Als Jude und Jüdin ist das Leben jetzt wie Roulette. Guter Jude sein heisst gegen Israel sein. Schlechter Jude sein heisst für Israel sein. Aber anders als beim Glücksspiel kann man beim Woke-Game nur verlieren.
NZZ, Mirna Funk, 09.11.2021, 05.30 Uhr
Die meisten antisemitischen Vorurteile, die Menschen bis heute in sich tragen, stammen noch aus einer vom christlichen Judenhass geprägten Zeit.
Vor einigen Wochen hob ich in einem Panel hervor, dass die Vorstellung, man müsse Kinder und Jugendliche nur einmal durch ein ehemaliges Konzentrationslager jagen und schon seien sie vom Antisemitismus befreit, offensichtlich nicht zum gewünschten Ergebnis führe, sondern solche Massnahmen möglicherweise genau das Gegenteil bewirken, einfach weil das Gesehene unerträglich ist. Wie sollen Kinder und Jugendliche die Frage, wie Menschen anderen Menschen solches Leid antun konnten, während eines zweistündigen Besuches verstehen und daraus noch intellektuelle Schlüsse ziehen?
Nach der Veranstaltung kam ein Herr um die achtzig Jahre zu mir und sagte: «Uns hat man in der Schulzeit auch schon die KZ gezeigt, und wir konnten das wunderbar aushalten. Das lag vor allem an der leicht verständlichen Erklärung, dass nämlich eine Verbrecherbande für dieses Handeln verantwortlich sei.»
Gerade dieses Narrativ hat aber dafür gesorgt, dass bis heute ein Grossteil der Deutschen (81 Prozent laut einer ZDF-Info-Umfrage von 2020) glaubt, dass ihre Grosseltern oder Urgrosseltern nichts oder nichts Genaues gewusst hätten. Und genau dieses Narrativ ist der Grund dafür, dass über Jahrzehnte überhaupt nur peripher über den Holocaust gesprochen wurde. Genau dank diesem Narrativ kann die historische Verantwortung verdrängt und geleugnet werden. Denn gemeinhin wird geglaubt, der Antisemitismus sei von Hitler erfunden worden und dementsprechend auch mit Hitler verschwunden. Ein historischer Unfug.
Der alltägliche Antisemitismus
Diese Relativierung, das absurde Narrativ, da hätte sich eine Gruppe böser Männer an den geliebten Juden zu schaffen gemacht, ist unter anderem für den nie verschwundenen Antisemitismus in Deutschland verantwortlich.
Auf Lesungen, in Diskussionsrunden und Interviews werde ich immer wieder gefragt, wieso es heutzutage immer noch Antisemitismus gebe. Das könne doch gar nicht sein, das sei doch völlig absurd, einfach unfassbar. Diese naive Vorstellung, dass nach dem Holocaust und der «Vergangenheitsbewältigung» der Antisemitismus verschwunden sein müsste, beweist vor allem die fehlende Geschichtskenntnis bei den meisten, obwohl immer alle glauben, sie wüssten alles zu dem Thema.
Aber innerhalb der jüdischen Community ist nichts daran verrückt oder unerklärlich, sondern es ist Alltag. Ein Alltag im Übrigen, den viele von uns die meiste Zeit einfach so wegwinken.
Im Oktober fand eine Lesung von mir im Schauspielhaus Bonn statt. Kurz vor Beginn sassen Rabbi Andreas Nachama, der durch den Abend führen sollte, und ich schon im Gebäude. Wir hörten, wie draussen irgendjemand herumkrakeelte. Wie wir später erfuhren, hatte ein Mann vor dem Gebäude laut «Rothschild, Rothschild» geschrien, wohlwissend, dass sich die Veranstaltung um jüdisches Leben drehte. Rothschild – der Name einer bekannten jüdischen Familie – ist eine antisemitische Chiffre, die sich auf die angeblich geheimen Machenschaften reicher Juden bezieht.
Älter als Hitler
Antisemitismus ist alt, älter als Hitler. Antisemitismus ist eine Weiterentwicklung des Antijudaismus. Die meisten antisemitischen Vorurteile, die Menschen bis heute in sich tragen, stammen noch aus einer vom christlichen Judenhass geprägten Zeit. Zum Beispiel das beliebte Klischee des reichen Juden, des Juden, der Geld hat, mehr als alle anderen. Wenn ich manchmal erkläre, dass mittelalterliche Berufsverbote und Berufserlaubnisse die Juden ins Bankwesen zwangen, bekomme ich zur Antwort, das sei natürlich richtig, Juden hätten selbstverständlich nicht mehr Geld als andere. Das Judentum sei schliesslich nur eine Religion, keine Identität, aber Israeli, die hätten das ganze Geld.
Wenn ich erzähle, dass in manchen Tel Aviver Stadtteilen die Menschen obdachlos auf der Strasse lägen und meine Freunde zehn Kreditkarten hätten und drei Jobs, um ihre Miete zahlen zu können, dann kommt die Antwort «nein, nein», gemeint seien natürlich «die Israeli ausserhalb von Israel». Natürlich. Was sonst?
Wildes Stolpersteineputzen
Genau das macht Antisemiten auch so schwer zu fassen. Sie sind sneaky. Das muss man ihnen lassen. Immer wenn man Antisemitismus benennt, aufzeigt und analysiert, passt sich die Argumentation an. Ein bisschen wie bei der Heisenbergschen Unschärferelation: Sobald wir sie beobachten, die Antisemiten, ändern sie ihre Richtung. Denn selbstverständlich will niemand Antisemit sein. Das ist das elfte Gebot: Sei kein Antisemit! Aber mit dieser Abwehrhaltung wird keiner seine tief verwurzelten antisemitischen Vorurteile los. Auch nicht bei einem KZ-Besuch.
Ganz automatisch wird regelmässig extrem emotional auf Attacken gegen Juden reagiert. Empörung, Anteilnahme, wildes Stolpersteineputzen folgen. Dieselben Personen teilen auf Social Media mit der gleichen Emotionalität Infografiken, in denen Israel Massenmord an den Palästinensern vorgeworfen wird, obwohl die palästinensische Bevölkerung seit 75 Jahren kontinuierlich wächst. Selbst die letzten linken Versprengten meiner israelischen Freunde begriffen plötzlich im vergangenen Mai, als es erneut zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der Hamas und Israel kam, dass es möglicherweise eben doch Antisemitismus ist, wenn Gigi Hadid, amerikanisches Model und Influencerin mit palästinensischen Wurzeln, 43 Millionen Follower mit komplett beklopptem Trash versorgt, der jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt: zum Beispiel damit, dass Israeli weisse Kolonialherren seien, die der indigenen Bevölkerung ihr Land geraubt hätten. Dabei sind die Hälfte der israelischen Bevölkerung mizrachische Juden, also Juden, die über Jahrhunderte in den arabischen Nachbarländern lebten und dort unterdrückt, verfolgt und ermordet wurden. Tatsache ist: Von ihnen lebt keiner mehr in einem arabischen Land. Das kann man sehr wohl ethnische Säuberung nennen.
Die Entwicklung des Judenhasses sieht eigentlich so aus: Erst hassten sie die Juden wegen ihrer Religion, dann hassten sie die Juden wegen ihrer Rasse, und jetzt hassen sie alle Juden, die Zionisten sind.
Hardcore-Assimilierung
Wer verstehen will, wie es in diesen Köpfen aussieht, dem sei die Nachricht nahegelegt, die ich im Zuge der Biller-Czollek-Debatte vor ein paar Wochen via Instagram bekam: «Du hast Max doch angegriffen, du Jewhater. Ist euch Zionisten jetzt peinlich, dass mal was nach aussen gedrungen ist? Sonst bleibt man ja streng unter sich. Von Geburt an. Jüdischer Kindergarten, jüdische Schule, jüdische Freunde. Du hast komplett den Bezug verloren. Max Czollek ist Jude. Seine Familie hat gelitten wegen des Holocausts. Deine Familiengeschichte kenne ich nicht, juckt mich auch nicht. Ich find es gut, dass hier mal existenzielle Fragen gestellt werden. Werden euch immer und ewig an diese Diskussion erinnern. Ihr Jewhater!!!»
Jetzt gibt es eben nur noch Real Jews, die man immer dann besonders liebt, wenn sie Opfer von Diskriminierung werden, denn hier haben die Gerechtigkeitskämpfer und die Jews einen gemeinsamen Nenner: Antirassismus und Antifaschismus. Wie es immer so schön heroisch heisst. Dafür muss der Jew aber Hardcore-Assimilierung betreiben. Also bitte schön kein elitäres Denken an den Tag legen und hinter den verschlossenen Türen des jüdischen Kindergartens die Weltverschwörung planen, sondern vorne mit dabei sein, beim Kampf gegen den gemeinsamen Feind, den bösen Nazi.
Für oder gegen Israel
Und Israel? Das muss öffentlich verdammt werden. Wenn der Jew das nicht macht, wird er automatisch zum Zionisten und Teil der grossen, alles verschlingenden Krake. Es ist zum Verrücktwerden. Es ist zum Haareraufen.
Aber vor allem ist es einfach richtig peinlich, zum Fremdschämen. Als Jude und Jüdin ist das Leben jetzt wie Roulette. Entweder setzt man auf Rot oder auf Schwarz. Guter Jude sein heisst gegen Israel sein. Schlechter Jude sein heisst für Israel sein. Aber anders als beim Glücksspiel kann man beim Woke-Game nur verlieren. Genauso wie die assimilierten Juden in Deutschland 1933.
Mirna Funk ist eine deutsche Schriftstellerin und Publizistin. Jüngst von ihr erschienen ist der Roman: «Zwischen Du und Ich». DTV-Verlagsanstalt, München 2021.