Weltwoche, 13.01.2021, Joachim Starbatty
Europas Politiker haben mehrmals den Euro gerettet, gegen alle Regeln. Die Geldflut wird die Währungsunion zerstören.
Ökonomen haben mehrmals die Euro-Zone auseinanderbrechen sehen, deren Scheitern vorausgesagt. Aber es gibt sie noch. Dennoch waren die Prognosen richtig: Eine Währungsunion hat nur Bestand, wenn die Mitgliedsstaaten nationale Interessen supranationalen Pflichten unterordnen. Insbesondere inn der Finanzpolitik. Um die Mitgliedsländer in der Währungsunion zu finanzpolitischer Disziplin anzuhalten, schreibt die berühmte no bail-out-Klausel im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vor, dass weder die Gemeinschaft noch ein Mitgliedsland für die finanziellen Verpflichtungen eines anderen Mitgliedslandes eintreten. Wenn ein Mitgliedsland wegen Überschuldung seinen finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen kann, muss es aus der Währungsunion ausscheiden.
Dass sich aber die Politiker an von ihnen selbst erlassene Vorschriften halten, haben die Ökonomen bei ihren Prognosen nicht im Griff. Genau wie im antiken Drama die Götter als Dei ex Machina auf der Bühne erschienen, um eine ausweglose Situation zu retten, schlüpfen auch die Politiker in der Euro-Zone zur Rettung der Währungsunion in die Rolle eines solchen. Sie taten es zum ersten Mal, um Griechenland vor einem Bankrott zu bewahren. Sie werden seitdem aktiv, wenn sie Gefahr im Verzug sehen. Sie haben mit dieser Aufgabe vornehmlich die Europäische Zentralbank (EZB) betraut.
Draghi als Deus ex Machina
Hätte Griechenland im Frühjahr 2010 aus der Euro-Zone ausscheiden müssen, wären von britischen, französischen und deutschen Banken an Griechenland ausgegebene Kredite auf einen Bruchteil ihres Werts gefallen. Die Banken wurden bei ihren Regierungen vorstellig – mit Erfolg. In der Nacht auf den 8. Mai 2010 hat der Europäische Rat als Deus ex Machina nicht nur das Griechenland-Rettungspaket verabschiedet, sondern auch einen Rettungsschirm in Höhe von 750 Milliarden Euro aufgespannt, unter den jedes Mitgliedsland schlüpfen kann, um eine nationale Insolvenz abzuwenden. Das ist ohne jede demokratische Kontrolle über die Bühne gegangen. Es war ein Putsch von oben. Er hat die Währungsunion von Grund auf verändert.
Die Geschichte geht weiter. Zwei Jahre später hatten sich die Renditeabstände zwischen italienischen und spanischen Staatsanleihen einerseits und deutschen andererseits dermassen gespreizt, dass weder Italien noch Spanien die damit verbundene Zinslast länger hätten tragen können. Daher haben die massgeblichen Politiker entschieden, dass Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), als Deus ex Machina die Kohlen für sie aus dem Feuer holt. Auf einer Investorenkonferenz in London am 26. Juli 2012 verkündete Draghi, die EZB stehe für die Existenz des Euro ein. Dann kam der Götterspruch: «Whatever it takes.» (Koste es, was es wolle.) Nach dieser Bürgschaftserklärung schrumpften die spreads, also die Differenzen bei der Obligationenrendite solider und unsolider Schuldner, bis auf wenige Zehntelprozentpunkte zusammen. Die Kurse der Anleihen notleidender Schuldnerländer schossen geradezu nach oben – eine Belohnung für alle Investoren, die sich auf das Wort von Draghi verlassen und Anleihen notleidender Schuldnerstaaten gekauft hatten.
Draghi hat aber nicht bloss den Euro gerettet, sondern auch die Euro-Zone zusammengehalten. Er hat die Zinsen auch für überschuldete Mitgliedsstaaten so niedrig gehalten, dass sie ihre Ausgabenpolitik ohne Sanierung ihrer Haushalte fortsetzen konnten. Die verdeckte monetäre Staatsfinanzierung war im Zentralbankrat nicht unumstritten. Doch konnte sich Draghi nach Anrufen bei den lokalen Zentralbankpräsidenten überschuldeter Mitgliedsstaaten sicher sein, im Zentralbankrat die notwendige Mehrheit für seine Politik zu haben. Auch stärkte ihm die Politik den Rücken.
Einflussreiche politische Götter achten auch auf eine Euro-konforme Personalpolitik. Deutschland, als grösster Anteilseigner der EZB, wäre nach einem Niederländer, Franzosen und Italiener an der Reihe gewesen, den Präsidenten der EZB zu stellen. Der Vorsteher der Deutschen Bundesbank war dazu bereit. Der französische Staatspräsident, Emmanuel Macron, hat ihn von diesem Posten fernhalten können, indem er Bundeskanzlerin Merkel anbot, die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zur Präsidentin der EU-Kommission zu machen. Die Bundeskanzlerin liess sich gerne überreden, da auch ihr ein EZB-Vorsitzender, der sich an die Regeln hält, nicht recht war. Nun führt die französische Kandidatin, Christine Lagarde, Draghis Politik fort.
Es gab auch Zwist zwischen den Göttern. Die Euro-Gruppe, in der sich die Finanzminister über den Kurs innerhalb der Euro-Zone abstimmen, hatte am 15. Juli 2015 unter Führung des deutschen Finanzministers mit grosser Mehrheit weitere Hilfspakete für Griechenland abgelehnt. Griechenland hätte die Euro-Zone verlassen müssen. Daraufhin ist der damalige französische Staatspräsident, François Hollande, zur Bundeskanzlerin nach Berlin gereist und hat mit ihr konferiert. Als Ergebnis blieb Griechenland Mitglied der Euro-Zone. Hollande ist gefragt worden, was er nach seinem Triumph über Wolfgang Schäuble empfunden habe. Er hat geantwortet, man müsse doch nicht nach jedem Erfolg «Kikeriki» schreien.
Einem jüngsten Crash in der Euro-Zone ist die Bundeskanzlerin zuvorgekommen. Sie kündigte Corona-Hilfen für die EU an, um diese vor einem Zerfall zu bewahren. Das war nur vorgeschoben. Kein Mitgliedsland hätte den sicheren Hafen EU verlassen, wenn es wegen der Corona-Krise in finanzielle Schwierigkeiten geraten wäre. Notfalls hätte es über eine Abwertung verlorengegangene internationale Konkurrenzfähigkeit zurückgewinnen können.
Diese Möglichkeit ist den Mitgliedsländern der Euro-Zone verbaut. Sie wurde in zwei Teile gespalten: Für die einen – wie für Deutschland – war der Euro zu niedrig bewertet, daher Exportüberschüsse und sprudelnde Steuerquellen; für die anderen war er zu hoch bewertet, daraus folgend der Verlust internationaler Konkurrenzfähigkeit und austrocknende Steuerquellen. Daher hätten diese Mitgliedsländer unter der Last zusätzlicher finanzieller Verpflichtungen zusammenbrechen können und aus der Euro-Zone ausscheiden müssen.
Erstickende Wirkung der Transferunion
Wie wollen die politischen Götter die Euro-Zone vor einem Zerfall bewahren? Sie haben eine Gemeinschaftsanleihe in der Höhe von 750 Milliarden Euro aufgelegt. Und dabei eine dicke rote Linie überschritten. Bisher war die deutsche Bundesregierung strikt gegen eine Konstruktion, bei der die einen haften und die anderen das Geld ausgeben. Macron und Merkel sind die Initiatoren dieses neuen Projekts. Gerechtfertigt wird es mit der Dringlichkeit, notleidenden Mitgliedsstaaten rasch unter die Arme zu greifen; zudem sei es einmalig. Doch wird man sich bei späteren Notsituationen nicht verweigern können. Macron und auch der deutsche Finanzminister begrüssen den Einstieg in eine Transferunion. Noch wehrt sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Eine Transferunion würde Europas Kreativität ersticken. Mit Sicherheit, ja, doch werden die politischen Götter bei jedem Anschein eines Zerfalls der Euro-Zone weitere Mittel fliessen lassen. Daraus folgt: Kein Mitgliedsland in der Euro-Zone wird mehr Konkurs gehen. Es braucht sich nicht an Auflagen zu halten, die mit der Kreditvergabe verbunden sind. Es gibt den Sanktionsmechanismus – Ausscheiden aus der Euro-Zone – nicht mehr. Kein Mitgliedsstaat kann zu einer Rückzahlung der Kredite gezwungen werden; sie werden einfach verlängert. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Krediten und Zuschüssen.
Eine andere Frage ist, wie lange die Menschen in den Gläubigerstaaten das noch mit sich machen lassen. Zurzeit kann Bundeskanzlerin Merkel die Menschen in Deutschland mit dem Hinweis ruhigstellen, dass ein Scheitern des Euro für die Ertragskraft der Wirtschaft und die Sicherheit der Arbeitsplätze weit verhängnisvoller wäre als weitere Zahlungen.
Doch droht dem Euro von einer anderen Seite Gefahr. Christine Lagarde führt die Geldschwemmepolitik ihres Vorgängers fort, steigert sie sogar noch. Im Mittelalter wäre eine solche Geldüberflutung wegen des geringer gewordenen Edelmetallgehalts der Münzen sofort aufgefallen und hätte preistreibend gewirkt. Bei Papiergeld fällt eine Münzverschlechterung nicht auf. Papier bleibt Papier. Die Geldnutzer unterliegen noch der Geldillusion: Euro bleibt Euro.
Wann sie diese Illusion verlieren, kann niemand voraussagen. Aber wenn sie verlorengeht, wird es zur Situation des «Rette sich, wer kann» kommen. Der EZB wird es schwerfallen, die von ihr geschaffene Geldschwemme wieder unter Kontrolle zu bringen. Hans-Werner Sinn hat dafür ein plastisches Bild gewählt: Wie ein Kutscher die Pferde vor seinem Karren nicht am Ausbrechen hindern könne, wenn er die Zügel habe schleifen lassen, würden auch eventuelle Bremsversuche der EZB bei sich beschleunigender Geldentwertung wenig Wirkung zeigen.
Wir wissen nicht genau, was kommen wird, doch können wir sagen, dass wir interessanten Zeiten entgegensehen. Nach chinesischer Lesart ist das als Fluch zu verstehen.
Joachim Starbatty ist emeritierter Ökonomieprofessor der Universität Tübingen. Von 2014 bis 2019 war er Mitglied des EU-Parlaments.