NZZ, 14.1.2021: Idealisten und Realisten – Europas Blick auf die US-Aussenpolitik

Welchem der Herren würden Sie welche Note geben? Die Ex-Präsidenten Jimmy Carter, Bill Clinton, Barack Obama und George W. Bush, 2013.

Wiederholt sich 2008? Wird in Europa erneut ein amerikanischer Präsident der Demokraten mit Erwartungen und Hoffnungen geradezu überfrachtet? Vorbei war all der Optimismus schon nach der ersten Amtszeit von Barack Obama 2012, zu ernüchternd wirkte seine Zwischenbilanz – nicht zuletzt in der Aussen- und der Sicherheitspolitik: Sein Versprechen, das Gefangenenlager Guantánamo zu schliessen, hielt er nicht. In Afghanistan erhöhte er den militärischen Einsatz massiv und bestimmte zugleich einen Rückzugstermin – die Folge: Irritationen und Frustrationen bei den Verbündeten sowie Genugtuung und Ermutigung aufseiten von Taliban und al-Kaida.

In Libyen stimmte Obama erst einer Intervention zu, beteiligte sich dann aber nur halbherzig, was den Krieg unnötig in die Länge zog und die Zahl der Opfer deutlich erhöhte – mit destabilisierenden Folgen bis heute. In Syrien und im Irak wiederholte sich dieses Verhalten in ähnlicher Weise. Die Konsequenz nicht nur für die Region, sondern auch für das angrenzende Europa: die grösste Flüchtlingskrise seit den Balkankriegen in den neunziger Jahren – mit ebenfalls destabilisierenden Folgen bis heute, nicht zuletzt durch innenpolitische Verwerfungen in den Mitgliedstaaten und in einem Staat, der nun nicht mehr Mitglied der Europäischen Union ist. Grossbritanniens Abschied wird auch auf den europäischen Umgang mit der Flüchtlingskrise zurückgeführt.

Obamas sehr gemischte Bilanz

Damit hatte sich Barack Obama in die Riege der Präsidenten der Demokratischen Partei eingereiht, die weder in Amerika noch in Europa die hohen Erwartungen an sie zu erfüllen wussten – und dies trotz so manchen Erfolgen zwischen 2009 und 2017: daheim hohe Wachstumsraten der Wirtschaft nach der Finanzkrise, mehr als 14 Millionen neue Arbeitsplätze, Senkung des Haushaltsdefizits um eine Billion Dollar, Obamacare. Auf internationaler Ebene kamen das Freihandelsabkommen TTP, das Atomabkommen mit Iran, die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Kuba, der Friedensvertrag in Kolumbien, die Stärkung der Nato gegenüber Russland in Osteuropa als Reaktion auf Moskaus Krieg gegen die Ukraine, die Tötung von Usama bin Ladin und die schrittweise Zurückdrängung des IS im Irak und in Syrien hinzu.

Durch die verfehlte Politik der Clinton-Administration haben es Amerikaner heute ungleich schwerer, sich gegenüber China zu behaupten.

Die heute dennoch als sehr gemischt wahrgenommene Bilanz von Obama – die Wahl von Donald Trump zu seinem Nachfolger wird ein schweres Erbe seiner beiden Amtszeiten bleiben – setzt dabei eine lange Tradition im transatlantischen Verhältnis fort. So fallen seit dem Zweiten Weltkrieg die aussenpolitischen Bilanzen der amerikanischen Präsidenten aus europäischer Perspektive keineswegs zugunsten der Demokraten aus. Vielmehr verteilen sich Erfolge wie Misserfolge auf beide Parteilager.

Auf der Seite der Republikaner haben sich Dwight D. Eisenhower, Richard M. Nixon, Ronald W. Reagan und George W. Bush senior grosse Verdienste um Europa erworben. Unter Eisenhower wurde die Bundesrepublik in die Nato aufgenommen und damit auch sicherheitspolitisch fest im Westen integriert. Es war allerdings ebenfalls die Eisenhower-Administration, die den Putsch gegen Irans demokratischen Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh 1953 inszenierte, als dessen langfristige Gegenreaktion die Islamische Revolution 1979 und damit der weltweite Aufschwung des radikalen jihadistischen Islams auch sunnitischer Prägung gelten.

Wiederum schuf Nixons Politik der Abrüstung und der Entspannung gegenüber Moskau und Peking den Rahmen für Willy Brandts Ostpolitik. Er war der erste US-Präsident, der zu Staatsbesuchen in die Sowjetunion und die Volksrepublik China reiste. Im Gedächtnis der Europäer ist sein Name allerdings bis heute stärker mit der Watergate-Affäre und mit Interventionen in Lateinamerika wie der Unterstützung des Militärputsches in Chile von 1973 verknüpft. Die Erinnerung an seinen Nachfolger ist in Europa beinahe vollkommen verblasst. Dabei setzte Gerald R. Ford die Entspannungspolitik Nixons erfolgreich fort. In seine Amtszeit fallen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR, die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki und der Abschluss des von Nixon begonnenen Rückzugs aus Vietnam.

Reagan verschärfte dann mit neuen Waffenprogrammen in der Endphase des Wettrüstens die ökonomische Krise des Warschauer Pakts, von der sich dieser bis zu seinem Zerfall nicht mehr erholen sollte. Hierzu trugen auch Reagans durch Radio Free Europe in den Ostblock übertragene Reden bei, die dort neue Hoffnung auf Änderung der politischen Verhältnisse weckten. Gestärkt wurde diese durch Reagans Abrüstungsinitiativen mit Michail Gorbatschow, die im Vertrag zur Abschaffung der amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenraketen in Europa gipfelten – zwei Jahre vor dem Fall der Mauer.

In der Folge gewann der Westen nicht nur den Kalten Krieg, sondern auch die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas. In der europäischen Erinnerung ergeht es Reagan jedoch eher wie Nixon: Fällt sein Name, geht es meist um die Unterstützung antikommunistischer Militärdiktaturen wie in El Salvador oder verdeckte Kriege wie in Nicaragua. Es wird dann an die Iran-Contra-Affäre, an die Invasion in Grenada, an die Hilfe für Saddam Hussein in seinem Krieg gegen Iran und nicht zuletzt an die Förderung von Jihadisten im afghanischen Krieg gegen die sowjetischen Okkupanten erinnert.

Kluge Reaktion auf «1989»

Bush senior gilt zwar zusammen mit Helmut Kohl als Architekt der deutschen Einheit. Seine Politik im Zuge der Zeitenwende 1989/90 wird als äusserst klug beschrieben, da er sich jeglicher triumphaler Geste gegenüber der Sowjetunion und Gorbatschow enthielt, als das gewaltlose «Nation Building» der USA in Osteuropa einen nur von wenigen erwarteten Sieg errang. Auch blieb er demonstrativ gelassen, als Kohl im November 1989 ohne Abstimmung mit dem Weissen Haus seinen Zehn-Punkte-Plan zur Vereinigung Deutschlands und Europas verkündete.

Aber zu einem wirklich hohen Ansehen in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit hat Bush senior all dies nicht verholfen. Bei ihm verhält es sich ähnlich wie bei Nixon und Reagan. Auch sein Bild bei den Europäern ist geprägt von Ereignissen, die sich fernab von Europa zutrugen. Vor allem Kriege der USA seit 1945 haben zu grossen Imageverlusten der Amerikaner bei den Europäern geführt. Erntete Nixon mit der Ausweitung des Vietnamkrieges auf Laos und Kambodscha scharfe Kritik, wurden Vater und noch stärker Sohn Bush für ihre Feldzüge gegen Saddam Hussein gescholten. Dabei hatte Bush senior in der Kriegführung gegen den Aggressor Irak 1990/91 die USA souverän und umsichtig als vorläufig einzig verbliebene Weltmacht positioniert – gegenüber Feind wie Freund. So schuf er mit viel diplomatischem Geschick nicht nur eine internationale Allianz zur Befreiung Kuwaits, sondern entschied sich auch im Gegensatz zu seinem Sohn weitsichtig gegen die Option, den Irak zu erobern und einen neuen Staat aufzubauen, da er seine Heimat damit für überfordert hielt.

Auf der Seite der Demokraten wiederum konnte vor allem Harry S. Truman nachhaltige Erfolge in Europa erzielen. Nicht nur rettete er Westberlin mit der Luftbrücke, sondern legte mit der Währungsreform und dem Marshall-Plan zugleich wichtige Grundlagen für das deutsche Wirtschaftswunder.

Die Falle Vietnam

Zwar wird mit John F. Kennedy die erfolgreiche Krisenpolitik in der Kubakrise 1962 verbunden. Aber es war ebenfalls Kennedy, der das militärische Engagement seines Landes in Vietnam begann, obwohl das französische Scheitern im Indochinakrieg zuvor Warnung genug hätte sein müssen. Und anstatt die bereits zum Zeitpunkt von Kennedys Ermordung nicht erfolgreiche Vietnam-Politik zu revidieren, erhöhte Lyndon B. Johnson von Jahr zu Jahr die Zahl der Truppen in Indochina – mit verheerenden Folgen für das Ansehen Amerikas auch in Europa. Auf der Habenseite bei den europäischen Verbündeten kann dagegen die Gründung der Nuklearen Planungsgruppe der Nato unter Johnson 1966 verbucht werden, um die politische Kontrolle über die Nuklearwaffen und ihre Einsatzszenarien gemeinsam von Amerikanern und Europäern ausüben zu lassen und dadurch einem bis heute bestehenden Streitthema zumindest ein Diskussionsforum zu schaffen.

Dagegen gilt die Präsidentschaft von Jimmy Carter allgemein als überwiegend gescheitert. Zwar gelangen ihm Erfolge in der Nahostpolitik wie das Camp-David-Abkommen 1978 und der Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel 1979. Aber in seine Amtszeit fielen ebenso die iranische Revolution und das Desaster der misslungenen Befreiung der amerikanischen Geiseln in der Teheraner Botschaft. Auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan reagierte Carter mit einer Doktrin, die Amerikas Politik im Nahen und Mittleren Osten militarisierte und die Region nachhaltig destabilisierte, auch wenn er der bisher einzige Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg war, unter dem die USA zumindest in keine offenen kriegerischen Auseinandersetzungen verwickelt waren.

Donald Trump ist es hingegen nur gelungen, keinen neuen Krieg zu beginnen, er sah sich aber gezwungen, die von seinen Amtsvorgängern begonnenen Waffengänge gegen den IS in Syrien und gegen die Taliban in Afghanistan fortzusetzen. Dafür gelang seiner Administration die Vermittlung von Bündnissen zwischen Israel und den arabischen Nachbarn – auch dadurch ordnet sich der Nahe Osten heute neu.

Ein übersehenes Desaster

Bill Clinton und Barack Obama verhielten sich zwar ebenfalls zurückhaltend bei der Entsendung von Bodentruppen in neue Kampfeinsätze, griffen aber dafür immer wieder zu Luftangriffen, um gegen feindliche Regime und Terroristen vorzugehen – eine Strategie, die sich langfristig gleichfalls als wenig erfolgreich erwies, ob im Nahen Osten, am Hindukusch, in Afrika oder auf dem Balkan. Auch insgesamt erscheint Clintons aussenpolitische Bilanz durchwachsen. Erfolge waren der Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien, das Abkommen von Dayton zur Beendigung des Bosnienkrieges, handelspolitische Schritte wie der Abschluss der von der Regierung Bush senior übernommenen Nafta-Verhandlungen, die Gründung der Welthandelsorganisation sowie die Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls. Somalia und Rwanda hingegen stehen für Clintons Scheitern. Auch seine Bemühungen um eine Aussöhnung mit China, eine Demokratisierung Russlands und eine Annäherung zwischen Israeli und Palästinensern hatten keinen nachhaltigen Erfolg.

Erstaunlich ist, dass sich Clinton im kollektiven Gedächtnis der Europäer weiterhin einer grossen Beliebtheit erfreut, obwohl er nicht nur den völkerrechtlich umstrittenen Angriffskrieg der Nato gegen Serbien 1999 anführte, sondern auch wesentliche Ursachen der letzten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise vor der Corona-Krise in seiner Politik der Deregulierung begründet liegen – ein Desaster historischen Ausmasses für Amerika wie für Europa mit gravierenden Folgen für ihre politische wie wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit im 21. Jahrhundert. Durch diese verfehlte Politik der Clinton-Administration haben es Amerikaner wie Europäer heute ungleich schwerer, sich gegenüber dem Wiederaufstieg Asiens und vor allem Chinas zu behaupten.

Umso mehr bleibt nun für die Europäer nur zu hoffen, was bereits vor Obamas Wiederwahl 2012 galt: dass der neue amerikanische Präsident sein Augenmerk nicht gänzlich auf den pazifischen Raum richtet. Denn noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte das Weisse Haus seinen europäischen Partnern so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wie unter dem ersten selbsternannten «pazifischen Präsidenten» Obama.

Wird sich dies unter seinem ehemaligen Vizepräsidenten ändern? Zumal man schon jetzt in Europa davon ausgeht, dass Joe Biden ähnliche Interessen Amerikas vertreten wird wie Trump – in Fragen des gemeinsamen Handels und der gemeinsamen Verteidigung, des Auftretens gegenüber China und Russland. Lediglich im Tonfall dürfte es freundlicher werden. Darüber sollte auch die von Biden angekündigte Rückkehr in das Atomabkommen mit Iran, das Pariser Klimaabkommen und in die Weltgesundheitsorganisation nicht hinwegtäuschen.

Thomas Speckmann ist Historiker, Politikwissenschafter und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.