NZZ, Helmut Stalder,16.9.2020
Die Schweiz hat mit der Vollendung der Neat die Voraussetzungen für die Verkehrsverlagerung geschaffen. Nun muss sie den Preis dafür bei den europäischen Nachbarn einfordern – auch wenn es Freundschaften kostet.
Die 1994 angenommene Alpen-Initiative hatte verlangt, dass der Güterverkehr zehn Jahre nach der Annahme auf der Schiene erfolge.
Es ist vollbracht. Die Schweiz hat mit dem Ceneri-Basistunnel das Generationenwerk der neuen Alpentransversale (Neat) vollendet. Doch bei aller Freude und allem berechtigten Stolz auf die Leistung am Lötschberg, am Gotthard und jetzt am Ceneri – es ist nicht gelungen, die eigentliche Aufgabe zu erfüllen. Die Aufgabe war, den alpenquerenden Transitgüterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Dieses Ziel hat das Volk seit der Neat-Abstimmung von 1992 immer wieder an der Urne bekräftigt, und deshalb hat es auch die 24 Milliarden Franken dafür lockergemacht.
Doch mit derselben Regelmässigkeit, mit der das Volk die Verlagerungspolitik unterstützte, nahmen Bundesrat und Parlament das Verlagerungsziel zurück und schoben es hinaus. Die 1994 angenommene Alpen-Initiative hatte verlangt, dass der Güterverkehr zehn Jahre nach der Annahme auf der Schiene erfolge, so steht es seit 26 Jahren in der Verfassung. Dann hiess es, zwei Jahre nach der Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels, also 2009, dürften noch 650 000 Lastwagen die Alpen queren. Als die Realität mit 1,4 Millionen Lastwagen im Alpentransit auch dieses Ziel plattgemacht hatte, schob man den Zeitpunkt erneut hinaus auf zwei Jahre nach Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels, also auf 2018. Auch dies scheiterte, so dass auf die Eröffnung des Ceneri vertröstet wurde. Nun würdigte Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga die Vollendung der Neat als «epische Leistung» und fand, die Schweiz könne mit dem Resultat zufrieden sein. Doch das kann sie nicht. Der Verfassungsauftrag zur Verlagerung des Schwerverkehrs, das grosse Versprechen der Neat, ist nicht eingelöst. Noch immer fahren fast 900 000 Lastwagen jährlich über die Alpen. Und dass mit der nunmehr vollen Verfügbarkeit der Neat das gesetzliche Ziel von 650 000 Fahrten je erreicht werden kann, verweisen die Analysen des Bundes ins Reich der Träume.
Dabei liegt der Hauptgrund für das Ausbleiben des vollen Effekts nicht mehr in der Schweiz, sondern vor allem in Deutschland, das den Ausbau der Zufahrten am Rhein vertragswidrig verschleppt hat. Und in der EU, die es trotz jahrelangem Seilziehen nicht fertiggebracht hat, ihre Wegekostenrichtlinie zu modernisieren und ihren Schwerverkehr mit einer verursachergerechten Maut zu belasten. Sollen die Anstrengungen der Schweiz umsonst gewesen sein? Muss man gestehen, dass die Verlagerung ein Phantasma war? Muss man zugeben, dass man sich vom deutschen Nachbarn hat für dumm verkaufen lassen? Die Schweiz tut angesichts solcher Aussichten das Einzige, was ihr bleibt – nämlich noch mehr Geld einsetzen. Für die Förderung des unbegleiteten Verkehrs hat das Parlament den Zahlungsrahmen auf 1,765 Milliarden Franken erweitert, so dass bis 2030 pro Jahr 55 Millionen Franken für die Verbilligung bereitstehen. Zudem investiert sie in Italien weitere 148 Millionen Franken in den Ausbau der Strecke vom Simplon zu den Verladeterminals in der Poebene. Und bereits hat sie signalisiert, dass sie auch den Ausbau der Zulaufstrecken in Frankreich mitfinanzieren wird.
Das gönnerhafte Lob der europäischen Nachbarn für den Bau der Neat ist eine Anmassung, wenn diese ihren Teil nicht beisteuern.
Die kleine Schweiz erhält für ihre grossen Tunnels und die nachgeschossenen Millionen nun viel Schulterklopfen von ihren europäischen Nachbarn. Doch das gönnerhafte Lob ist eine Anmassung, wenn diese ihren Teil nicht beisteuern. Die Schweiz hat die Neat für Europa gebaut, und sie gibt viel aus, um zum Schutz des Lebensraums die Verlagerung hinzubekommen. Es wird Zeit, dass sie mit dem Gotthard als Faustpfand selbstbewusster auftritt und Europa die Rechnung präsentiert – auch wenn das ein paar Freundschaften kostet.