist Deutschland noch zu retten?», «Die Basarökonomie», «Kasino-Kapitalismus», «Die Target-Falle» oder «Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel». Zur Coronavirus-Krise hat Sinn im Juli dieses Jahres das Buch «Der Corona-Schock» veröffentlicht. Sinn war laut einer Umfrage der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» mehrere Jahre, letztmals 2019, der Ökonom, dem deutsche Politiker das grösste Vertrauen entgegenbrachten. Das vorliegende Interview entstand im Rahmen eines Auftritts von Sinn bei der Digitalkonferenz «InZukunft» des Fondsanbieters Invesco.