Zürich: Lehrer wird zum führenden Zeichner historischer Karten

Als Kind pauste er lieber Landkarten ab, statt Fussball zu spielen. Nun arbeitet der Zürcher Kantonsschullehrer Marco Zanoli am ersten historischen Atlas der Schweiz seit 1958.

NZZ, Michael von Ledebur 30.7.2019, 05:00 Uhr

Es gibt Dinge, die man sich nur als Kind aneignen kann. Die glühende Begeisterung für einen Fussballverein, die hemmungslose Hingabe für ein Pop-Idol sind nur in einem gewissen Alter möglich. Davor und danach ist man mit anderem beschäftigt. Aber die kindliche Begeisterung bleibt, manchmal ein Leben lang. Auch Jahrzehnte später lebt sie auf, sobald wir uns dem einstigen Objekt der Begierde widmen. Marco Zanoli begeisterte sich als Kind weder für Ballakrobaten noch singende Halbgötter, sondern für alte Landkarten. Sie boten ihm eine Zuflucht, wenn Langeweile drohte. Weil es in Schmerikon, wo er aufwuchs, weit und breit keine Bibliothek gab, hielt er sich an den «Schweizer Mittelschulatlas», der im Elternhaus im Regal stand.

Zanoli ist der Sohn einer Hausfrau und eines Wildhüters. Auf der Alp im Puschlav, der Heimat des Vaters, gab es wenig zu tun, vor allem wenn es regnete. Auch da holte der Bub seine Atlanten hervor, lernte Länder und Städte auswendig. Aus dem Spiel wurde ein Hobby. Stundenlang pauste er Karten aus dem Atlas ab und zeichnet so erste Karten zur Geschichte der Schweiz. «Heute würde man mich wohl als Nerd bezeichnen.»

Zehnden statt Netflix

Ein Nerd ist nach gängiger Definition ein an Spezialinteressen hängender Mensch mit sozialen Defiziten. Letzteres trifft auf Zanoli kaum mehr zu. Der Historiker ist vielfach engagiert: Er ist verheiratet, zweifacher Vater, Geschichtslehrer an der Kantonsschule Enge, wo er zugleich Informatik unterrichtet und das IT-Team leitet. Zudem ist er Präsident der Ritterhausgesellschaft Bubikon. Aber sein Spezialinteresse ist geblieben. Wenn die Kinder im Bett sind, schnappt er sich den Laptop – aber nicht, um Netflix zu schauen, wie das andere Väter und Mütter nach getanem Tagwerk tun. Sondern um eine Karte der Walliser Zehnden (Bezirke) in der frühen Neuzeit zu zeichnen. Er nennt dies «pure Entspannung».

Da die meisten historischen Quellen digitalisiert sind, braucht es neben dem Notebook lediglich noch eine Internetverbindung. Und es sei ein sozialverträgliches Hobby, da man es jederzeit unterbrechen könne, sagt Zanoli. Ein bis zwei Karten entstehen so pro Monat. Sein Hauptbetätigungsfeld ist die Internetenzyklopädie Wikipedia, wo er unter dem Pseudonym «Sidonius» auftritt, in Anlehnung an einen spätantiken gallorömischen Autor. Auf Wikipedia gibt es einen zweiten anonymen Kartenzeichner mit dem Pseudonym «Tschubby», von dem Zanoli mit hohem Respekt spricht. Aber dieser hat sich auf die Gegenwart spezialisiert, weshalb sich die beiden nicht in die Quere kommen.

Kartenzeichnen ist für Zanoli zwar nur eine Freizeitbeschäftigung, aber er hat es darin auf ein beachtliches Niveau gebracht. Es gibt wenige in der Schweiz, die ähnlich versiert darin sind. Dafür hat er eine einfache Erklärung: Es gebe kaum Historiker, die zugleich über ein derartiges Interesse an Karten und das nötige Fachwissen verfügten. Das Wissen darüber, wie eine historische Karte zu zeichnen sei, habe er sich selbst beigebracht, sagt er, unter anderem mit Youtube-Tutorials. Grafikern fehle umgekehrt das historische Wissen. Für sie gebe es überdies keinerlei pekuniären Anreiz dazu, Karten zu zeichnen, denn die Nutzer seien notorisch geizig. «Kaum jemand ist bereit, für die Nutzung einer Karte etwas zu bezahlen.» Zeitungen verwendeten seine Werke sogar oft ohne Quellenangabe.

Zanoli zeichnet Karten über die Burgunderkriege, über die Bündner Wirren im Dreissigjährigen Krieg, über die verworrene territoriale Entwicklung des Königreichs Savoyen, über die politische Gliederung des Zürcher Stadtstaates oder über das Schienennetz der Schweiz um die Wende zum 20. Jahrhundert. Abgesehen von Fällen, in denen Karten direkt überliefert sind, basieren historische Karten auf schriftlichen Quellen. Die Grenzziehungen sind naturgemäss nicht immer so eindeutig, wie es den Anschein macht.

Aufgeladen mit Informationen

Die Karten, die Zanoli zeichnet, sind anschaulich gestaltet; manche sind auch kreativ, weil sie über die klassische Territorialkarte hinausgehen. Ein Beispiel ist eine Karte, anhand deren sich die Anzahl Arbeiterstreiks um die Jahrhundertwende nachvollziehen lässt. Karten seien eine tolle Möglichkeit, historische Vorgänge kompakt darzustellen. «Man kann darin enorm viele Informationen unterbringen und vermitteln», sagt er. Eine Auflistung der reformierten und katholischen Gemeinden in der Schweiz nach dem Dreissigjährigen Krieg würde sich kaum jemand freiwillig zu Gemüte führen – eine Karte schon. Als Geschichtslehrer habe er ein quasi missionarisches Interesse, historisches Wissen zu verbreiten, sagt Zanoli.

Dazu passt sein jüngstes Vorhaben. Der Neuenburger Verlag Editions Alphil hat ihn angefragt, gemeinsam mit dem Genfer Historiker François Walter bei der Entwicklung eines historischen Atlas für die Schweiz mitzuarbeiten. Episoden aus der Schweizer Geschichte werden kurz geschildert und jeweils prominent mit einer Karte ergänzt. Der Atlas soll zunächst auf Französisch und später auf Deutsch erscheinen. Das letzte historische Kartenwerk über die Schweiz stammt aus dem Jahr 1958. Daneben gibt es einzig den Klassiker «Putzger historischer Weltatlas». Zanoli hat über die Jahre sämtliche Atlanten mit Bezug zur Schweizer Geschichte gesammelt und hortet sie bei sich zu Hause.

Wer sich mit historischen Karten auseinandersetzt, merkt rasch, wie unbeständig Grenzziehungen sind. Das mag sich wie eine banale Erkenntnis anhören, rüttelt aber bei näherer Betrachtung am Selbstbild. Von historischen Karten geht eine Faszination aus, weil sie das, was wir für unverrückbar halten, infrage stellen. Dass es so etwas wie die Schweiz im Jahr 1000 schlicht nicht gab und dass zwischen Basel und Zürich die Grenze zwischen dem Königreich Burgund und dem ostfränkischem Reich verlief, ist schwer fassbar.

In solchen Karten zeichnet Zanoli jeweils zwecks Orientierung die Grenzen der heutigen Schweiz ein. Das sei zwar ahistorisch, aber werde von den Leuten gewünscht. Wer als Schweizer auf eine Landkarte blickt, fühlt sich erst zu Hause, wenn er die kleine sauartige Form erblickt.

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