Wer schützt den Himmel über Russland? – In Moskau herrscht leise Sorge und laute mediale Hysterie

NZZ, 3.10.2024, Gastkommentar von Christoph Brumme

Der russische Feldzug kommt im Donbass im Schneckentempo voran, doch klafft der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Die Ukrainer sind bestrebt, den Krieg ins Innere von Russland zu tragen, was ihnen immer besser gelingt.

Die Einpeitscher des Ukraine-Feldzuges in Russlands Staatsfernsehen zeigen immer häufiger Symptome von Angst, Hysterie und Verzweiflung. Seit den erfolgreichen Drohnenangriffen der Ukrainer auf Moskau ist der Krieg im Herzen der Russländischen Föderation mit Wucht angekommen. Bald kann alles jeden treffen, das lässt sich nicht mehr verschweigen. Drei der vier internationalen Moskauer Flughäfen mussten ihren Betrieb vorübergehend einstellen; mehrere ukrainische Drohnen prallten auf Hochhäuser, es hat laut russischen Medien ein Todesopfer gegeben.

Der Hasspropagandist Wladimir Rudolfowitsch Solowjow empört sich darauf in seiner Live-Sendung, dass es über Russland keinen sicheren Himmel mehr gebe. Krakeelend will er wissen, wer eigentlich dafür verantwortlich sei. «Die Gouverneure sind keine Militärs, die Armee kämpft im Krieg [an den Fronten], die Nationalgarde vielleicht? Wer ist im dritten Jahr des Krieges gegen die Nato verantwortlich für einen sicheren Himmel in Russland? Haben wir dafür ein verantwortliches Zentrum? Niemand ist dafür verantwortlich», stöhnt er resigniert.

Je länger der Krieg dauert, desto weiter klafft der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit auseinander, zwischen den deklarierten Kriegszielen «Denazifizierung» und «Demilitarisierung» der Ukraine und den peinlichen militärischen Erniedrigungen, die Russlands Armee in diesem Krieg schon kassieren musste.

Blutige Lehrzeit

Geplant war ein räuberischer Spaziergang, ein Blitzkrieg mit fetter Beute, bestehend aus strategisch wichtigen Rohstoffen und 33 Millionen Hektaren Ackerfläche, aus Seehäfen, Fabriken und Immobilien, und auch mit Millionen treu ergebener Untertanen. Doch die Ukrainer wollen keine Panzer in ihren Gärten haben und keine fernöstlichen Plünderer in ihren Wohnungen. Sie wollen nicht geknechtet und nicht mit Sprech- und Sprachverboten eingeschüchtert werden und nicht rechtlos in einem unerbittlichen Staatswesen leben. Mehr als 300 Jahre russischer Kolonialgeschichte waren für sie eine blutige Lehrzeit, mit unzähligen von Moskowitern angeordneten Massenmorden und Massendeportationen.

Gemessen an den eigenen überheblichen Ansprüchen, ist der Krieg für Russland ein Fiasko.

Statt mit Blumen und Brot und Salz begrüssten die Ukrainer die russländischen Okkupanten mit Bayraktar-Drohnen, Javelin-Panzerabwehr-Lenkwaffen und mit Bandera-Smoothies, früher und in anderen Ländern Molotowcocktails genannt. Die Ukrainer vermochten trotz mehrfacher materieller Unterlegenheit den russländischen Invasoren so lange standzuhalten, weil freie Menschen kreativer sind als Sklaven, die alles nur machen, weil man es ihnen befiehlt. Auch hat man im westlichen Ausland keine Vorstellung davon, was es bedeutet, dass Ukrainer bestens Russisch verstehen, all die Flüche, Verleumdungen, Beleidigungen, die gegen sie im russischen Staatsfernsehen tagtäglich ausgestossen werden.

Gemessen an den eigenen überheblichen Ansprüchen, ist der Krieg für Russland ein Fiasko. Die minimalen strategischen Erfolge an den Fronten in der Ukraine lösen schon lange keine Begeisterung mehr aus, weder in der Bevölkerung noch bei den Propagandisten im Staatsfernsehen, das Ziel einer Unterwerfung der Ukraine ist weiter entfernt als jemals zuvor.

Inzwischen reicht die Kampfkraft des Militärs nicht einmal für die Verteidigung des eigenen Landes. Fast jede Nacht gelingt es den Ukrainern, tief im russländischen Hinterland Munitions- und Kraftstofflager zu zerstören sowie Flughäfen und Militärbasen zu beschiessen. Noch im Frühjahr verkündete Putin die Einrichtung eines Cordon sanitaire in der Ukraine, einer Schutzzone gegen ukrainische Angriffe, nun richten die Ukrainer eine solche Zone nordöstlich von Charkiw in Russland ein.

Und am Horizont drohen weitere Schrecken, so der Einsatz der neu entwickelten Raketen-Drohne Paljanizja, einer Eigenproduktion der Ukrainer, mit der sie laut Präsident Selenski auch weit entfernte russische Flugplätze viel effektiver als bisher bekämpfen können – und in deren Reichweite auch Moskau und St. Petersburg liegen.

Der in Regierung und Geheimdiensten gut vernetzte ukrainische Journalist Dmitry Gordon prognostiziert, dass die Ukrainer den Russen bald demonstrieren werden, wie weit die Paljanizja fliegen kann. Je ein wirksamer Treffer auf lohnende Ziele in Piter und Moskau, so Gordon, dann folgt an die Okkupanten ein Ultimatum: Entweder ihr verzieht euch nach Hause – oder «die wichtigsten Ereignisse des Krieges liegen noch vor uns».

«Was machen sie in meinem Land?»

Die Propagandisten im Staatsfernsehen bekommen regelmässig Schnappatmung, wenn sie über die «Unverschämtheit» der Ukrainer reden, nach Russland einmarschiert zu sein. «Was machen sie in meinem Land?», schreit Solowjow im Studio. Man habe einfach keinen Respekt mehr vor Russland! Alle Welt müsse doch zittern, wenn der Kriegsherr im Kreml drohe. Das mag im Westen funktionieren, wo kaum jemand Russlands innere Schwächen beurteilen kann und die meisten Meinungsmacher sowieso kein Russisch verstehen. Aber die Ukrainer kennen die russische Welt, diese atemberaubende Mischung aus Gleichgültigkeit, Unfähigkeit, Alkoholismus und Selbstbetrug.

Kaum waren ukrainische Kämpfer in Richtung Kursk auf russisches Gebiet vorgerückt, ergriffen die Exponenten des Regimes als Erste die Flucht und liessen Kranke und Invalide schutzlos zurück. Nirgendwo bilden sich von allein territoriale Verteidigungskräfte wie in der Ukraine. Und Passanten in Moskau antworten bei Strassenumfragen auf die Frage, warum es sie nicht aufrege, dass die Ukraine nach Russland vorgestossen sei, die Menschen seien halt eben müde vom Krieg. Wäre der Sold nicht so hoch, wäre kaum jemand bereit, für Putins Regime zu kämpfen. Schon Prigoschins Aufstandsversuch führte zu nichts weiter als zu Lethargie. Putin traut seinem Militär nicht, deshalb muss ein Geheimdienstler den Versuch der Gegenoffensive in Kursk leiten.

Und das Vorgehen der Ukrainer in Kursk ist auch eine Modellübung in Sachen zivilisierter Soft Power – die russische Zivilbevölkerung wird von den vorrückenden ukrainischen Einheiten nachgerade verhätschelt und ist dementsprechend des Lobes voll. Es handelt sich insofern auch um einen Propagandafeldzug: Krieg geht auch ohne Hass und Zerstörung.

Psychologische Kriegsführung beherrschen die Ukrainer in ihren erfolgreichen Hacker-Angriffen auf russische «Heiligtümer». Sie führen die russische Technologie und Infrastruktur als unzulänglich vor, mit Angriffen auf den Bankensektor, auf Internetprovider, auf Web-Ressourcen der regionalen Verwaltung, auf Flughäfen, staatliche Institutionen und private Unternehmen.

Ein Running Gag in den sozialen Netzwerken geht wie folgt: Wenn für Russland alles nach Plan läuft, wie der illegitime Präsident fortwährend behauptet, dann muss diesen Plan ein Verrückter geschrieben haben. Dieser Verrückte beklagt sich gerne darüber, dass er vom Westen verraten worden sei, aber genaugenommen wurde er von seiner eigenen Basis verraten. Die ihm versprochenen Wunderwaffen existierten entweder gar nicht oder sind nicht so wundersam wie behauptet.

Der im Exil lebende russische Politikwissenschafter Abbas Galljamow, einst Putins Redenschreiber, weiss weiter. «Und die Wunderhelden holen auch keine Sterne vom Himmel; weder die Fallschirmjäger noch Spezialeinheiten, noch Kadyrows Männer konnten den Sieg sichern. Die Generäle berichten Putin natürlich, dass im Gegensatz zu alldem die Atomwaffen in einem völlig anderen Zustand seien – sie sind brandneu, geölt und einsatzbereit, nicht alt, verrostet und geplündert. Aber man müsste schon ein Narr sein, um den Generälen zu glauben, nach dem, was passiert ist.»

Dysfunktionaler Staat

Auch das rhetorische Herumfuchteln mit den sowjetischen Nuklearwaffen ist ein Ausdruck von militärischer Schwäche, worauf ukrainische Entscheidungsträger wie der Chef des Militärgeheimdienstes Kirilo Budanow nicht müde werden hinzuweisen. Könnte der kollektive Putin auf «konventionelle» Weise seine mörderischen Ziele erreichen, so hätte er nukleare Drohungen nicht nötig. Auch gibt es keine strategisch sinnvollen Ziele für taktische Atomwaffen.

Die Befürworter des Einsatzes von Nuklearwaffen in Russland wissen genau, dass sie damit die Büchse der Pandora öffnen würden, weil in der Folge viele Länder der Erde nach nuklearer Bewaffnung streben würden, was Russlands Macht und Drohpotenzial radikal entwerten würde. Die Drohungen mit der Apokalypse vermögen zwar viele Leute im schlafwandlerisch agierenden und konzeptionslos taumelnden Westen einzuschüchtern, sie haben aber den unerwünschten Nebeneffekt, auch die russländische Bevölkerung zu verängstigen und ihre Verteidigungsbereitschaft zu lähmen. Denn wozu soll man mit herkömmlichen Waffen kämpfen, wenn man nur mit dem Einsatz von Atombomben «gewinnen» kann?

Den Ukrainern wird der Spott leichtgemacht: Alles ist stabil, alles läuft nach Plan, Genossen! Alles sei in Ordnung, erzählt der Gouverneur der getroffenen Region Igor Rudenja vor der Kamera, während man im Hintergrund Explosionsgeräusche hört. Das Luftverteidigungssystem des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation habe funktioniert, die unbemannten Flugkörper seien abgeschossen worden. Es sei nur zu einem Brand gekommen, als sie abstürzten.

Tatsächlich war es der bisher erfolgreichste Angriff der Ukrainer auf ein Munitionsdepot, in dem schätzungsweise 30 000 Tonnen Munition und Waffen lagerten. Die Explosion wurde von Messstationen wie ein kleines Erdbeben registriert. Dabei war die Anlage in Toropez erst 2018 renoviert worden und sollte sogar einem Atomangriff standhalten.

Bleibt als Fazit: Russland ist ein Potemkinscher Staat im Modus der Selbstzerstörung, seine wichtigsten Stärken sind nur vorgetäuscht.

Der Schriftsteller Christoph Brumme, 1962 im ostdeutschen Wernigerode geboren, lebt seit 2016 in der ostukrainischen Stadt Poltawa. 2019 ist erschienen: «111 Gründe, die Ukraine zu lieben. Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt».