NZZ, Felix W. Zulauf 24.06.2022
Die westliche Politik hat in Fragen der Sicherheit versagt. Gleichzeitig hat die Fiskal- und Geldpolitik den verantwortungsvollen Kurs schon lange verlassen, was die Inflation beschleunigt. Ohne Rezession werden wir den Weg zurück in eine stabilere Welt nicht finden, was für Anleger unruhige Zeiten bedeutet.
Die Preise für Konsumgüter und Dienstleistungen sind in den letzten zwölf Monaten mehr gestiegen als jemals zuvor in den letzten 40 Jahren: um über 8% in den USA und in der Eurozone. In der Eurozone legten die Produzentenpreise um 37% zu. Die Zinsen beginnen entsprechend zu steigen, die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen in den Industrieländern notieren auf dem höchsten Stand seit acht Jahren. Im Osten Europas herrscht Krieg – ein Zustand, den sich viele Menschen im Westen gar nicht mehr vorstellen konnten.
Die Preise für Energie und Grundnahrungsmittel sind explodiert, was besonders die unteren Einkommensschichten hart trifft. Die von China ausgehenden Lieferketten sind gestört. Immer mehr entsprechen unsere Volkswirtschaften einer klassischen «Mangelwirtschaft», wie wir sie aus den planwirtschaftlichen Staaten des früheren Ostblocks oder aus Kriegszeiten kannten.
Da und dort haben westliche Politiker begonnen, Wladimir Putin für diese Misere verantwortlich zu machen. Doch das greift zu kurz, denn die Probleme waren schon vorher da. Der Krieg hat sie bloss an die Oberfläche gespült.
Es ist ein selbst verschuldeter Schlamassel, den die politischen Entscheidungsträger im Westen in ihrer Naivität über viele Jahre herbeigeführt haben. Ihre von falscher Ideologie getriebenen, realitätsfremden Entscheidungen haben zu diesem Chaos und zu schmerzlichen Folgen für die Bürger geführt.
Dass die Zinsen steigen und die Aktienkurse im Trend fallen, sollte angesichts dieses Durcheinanders niemanden erstaunen; die von mir in früheren Beiträgen prognostizierte Achterbahnfahrt hat erst Anfang Jahr begonnen. Sie wird Jahre dauern.
Anmassung von Wissen in Sachen Klima
Drei Themen dominieren. Erstens: Der Zeitgeist ist mit der Klima-Apokalypse entgleist, als Politiker, von Rot-Grün bis hin zur politischen Mitte und einigen Konservativen, begannen, von einer drohenden Katastrophe zu sprechen. Die einseitigen Medien, private und staatliche, haben den Ball aufgenommen, mit dem Resultat, dass heute fast alle Bürger die Behauptung glauben, der Mensch sei für die Erwärmung des Klimas verantwortlich.
Ich bin gegenüber einer derartigen Anmassung von Wissen skeptisch. Die wissenschaftliche Evidenz ist nicht gegeben. Klima ist zyklisch und durchläuft Wärme- und Kältephasen. In den letzten 10’000 Jahren gab es in der Schweiz beispielsweise zweimal keine Gletscher, in den letzten drei Millionen Jahren durchlief die Erde 44 Wärme- und Kältephasen.
Es ist meiner Ansicht nach eine Anmassung, die Menschen mit groben Eingriffen und Verboten zu einem Lebensstil zu zwingen, der eine weitere Erwärmung von nur 1 Grad zulassen soll. Die allein für die nächsten Jahre gesprochenen staatlichen Investitionsprogramme gegen den Klimawandel betragen heute weltweit über 4 Bio. $, das ist etwa doppelt so viel wie alle bisherigen staatlichen Investitionsprogramme – von der Chinesischen Mauer, den Suez- und Panama- Kanälen, den NASA-Raumfahrtprogrammen, den Autobahnen, Eisenbahnnetzen, usw. – zusammen.
Die heutige Klimapolitik ist aus meiner Sicht eine Jahrtausend-Verrücktheit der Menschheit. Selbstverständlich befürworte ich jede neue Technologie, die wirtschaftlich sinnvoll und nachhaltig ist und unseren Planeten schont. Aber sie darf nicht planwirtschaftlich sein, sondern muss eine marktwirtschaftliche Anwendung finden.
Wer jahrelang fossile Brennstoffe verteufelt, darf sich nicht wundern, dass die Unternehmen dieser Branchen immer weniger investieren und die Produktionskapazitäten schrumpfen statt wachsen. Wer gleichzeitig die Atomkraft verteufelt und glaubt, dass wir allein mit Solar- und Windstrom unsere stromhungrigen Volkswirtschaften versorgen können, der führt uns in den Engpass, der jetzt erst begonnen hat.
Dieser Engpass wird Jahre dauern, weil es Jahre brauchen wird, um genügend Energiekapazitäten aufzubauen. Zudem werden Investitionen in die Förderung fossiler Brennstoffe nur dann erhöht, wenn die Politik ihr glaubwürdig eine langfristige Zukunft gibt. Mit dem Verbot der EU für Verbrennungsmotoren ab 2035 ist das nicht der Fall.
Von Ideologie geleitete politische Entscheidungsträger setzen die Signale falsch. Dass Energie in den kommenden Jahren in allen Varianten sehr viel teurer wird, dies wiederum in praktisch jedes Konsumgut und jede Dienstleistung einfliesst und die Teuerung anheizt, haben diese Entscheidungsträger vergessen.
Gefährliche geopolitische Entwicklung
Zweitens: Der Krieg in der Ukraine ist eine Tragödie und hätte durch eine weitsichtige Politik verhindert werden können. Er hat die Sicherheitslücken in Europa gnadenlos aufgedeckt.
Die tapfer kämpfenden Ukrainer haben unsere Sympathien. Aber Russland hat die rote Linie seines Sicherheitsbedürfnisses in den letzten 15 Jahren wiederholt deutlich aufgezeichnet – der Westen hat sie ignoriert und einen für beide akzeptablen Kompromiss verweigert. Natürlich stört es freiheitsliebende Menschen, dass ein Staat nicht voll nach seinem eigenen Willen leben kann. Aber die geostrategische Lage mit dem Nachbarn Russland ist für die Ukraine ein Faktum, und entsprechend hätte der Westen sie für einen Modus Vivendi unterstützen sollen, anstatt den Konflikt anzuheizen.
Der Westen hat nach dem Mauerfall Russland versprochen, östlich der Oder/Neisse-Linie keine Nato-Truppen zu stationieren – und dieses Versprechen nicht eingehalten. Die Fäden für die Maidan-Revolution in der Ukraine von 2014 wurden von der Obama-Regierung gezogen. Und nach Trump hat die Biden-Regierung in der Ukraine, dem Vorhof Russlands, ukrainische Truppen militärisch ausgebildet. Das hat für Putin das Fass zum Überlaufen gebracht.
Platon sagte: Wenn Du Frieden willst, dann rüste zum Krieg. Europa hat es genau umgekehrt gemacht. Westeuropa hat es bis heute versäumt, eine glaubwürdige Sicherheitsarchitektur aufzubauen und sich stattdessen unter den Schutz der USA geflüchtet.
Das war erstens billiger und zweitens moralisch erhabener – aber drittens völlig falsch. Wenn ein Drittel der Flugzeuge der deutschen Bundeswehr nicht fliegen, alle U-Boote nicht tauchen und die Anzahl einsatzbereiter Panzer kleiner ist als die der kleinen Schweiz (und diese ist schon unterdotiert), dann zeigt dies einen eklatanten Mangel an Sicherheitsverständnis. Selbst die 5000 an die Ukraine verschenkten Helme musste Deutschland bei den Polen borgen!
Die linken Ideologien des Pazifismus haben die Weitsicht der europäischen Politiker in den letzten Jahrzehnten vernebelt. Konsequenz ist, dass die USA, unter dessen Schutz sich Europa geflüchtet hat, in Europa ihre geopolitischen Interessen durchsetzt. Europa hat sich zu einem geopolitischen Statisten degradiert und sich einer fremden Grossmacht ausgeliefert, deren Interessen in Europa nicht mit unseren kongruent sind.
Das ist falsch, auch wenn diese Macht USA heisst.
Putin wird den Schritt seines Angriffskriegs bereuen, da es Russland wirtschaftlich und geopolitisch langfristig zurückwerfen wird. Aber er wird dem Westen noch verschiedentlich Schaden zufügen, wenn der Westen die Sanktionen nicht lockert. Diese Fehler des Westens wären weitsichtigen Politikern und Diplomaten nicht passiert – nur fehlen diese bei uns seit einer Generation.
Mit diesem Konflikt wurden Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit offengelegt, besonders was die Sicherheit punkto Verteidigung, Versorgung mit Energie und Lebensmitteln sowie Lieferketten angeht. Russland und die Ukraine zusammen sind wichtige Exporteure von Energie und Grundnahrungsmitteln, welche im Westen nun fehlen. Die USA lachen sich ins Fäustchen, denn sie haben von beidem genug.
Schwächen der Globalisierung werden offengelegt
Drittens: Internationale Arbeitsteilung ist in der Theorie sinnvoll, weil jeder das macht, was er am besten und zum günstigsten Preis kann. Die Globalisierung wurde jedoch auch übertrieben, weil gefährliche Abhängigkeiten entstanden. Wenn beispielsweise 80% der Wirkstoffe zur Herstellung von Pharmaprodukten im Westen aus China kommen, dann kann der Westen überspitzt gesagt kaum mehr eine Kopfwehtablette ohne China herstellen.
Überdimensionierte Abhängigkeiten für strategisch wichtige Produkte machen in einer Welt mit zunehmenden Konflikten zwischen unterschiedlichen Systemen erpressbar. Die Zero-Covid-Politik Chinas zeigt dem Westen, dass Sanktionen gegen China noch sehr viel gravierendere Folgen hätten als jene gegen Russland.
Der «Thukydides-Konflikt» des Hegemonen (USA) gegen den Aufsteiger (China) ist offensichtlich voll im Gang. Er wird Jahre dauern und sich voraussichtlich verschärfen. Entsprechend wird eine gewisse wirtschaftliche Entflechtung auf ein vernünftiges Mass eintreten. Die weltwirtschaftliche Effizienz wird leiden und zahlreiche Produkte und Dienstleistungen auch aus diesem Blickwinkel teurer machen; entsprechend wird unser Wohlstand abnehmen.
Mehr Realitätssinn, Freiheit und Markt sind notwendig
Es geht im Grunde also um drei grosse Herausforderungen: die Verteidigungssicherheit, die Sicherheit der Energieversorgung und die Liefersicherheit. Alle drei müssen wiederhergestellt werden. In Klimafragen muss mehr Realitätssinn einziehen. Die Politik muss weg von etatistischen Ideologien und sich wieder freiheitlich und marktwirtschaftlich orientieren. Wenn wir politisch die Weichen nicht zurückstellen auf eine liberal-konservative Linie, dann wird unser Wohlstand schmelzen wie Schnee an der Märzsonne.
Gleichzeitig müssen unsere Behörden die inakzeptabel hohe Teuerung bekämpfen, sonst kommen wir in eine Preis-Lohnspirale, die nicht mehr gestoppt werden kann.
Aber weder eine restriktive Geld- noch eine Verknappung der Fiskalpolitik können das Angebot an Energie und Lebensmitteln erhöhen. Die Wirtschaftspolitik kann in der heutigen Ausgangslage von strukturell knappem Angebot mit ihren Instrumenten lediglich die Nachfrage dämpfen, damit Angebot und Nachfrage sich auf einem tieferen Niveau wieder einpendeln.
Das heisst aber unausweichlich auch Rezession. Haben die Notenbanken die Weitsicht und Kraft, ein solches Manöver konsequent durchzuführen?
Eine Rezession deckt weitere Strukturprobleme auf, die sich als Folge einer jahrelang verfehlten Fiskal- und Geldpolitik aufgebaut haben. Die Schuldenberge sind im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung in allen Industrieländern rasant gewachsen, die Staatsquoten sind enorm hoch, in der EU liegt sie knapp unter 60%!
Schulden und Demografie hemmen Wachstumspotenzial
Eine Rückführung der Schulden ist kaum mehr möglich, und die Schuldenberge werden das Wachstumspotenzial unserer Volkswirtschaften in Kombination mit der negativen Demografie weiter auf ein ungenügend tiefes Niveau drücken. Aber unser System braucht Wachstum, sonst funktioniert es nicht mehr und schleudert von einem Schüttelfrost in den nächsten. Denken wir nur an die Altersvorsorge, wo besonders die staatlichen Modelle schon lange nicht mehr gesichert sind.
Zudem: Was passiert mit dem globalen Immobilienmarkt, dessen Wert gegenwärtig rund 350 Bio. $ beträgt und der gemessen an den Mieteinnahmen um 40 bis 50% überteuert ist? Steigende Zinsen – nur schon ihre Rückkehr auf ein Normalniveau – würden eine globale Immobilienkrise auslösen.
Mit der Bremspolitik der Zentralbanken werden vorerst die Zinsen angehoben. Am freien Markt steigen die Renditen von Staatsanleihen schon seit zwei Jahren von einem durch die Notenbanken künstlich tief gehaltenen Niveau. Negativzinsen, eine Erfindung der EZB, werden ebenfalls einen Eintrag ins Geschichtsbuch der «Dummheiten des Jahrtausends» finden. Die EZB erhöht jetzt bei über 8% Teuerung ihre Leitzinsen um kleinliche 0,25 Prozentpunkte und im September dann möglicherweise nochmals um 0,5 Prozentpunkte, also leicht über null.
Das ist lächerlich. Die von der französisch-italienischen Philosophie dominierte EZB ist die Antithese zur alten deutschen Bundesbank, die einst für stabilen Geldwert bürgte. Vielleicht dämmert es den Deutschen endlich, was für ein katastrophaler Blödsinn der Euro für ihre Volkswirtschaft ist.
Der Zins – der Preis für Geld – ist überall noch immer viel zu tief, um eine notwendige Bremsung der Konjunktur zur Reduktion der Inflationsrate herbeizuführen. Allerdings weist die Entwicklung der Quantität des Geldes vor allem in den USA darauf hin, dass das Bremsmanöver heftiger ausfallen könnte, als es der niedrige Zins impliziert. Da sich die US-Zentralbank vor allem auf den Zins und nicht auf die Geldmenge fokussiert, könnte dort übersteuert und eine Rezession ausgelöst werden.
Druck auf die Aktienmärkte wird hoch bleiben
Ich gehe davon aus, dass angesichts der hohen Inflationsraten – auch wenn diese gegen Jahresende etwas zurückfallen können – die Notenbanken in den Industrieländern ihr eingeleitetes Bremsmanöver vorderhand fortsetzen werden. Besonders die Reduktion der Bilanz der US-Zentralbank entzieht dem Kreditsystem ab Juni fast 50 Mrd. $ Liquidität pro Monat und ab September das Doppelte, was an den Aktienmärkten den Druck nach unten im zweiten Halbjahr verstärken dürfte.
Erst wenn die Konjunkturdaten schwach werden und die wichtigsten Aktienindizes etwa 30% vom Höchstpunkt gefallen sind, dürfte das Fed eine Abkehr von diesem Bremsmanöver einleiten. Bis dann ist in den Aktienkursen aber noch weiter Raum nach unten, auch wenn die Investmentbranche bei jedem Rückschlag ihre optimistischen Lieder singt.
Für eine nachhaltige Hausse an den Märkten ist es meines Erachtens noch zu früh. Vorerst zeigt der Achterbahnkurs im Trend weiter nach unten, auch wenn es von Zeit zu Zeit zu temporären Gegenbewegungen kommt.
Felix W. Zulauf ist Gründer und Inhaber der Zulauf Consulting in Baar. Seine Laufbahn führte ihn zunächst bei UBS in Zürich durch verschiedene Positionen, unter anderem als globaler Anlagestratege und Leiter des institutionellen Portfoliomanagements. Dazwischen dienten ihm Auslandeinsätze in New York und Paris zur Vertiefung der Fachkenntnisse globaler Finanzmärkte. 1990 gründete er Zulauf Asset Management, um seine Anlagephilosophie frei von konventionellen institutionellen Restriktionen umsetzen zu können. Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat Zulauf die Mehrheit seiner Firma verkauft und seine Minderheit als eigenständiges Unternehmen abgetrennt, das ihm primär als Family Office dient und Beratung für Kunden weltweit anbietet.