Der neue Schweizer Adel

Weltwoch, 11.08.2021, Christoph Mörgeli

In den Palästen des Landes machen sich Beamte breit. Die üppigen Kosten tragen die braven Bürger.

Der Aufstand kam von unten. Im bündnerischen Zizers sollte die Gemeindeverwaltung vom «nicht mehr zeitgemässen» Rathaus ins offenbar zeitgemässere Barockschloss von 1687 umziehen. Das prestigeträchtige Fünf-Millionen-Projekt des Gemeinderats wurde im Frühling vom Stimmvolk gestoppt. Dem widerspenstigen Souverän wollte nicht einleuchten, warum die Beamten in jenem Gebäude arbeiten sollten, wo die letzte österreichisch-ungarische Kaiserin Zita ihren Lebensabend verbracht hatte. Der Gemeindepräsident äusserte sich sehr enttäuscht darüber, dass ihm die Eroberung des alten Adelssitzes der Familie von Salis-Zizers per Mehrheitsbeschluss verwehrt wurde. Bloss weil die gegnerischen Rappenspalter neben dem aufwendigen Umbau die hohen Neben- und Unterhaltskosten (inklusive Schlosspark), die Baurechtszinsen und die Miete der Garagenplätze fürchteten.

Gemeindeverwaltungen im Schloss

Ansonsten ist es dem Staat auf allen Ebenen recht problemlos gelungen, Schlösser, Adels- und Patrizierpaläste sowie hochherrschaftliche Gebäude in seinen Besitz zu bringen. Je weniger sich die früheren Eigentümer ihre prestigeträchtigen Residenzen leisten konnten, desto gieriger griff die öffentliche Hand zu. In historisch wertvollen, denkmalgeschützten Immobilien macht sich nun eine immer üppiger ausgestattete Bürokratie auf Kosten der Steuerzahler breit. Die Liste der teuer restaurierten Baudenkmäler der Verwaltungen wäre zu lang, um hier auch nur einigermassen umfassend beschrieben zu werden. Auch sind reine Residenzen von Parlamenten, Gerichten, Magistratspersonen oder Museen nicht mitgezählt.

Welche Rolle das herrschaftliche Prestige beim Beanspruchen von Räumlichkeiten spielt, offenbart der Kirchenrat der reformierten Kirche des Kantons Zürich. Dessen sieben Mitglieder legen grössten Wert darauf, im getäfelten Sitzungsraum des Regierungsrats zu tagen, obwohl in den eigenen Bürogebäuden genug Räume zur Verfügung stünden. Damit die Oberhäupter einer notorisch schrumpfenden Staatskirche das Rathaus an der Limmat nutzen dürfen, bezahlen die Kirchenmitglieder jährlich einen fünfstelligen Betrag. Gemeinsam mit dem Kirchenparlament (Synode) fallen für die Benützung des barocken Gebäudes pro Jahr 72 000 Franken an.

Im Schloss der von Salis-Seewis im Prättigau – erbaut 1630, erweitert 1690 – ist heute die Gemeindeverwaltung des Dorfes untergebracht. Im umfangreich restaurierten Schloss Haldenstein residiert nebst der Gemeindeverwaltung der Archäologische Dienst des Kantons Graubünden. Das 1571 errichtete Schloss Altishofen im Kanton Luzern inklusive Rittersaal, Barockstube, Schlosskeller und Schlossgarten beherbergt ebenfalls die Gemeindeverwaltung. «Die Besichtigung ist durch die Zwecknutzung nur beschränkt möglich», lässt man der Öffentlichkeit ausrichten. Auch im basellandschaftlichen Schloss Aesch, das die Familie Blarer von Wartensee vor über 400 Jahren errichtet hat, sitzt die Gemeinde in prachtvollen Räumen. Das Schloss Schöftland im Aargau hat 1660 der Berner Patrizier Wolfgang von Mülinen errichtet. Allerdings nicht für die Gemeindebürokratie, die es mittlerweile in Beschlag genommen hat. Selbst das Stockalperschloss in Brig, der weithin glänzende Prestigebau des Erzkapitalisten Kaspar Stockalper aus dem 17. Jahrhundert, ist seit 1948 öffentlicher Besitz und wurde 1960 von der Stadtverwaltung von Brig-Glis zwecks weitgehenden Eigengebrauchs gekapert.

Das Dörfchen L’Isle im Waadtland wird in einem Palast («Petit Versailles») verwaltet, der vor über 300 Jahren durch Charles de Chandieu – Inhaber des 1. Berner Regiments in französischen Diensten – errichtet wurde. Das Statthalteramt des bevölkerungsärmsten zürcherischen Bezirks residiert im Schloss Andelfingen, die Präfektur mit dem Oberamt des freiburgischen Seebezirks und dem Zivilstandsamt im Schloss Murten. Derzeit einzig als Oberamtssitz des Bezirks Greyerz genutzt, soll das riesige Schloss Bulle aus dem 13. Jahrhundert dereinst «mehrere Dienste der Kantonsverwaltung beherbergen». Die Kosten des Projekts betragen 25 Millionen Franken. Vorgesehen ist auch, dass das Zivilstandsamt und das Grundbuchamt ins Schloss umziehen, ebenso eine Aussenstelle des Jugendamts. Regierungsrat Jean-François Steiert (SP) will mit solchen Investitionen für die Staatsangestellten die «allgemeine Lebensqualität» steigern.

Auszug unerwünscht

Das Schloss Wimmis am Eingang zum Simmental beherbergt seit 2014 zwei Abteilungen des Amtes für Wald des Kantons Bern. Damit sei «eine optimale und nachhaltige Lösung» verwirklicht worden, denn «die Räume verzaubern und beeindrucken durch ihre Historie und fantastische Atmosphäre». Erst 2012 zog die kantonale Verwaltung aus dem 800-jährigen Schloss Burgdorf aus, bevor es letztes Jahr als «Schloss für alle» neu eröffnet wurde. Umgekehrt besetzte das Zürcher Kantonspersonal das Haus zum Rechberg nach einer Renovierung für 21,6 Millionen Franken so gut wie vollständig. Dieser neben dem Zunfthaus zur Meisen repräsentativste weltliche Bau der Stadt Zürich wurde 1770 für eine private Bauherrschaft vollendet, dient aber seit 2014 als Inbegriff eines barocken Beamtenpalasts den Parlamentsdiensten des Kantonsrats (Weltwoche Nr. 46/17). Die vorgesetzten Parlamentskommissionen tagen derweil beengt im benachbarten Kutscherhaus.

Die 1588 errichtete Feldmühle in Liestal, achtzig Jahre später zu einem stattlichen Landsitz ausgebaut, dient seit einer staatlichen Restaurierung der Finanzkontrolle Baselland. Die Beamten des Stadtbasler Departements für Wirtschaft, Soziales und Umwelt brüten im prachtvollen «Weissen und Blauen Haus» über ihren Akten. Es handelt sich um zwei Patrizier-Palais am Rheinsprung, die in den Jahren 1763 bis 1775 von den Seidenbandfabrikanten Lukas und Jakob Sarasin erbaut wurden. Das Bau- und Verkehrsdepartement ist an bester Lage am Basler Münsterplatz in einem historischen Bau mit imposantem Lichthof untergebracht. Obwohl im Parlament Druck für eine Umnutzung in Wohnraum gemacht wurde, kam das Departement in eigener Sache zum Entscheid, am privilegierten Standort festzuhalten. Gerade so gut hätten Frösche über die Ansiedelung von Störchen entscheiden können. Das Gesundheitsdepartement hat indessen die klassizistische 31-Zimmer-Villa von 1841 in der vornehmen St.-Alban-Vorstadt verlassen müssen. In Bern nahm der Kanton vor langer Zeit das ehemalige Stiftsgebäude aus dem mittleren 18. Jahrhundert am Münsterplatz in Beschlag. Aus derselben Zeit stammt das monumentale Tscharnerhaus, in dem die Mitarbeiter der Finanzdirektion die früheren Bewohner der gutbesonnten Wohnzimmer vertrieben haben.

Auch die Stadtverwaltungen mögen’s antiquarisch: Das heutige Genfer Stadthaus wurde 1821 für den Bankier Jean-Gabriel Eynard vollendet, der dort «bequemer und eleganter» wohnen wollte. Der von 1745 bis 1757 errichtete Erlacherhof galt als das bedeutendste Privatgebäude der Stadt Bern. Im Palais des Grossgrundbesitzers Hieronymus von Erlach an der Junkerngasse amten heute der Stadtpräsident und seine Beamten. So hat das Gleichstellungsbüro für Mann und Frau keinerlei Bedenken wegen allfälliger Besserstellung. Im Gegenteil reagieren die Gleichstellerinnen gereizt, wenn bürgerliche Politiker nicht nur ihre Institution, sondern auch ihre Residenz in Frage stellen.

Der See ladet zum Bade

Für Diskussionen sorgt in Universitätsstädten regelmässig die Unterbringung von Akademikern in wertvollen Bauten. Besonders opulent mögen es die Rektorate nebst ihrer zugehörigen Administration. Es sind aber auch zahllose Institute in riesigen, sündhaft teuren Villen aus der Gründerzeit untergebracht. Verlegungen beziehungsweise Zusammenlegungen in profanere Bürobauten führen bei den Betroffenen regelmässig zu empörten Protesten. Besonders lautstark fallen diese bei den linksgerichteten Geistes- und Sozialwissenschaftlern aus, die noch so gerne in wohlbestellten Parks, unter üppigen Stuckdecken und auf knarrenden Parkettböden die Nachfolge der angeblichen kapitalistischen Ausbeuter angetreten haben. Speziell bemerkenswert sind die Arbeitsplätze in der limnologischen Station der Universität Zürich, die sich in einer Herrschaftsvilla mit viel Umschwung in Kilchberg befinden. Direkt am Ufer gelegen, lächelt dort der See und ladet die universitären Mitarbeiter zum Bade.

Neben der Privilegierung der Staatsangestellten bei Löhnen, Sozialleistungen und Pensionskassen ist die Privilegierung ihrer Arbeitsstätten selten ein Thema. Dabei sind frühere Wohn- und Repräsentationsräume für Büros und den öffentlichen Zugang mit Publikumsverkehr meistens denkbar ungeeignet und bedürfen aufwendigster Umbauten. Der Rückzug der Beamten aus den historischen Gebäulichkeiten würde in den meisten Fällen die Staatskassen entlasten und zu marktgerechtem Wohnraum oder begehrten Standorten für Firmen führen. Doch ohne Druck der Steuerzahler wird der Staat kaum aus seinen Schlössern, Palästen und Herrenhäusern ausziehen. Denn wie überall sind die Bürokraten mitsamt ihren Büroräumen gekommen, um zu bleiben.