«Russland will die Ukraine schützen»

Weltwoche, Guy Mettan, 3.7.2022

Wie beurteilt der Kreml die Strategie des Westens? Wie schätzt man in Moskau die Politik der Schweiz ein? Ist baldiger Friede möglich? Vor der Lugano-Konferenz, die ohne Russland stattfindet, legt Top-Diplomatin Maria Sacharowa die russische Sicht der Dinge dar.

Nach vier Monaten Krieg in der Ukraine ist die russische Seite im Westen kaum zu Wort gekommen. Auch an der Ukraine-Konferenz in Lugano, die nächste Woche stattfindet, wird Russland abwesend sein.

Dabei ist es wichtig zu verstehen, was Russland zum Angriff auf die Ukraine veranlasste, welches seine Ziele sind, zu welchen Bedingungen die Kampfhandlungen beendet werden könnten und welche Auswirkungen der Krieg aus russischer Sicht auf die Welt sowie die Umgestaltung der Weltordnung hat. Verstehen ist nicht gleichbedeutend mit Rechtfertigen, aber Verstehen ist Voraussetzung für die Wiederherstellung von Frieden und Vertrauen.

Aus diesem Grunde haben wir die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, die Diplomatin Maria Sacharowa, gebeten, unsere Fragen im Rahmen eines neunzigminütigen Gesprächs zu beantworten. Die Begegnung fand am Samstag, 12. Juni, in St. Petersburg statt.

Weltwoche: Frau Sacharowa, wo liegen die Hauptgründe für die gegenwärtigen militärischen Handlungen in der Ukraine?

Maria Sacharowa: Lassen Sie mich ganz vorn beginnen. Im Februar 2014 katapultierte ein von westlicher Seite unterstützter verfassungswidriger Staatsstreich gewalttätige Nationalisten an die Macht. Diese begannen eine gegen ihr eigenes Volk gerichtete Politik zu praktizieren und strebten die Zwangsukrainisierung und Zerstörung all dessen, was russisch war, an. Acht Jahre lang verletzte das Kiewer Regime in eklatanter Weise Menschenrechte, trat die Meinungs- und Medienfreiheit mit Füssen, bekämpfte sowohl die russische Sprache, welche die Muttersprache mehrerer zehn Millionen von Ukrainern ist, als auch die russische Kultur und vernichtete politische Gegner. Im Donbass wurde ein Bürgerkrieg entfacht, und der vereinbarte, vom Uno-Sicherheitsrat verabschiedete Friedensplan, das heisst das zur Umsetzung der Minsker Abkommen bestimmte Massnahmenpaket, wurde von Kiew vollständig ignoriert und übergangen. Der Westen sah darüber hinweg; vielmehr übte er Nachsicht gegenüber seinen ukrainischen Protégés und bestärkte sie bisweilen weiter in ihrer Gesinnung.

Weltwoche: Will heissen?

Sacharowa: Ermutigt durch diese Unterstützung, hielt Kiew niemals ernsthaft inne, um eine diplomatische Lösung des Konflikts im Osten des Landes in Betracht zu ziehen. Stattdessen verhängte Kiew eine Transport- und Wirtschaftsblockade gegen den Donbass und stellte die Zahlung von Renten und Sozialleistungen ein. In all diesen Jahren waren die Menschen in den Volksrepubliken Donezk und Luhansk dem Artillerie- und Mörserfeuer der ukrainischen Streitkräfte und nationalistischen Einheiten ausgesetzt. Tausende unschuldige Menschen, darunter Kinder, wurden getötet und Tausende verletzt, wie offizielle Berichte der OSZE und der Vereinten Nationen bestätigen. Offensichtlich haben Washington und seine Verbündeten die Ukraine ab 2014 für Vergeltungsmassnahmen im Donbass gerüstet. Nach Angaben des Pentagon liessen die Vereinigten Staaten der Ukraine zwischen 2014 und dem Beginn der militärischen Spezialoperation 2,7 Milliarden Dollar an Militärhilfe zukommen. Darüber hinaus dehnte das Nato-Militär seine Präsenz auf ukrainischem Gebiet grossflächig aus. Westliche Ausbilder unterwiesen ukrainische Soldaten, darunter auch offensichtliche Neonazis. Die Zahl der in der Ukraine unter Beteiligung von Nato-Ländern abgehaltenen Militärübungen nahm stetig zu.

Weltwoche: Ab wann? In welchem Umfang?

Sacharowa: Im Jahr 2021 fanden sieben Übungen statt; für 2022 waren neun anvisiert. Auch die Grössenordnung der Übungen wurde ausgeweitet. Nahmen im letzten Jahr 21 000 ukrainische Soldaten an multilateralen Übungen teil, so wurde für dieses Jahr eine Beteiligung von 40 000 Soldaten erwartet. Ferner wurde davon ausgegangen, dass die Zahl der Nato-Repräsentanten von 11 000 im letzten Jahr auf nunmehr 22 000 anwachsen würde. Das Arsenal an militärischer Ausrüstung wurde auf vielfältige Weise vergrössert: Der derzeitige Bestand beläuft sich auf 240 Flugzeuge und Helikopter, gegenüber 37 im letzten Jahr, und auf 160 Kriegsschiffe, gegenüber 26 im Jahr 2021. Und das trotz der Tatsache, dass die Präsenz ausländischer Streitkräfte in der Ukraine in direktem Widerspruch zu Paragraf 10 des Minsker Massnahmenpakets stand.

Weltwoche: Wie werten Sie die Übungen?

Sacharowa: Dieser Sachverhalt kann nicht anders bezeichnet werden denn als Intervention, als Einmischung, und sie fand in der unmittelbaren Nähe unserer Grenzen statt. Der militärische Aufmarsch der Nato in der Nähe unserer Grenzen im Schwarzen Meer verschärfte die Situation einmal mehr. Die Streitkräfte waren buchstäblich im Gefechtseinsatz. Kriegsschiffe überregionaler Mächte, insbesondere der USA, verliessen diese Gewässer zu keinem Zeitpunkt. Mehrere Nato-Länder führten in der ersten Novemberhälfte 2021 ausserplanmässige Übungen unter dem Kommando der 6. US-Flotte durch. Tatsächlich bereiteten die USA den Weg für den Aufbau einer multinationalen Truppe von Nato-Streitkräften in der Ukraine und destabilisierten so die Lage in der Region. Die Bestrebungen Kiews zur Erlangung von Nuklearwaffen, welche Wolodymyr Selenskyj im Februar zum Ausdruck brachte, stellten ebenfalls eine schwerwiegende Gefahr für die internationale Sicherheit dar.

Weltwoche: Wie reagierte Russland?

Sacharowa: All das führte am 21. Februar 2022 zur Anerkennung der Volksrepublik Donezk (DNR) und der Volksrepublik Lugansk (LNR) als souveräne, unabhängige Staaten durch Russland. Der russische Präsident traf sodann die Entscheidung zur Einleitung einer militärischen Spezialoperation in der Ukraine am 24. Februar 2022; dies geschah im Einklang mit Artikel 51 der Uno-Charta, ferner mit Zustimmung des Föderationsrates der Föderationsversammlung der Russischen Föderation sowie auf Verlangen der Führer der DNR und der LNR. Wir hatten keine andere Wahl. Die Haupt- und Etappenziele der militärischen Spezialoperation bestanden in der Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine, im Schutz der Donbass-Zivilbevölkerung vor einem Völkermord sowie in der Beseitigung der aufgrund der Inanspruchnahme ukrainischen Gebiets durch die Nato-Länder von ukrainischem Gebiet ausgehenden Bedrohung Russlands.

Weltwoche: Welche Hauptziele verfolgt Russland zurzeit in der Ukraine? Die Rede ist von «Entnazifizierung», «Entmilitarisierung» und «Neutralisierung». Was heisst das genau?

Sacharowa: Hierzu möchte ich als Erstes eine grundsätzliche Berichtigung vornehmen. Sie nannten so etwas wie Neutralisierung als eines der Ziele der militärischen Spezialoperation. Das ist nicht der richtige Begriff. Was wir meinen, ist die Wiederherstellung des Status der Ukraine im Sinne eines neutralen, blockfreien und nuklearwaffenfreien Staates; das heisst, wir streben die Rückkehr der Ukraine zu den Ursprüngen ihrer Staatlichkeit nach Massgabe ihrer Staatssouveränitätserklärung aus dem Jahr 1990 an. Und was die Entnazifizierung angeht, so möchte ich Sie daran erinnern, dass im Jahr 2014, als die radikalen Nationalisten infolge des verfassungswidrigen Staatsstreiches die Macht an sich gerissen hatten, die Glorifizierung der Nazi-Kollaborateure aus der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) – die ganz offen Juden, Roma, Polen, Russen sowie Vertreter anderer ethnischer Gruppen, ausserdem die «falschen» Ukrainer im Zweiten Weltkrieg ermordeten – auf gesamtstaatlicher Ebene ihren Anfang nahm.

Weltwoche: Könnten Sie das bitte ausführen?

Sacharowa: In den darauffolgenden acht Jahren wurden die Gräueltaten der Kämpfer der OUN/UPA, die Tausende Zivilisten töteten, als Freiheitskampf dargestellt. Strassen und Stadien wurden nach Hitlers Komplizen benannt, wie zum Beispiel nach Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch. Nazi-Einheiten – der Rechte Sektor, C14, Tryzub, Asow, Donbass, Aidar etc. – konnten im Land offen agieren; es fanden Fackelumzüge statt, mit denen die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken versetzt wurde. Einige dieser Einheiten wurden in die ukrainischen Streitkräfte integriert. Acht Jahre lang bombardierten sie Gemeinden und die zivile Infrastruktur; sie plünderten, vergewaltigten und töteten. An ihren Händen klebt das Blut von Zivilisten – von unseren Zeitgenossen. Die Nazis hatten freie Hand.

Weltwoche: Dem wollte Präsident Wladimir Putin Einhalt gebieten?

Sacharowa: Richtig. Aus diesem Grunde erklärte er die Entnazifizierung – die Ausrottung des Nazismus und der Nazis – zu einem der Ziele der militärischen Spezialoperation. Russland hegt keinerlei Pläne oder Absichten dahingehend, die ukrainische Nation zu zerstören, wie die westliche Propaganda es darzustellen bemüht ist; vielmehr will Russland die Ukraine schützen, indem sie das ukrainische Volk, Russland und den Rest Europas von der braunen Pest namens Nazismus und Faschismus befreit, die sich in der Ukraine offenbarte. Die entsetzlichen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg liessen keinen Zweifel an der Notwendigkeit dieses Handelns. Die Entmilitarisierung der Ukraine ist nun im Gange. Die russischen Streitkräfte vernichten gemeinsam mit den Volksmilizen der DNR und der LNR konsequent die unverhältnismässig zahlreich im Besitz der Ukraine befindlichen Waffen und Ausrüstungsgüter, einschliesslich des aus dem Ausland gelieferten Materials. Wir sind der Überzeugung, dass die Ukraine zukünftig – ich wiederhole – ein neutraler, nuklearwaffenfreier und blockfreier Staat sein wird und dass ihr Gebiet nicht länger als Nato-Übungsgelände zur Abschreckung Russlands und zur Konfrontation mit Russland dienen wird.

Weltwoche: Ende März dieses Jahres haben beide Seiten in Istanbul verkündet, dass wesentliche Fortschritte in den Friedensverhandlungen erzielt worden seien. Im Anschluss – nach Verlagerung beziehungsweise Abzug der russischen Streitkräfte von Kiew und nach den Geschehnissen in Butscha – wurden die Verhandlungen wieder eingestellt. Weshalb? Worin lag diese Unterbrechung begründet?

Sacharowa: Ja, wir hatten bei der Zusammenkunft am 29. März in Istanbul eine gewisse Verständigung über den Rahmen einer möglichen Einigung oder Vereinbarung erzielt. Die Vertreter des Kiewer Regimes äusserten dann, dass sie Beratungen mit westlichen Ländern begonnen hätten, die im Kontext einer zukünftigen Einigung beziehungsweise Vereinbarung als Garanten fungieren könnten. Danach gerieten die Verhandlungen ins Stocken und kamen Mitte April zum Erliegen. Auf unser Vorschlagspaket vom 15. April erhielten wir keine Antwort. Westliche Berater hatten Wolodymyr Selenskyj klar untersagt, die Verhandlungen fortzuführen, denn das hätte sie ja daran gehindert, Waffen in die Ukraine zu pumpen und mit Russland einen Stellvertreterkrieg «bis zum letzten Ukrainer» zu führen.

Weltwoche: Zu welchen Bedingungen könnte Russland einer Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der Ukraine zustimmen?

Sacharowa: Wir haben wiederholt darauf hingewiesen, dass wir die Gespräche nicht abgebrochen haben und dass wir Verhandlungen mit Kiew auch nicht ablehnend gegenüberstehen. Unser vorrangiges Bestreben für die Ukraine liegt darin, dass sie zu einem neutralen, blockfreien und nuklearwaffenfreien Staat wird, dass die nach 2014 eingetretene territoriale Realität anerkannt wird, einschliesslich der russischen Souveränität über die Krim sowie der Unabhängigkeit der DNR und der LNR, ferner dass die Verpflichtung zur Entmilitarisierung, Entnazifizierung und Nichtdiskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung erfüllt wird und dass der Status der russischen Sprache wiederhergestellt wird. Was das Zustandekommen eines Spitzengesprächs angeht, so haben wir mit Nachdruck wiederholt darauf hingewiesen, dass ein solches Gespräch akribisch vorbereitet werden muss, damit eine sinnvolle Agenda vorliegt und die Unterzeichnung spezifischer Vereinbarungen zielführend erleichtert wird. Eine Zusammenkunft um der Zusammenkunft willen brauchen wir nicht.

Weltwoche: Wie könnte die Zukunft einer neuen friedlichen Ukraine aussehen, und wie könnte man dorthin gelangen? Mit welchen Sicherheitsgarantien sowohl für die Menschen im Donbass als auch in der Westukraine und – entlang einer global ausgerichteten strategischen Perspektive – auch für Russland?

Sacharowa: Die endgültige Entscheidung über die Zukunft des Landes und über die die Selbstbestimmung seiner Gebiete betreffenden Fragen liegt allein beim Volk der heutigen Ukraine. Es muss die Gelegenheit erhalten, eine freie Wahl dahingehend zu treffen, welche Zukunft es für sich selbst und seine Kinder wünscht. Wir sehen, dass es in den von den Neonazis aufgegebenen Gebieten, zum Beispiel in den Regionen Cherson, Saporischja und Charkiw, eine Vielzahl von Menschen gibt, die nicht möchten, dass das Kiewer Regime zurückkehrt.

Weltwoche: Die Reaktionen des Westens in Form wirtschaftlicher Sanktionen gegen Russland, militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung der Ukraine sowie massiver Waffenlieferungen kamen ziemlich heftig, schnell und koordiniert. Hat Sie das überrascht?

Sacharowa: Die Verhängung einseitiger wirtschaftlicher Restriktionen gegen andere Staaten stellt eine eklatante Verletzung des Völkerrechts sowie der Uno-Charta dar. Werden Restriktionen unter Umgehung des Uno-Sicherheitsrates eingeführt, so handelt es sich um eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten. Das zu diesem Zweck eingesetzte Instrumentarium weitet sich schnell aus. Der kollektive Westen nutzt diese Instrumente offen, um eine Erschütterung der innenpolitischen Lage herbeizuführen, um ökonomische Strangulierung auszuüben und anderen sein Weltbild aufzuzwingen – unbestreitbar und unwidersprochen, basierend auf und geleitet von seinen eigenen Regeln und Normen. Auf unsere wichtigsten Finanzinstitutionen und auch auf Wirtschaftszweige wie Technologie, Öl und Gas, Bergbau sowie Transportwesen wird zurzeit beispielloser Druck ausgeübt. Die im Ausland lagernden Gold- und Währungsreserven Russlands wurden eingefroren, was eine eklatante Verletzung des Völkerrechts und eine Verhöhnung des gesunden Menschenverstandes bedeutet.

Weltwoche: Russland musste sich komplett neu orientieren.

Sacharowa: Angesichts der massiven Sanktionskampagne gegen unser Land konzentrieren wir uns nun auf die Intensivierung der umfassenden Zusammenarbeit mit unseren Partnern. Diese Kooperation dient der Ermittlung neuer Importsubstitutionsmöglichkeiten in sensiblen Bereichen, ferner der Stärkung unserer technologischen Souveränität sowie der Neuausrichtung von Produktions- und Lieferketten auf unsere inländische Infrastruktur. Dank der verantwortungsvoll und in Verbindung mit systemübergreifenden Lösungen zur Stärkung der Wirtschaft sowie der Technologie- und Lebensmittelsicherheit betriebenen makroökonomischen Politik der letzten Jahre bewältigt Russland die äusseren Herausforderungen mit Selbstvertrauen und Zuversicht. Die Währungs- und Finanzmärkte wurden stabilisiert; weder war ein Produktionseinbruch zu verzeichnen noch eine wesentliche Zunahme der Arbeitslosigkeit. Es ist uns gelungen, Rohstoffengpässe zu vermeiden, und eine Welle von Panikkäufen ist abgeebbt. Die Inflation verlangsamt sich allmählich. Unsere Strategie, die Rolle des Dollar und des Euro im Handel zu schmälern und stattdessen dazu überzugehen, Abrechnungen wechselseitig in nichtwestlichen Währungen vorzunehmen, hat sich als wirksam erwiesen.

Weltwoche: Wie bewerten Sie die Strategie rund um die Wirtschaftssanktionen?

Sacharowa: Der Westen hat sich bei seiner Finanz-, Wirtschafts-, Energie- und Nahrungsmittelpolitik erheblich verkalkuliert. Diese Fehleinschätzungen haben zu einem schnellen Anstieg der Preise und zu einer Bedrohung der globalen Ernährungssicherheit geführt. Die Sanktionen haben noch mehr Öl ins Feuer gegossen und die logistische und vertragliche Abwicklung in Bezug auf russische Agrarprodukte und Düngemittel erschwert. Dass die Lieferung sozial und sozialpolitisch relevanter Waren durch Russland – wie zum Beispiel Nahrungsmittel – für die Länder Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und des Nahen Ostens grosse Bedeutung hat, ist uns bewusst. Diese Lieferungen sind wesentlich für die Erreichung der Ernährungssicherheitsindikatoren sowie für die Erlangung der Uno-Ziele für nachhaltige Entwicklung.

Weltwoche: Was tut Russland?

Sacharowa: Russland ist bereit, mit seinen Partnern darauf hinzuwirken, dass eine ausfallsichere Belieferung externer Märkte mit russischen Nahrungs- und Düngemitteln gewährleistet ist. Wir möchten darauf hinweisen, dass die Russische Föderation trotz objektiv bestehender Transport- und Logistikprobleme ein seriöser, vertrauenswürdiger Weltmarktteilnehmer bleibt. Wir beabsichtigen, unsere im Rahmen internationaler Verträge bestehenden Verpflichtungen zum Export von Agrar- und Industrieprodukten, Düngemitteln, Energie und anderen unverzichtbaren Gütern auch weiterhin zu erfüllen. Tatsächlich läuft das auf einen Wirtschaftskrieg gegen unser Land hinaus. Die Westler verbergen ihre Ziele nicht einmal mehr. Sie möchten der russischen Wirtschaft sowie dem industriellen und technologischen Potenzial Russlands grösstmöglichen Schaden zufügen, die sozioökonomische Situation destabilisieren und Russland auf der Weltbühne isolieren. Nichts davon kam überraschend.

Weltwoche: Nicht?

Sacharowa: Nein. Der von den USA angeführte Westen hat seit langem eine Eindämmungspolitik praktiziert, und der Druck hat sich stetig verschärft. Uns war klar, dass in jedem Fall neue Sanktionen verhängt würden – die finden immer einen Vorwand. Aus dem Umfang und dem detailreichen Gepräge der Sanktionen ist zu ersehen, dass sie lange vorher konzipiert wurden. Russland hat sich zwecks Stärkung seiner ökonomischen Souveränität darauf vorbereitet, durch Implementierung eigener Importsubstitutionsprogramme und durch Schaffung von Kompetenzen in verschiedenen Bereichen.

Weltwoche: Wie schwerwiegend sind die Sanktionen für Russland?

Sacharowa: Was die Bemühungen des Westens angeht, auf unsere Aussenpolitik einzuwirken, so haben sich die Sanktionen als vollkommen wirkungslos erwiesen. Anscheinend erkennen immer mehr Westler, dass diese Sanktionen ein Null-Ergebnis bringen oder sogar einen gegenläufigen Effekt hervorrufen. Wir sehen eine grösser werdende Welle von Problemen in europäischen Ländern, die durch das verantwortungslose Handeln der Brüsseler Strategen entstanden ist: ein schneller Anstieg der Inflation und exorbitante Preiserhöhungen bei Nahrungsmitteln, Dingen des täglichen Bedarfs, elektrischem Strom und Benzin. Darüber hinaus versucht Brüssel unverhohlen, auch Drittländer in seine rechtswidrige Politik hineinzuziehen und bedient sich dabei erpresserischer Mittel.

Weltwoche: Welche Rolle spielt Joe Biden?

Sacharowa: Washingtons wahnhafte Besessenheit bei der Festlegung antirussischer Restriktionen immer grösseren Umfangs hat uns nicht überrascht. Die Amerikaner brachten bereits in früheren Jahren haltlose Gründe vor und griffen zu weit hergeholten Vorwänden, um den auf unser Land ausgeübten wirtschaftlichen Druck zu verstärken. Das Ziel aller Russland auferlegten Sanktionen bleibt nicht verborgen: Es geht darum, die Wirtschaft Russlands zu zerstören sowie die Grundlagen der finanziellen Stabilität und des technologischen Fortschritts von Russland zu untergraben. Diese Situation stellt für Russland in seiner Eigenschaft als souveräner Staat eine systemübergreifende Herausforderung dar. Dadurch, dass Washington die Europäer in dieses gegen Russland gerichtete Unterfangen hineinzog, brachte Washington die Europäer auch in eine Position, in der sie die Hauptlast der Verluste aus dieser sinnlosen und unsinnigen Konfrontation mit uns zu tragen haben.

Weltwoche: Was soll damit erreicht werden?

Sacharowa: Das liegt auf der Hand: Indem die EU in die destruktive Konfrontation mit Russland hineingedrängt wird, soll sie als Rivale geschwächt werden. Gleichzeitig will Washington seine eigene militärische, finanzielle und energetische Präsenz in der Alten Welt stärken. Aber damit nicht genug: Die Vereinigten Staaten gingen noch weiter und brachten die Schweiz, Österreich und auch Schweden auf wundersame Weise zur Aufgabe der von ihnen bis vor kurzem noch aus Tradition so hochgehaltenen Neutralität.

Weltwoche: Warum ist die Ukraine geostrategisch von Bedeutung für Amerika?

Sacharowa: Wenden wir uns nun der Unterstützung der USA für die Ukraine zu. Lassen Sie mich daran erinnern, dass die Regierung von Joseph Biden der Ukraine 13,6 Milliarden Dollar als Militär- und Wirtschaftshilfe zugewendet hat. Kürzlich wurde beschlossen, der Ukraine weitere 40,1 Milliarden Dollar zukommen zu lassen, davon 25 Milliarden Dollar für militärische Zwecke. Diese immense Unterstützung überrascht uns nicht, weil die USA bereits vor Einleitung der militärischen Spezialoperation über einen langjährigen Zeitraum hinweg Milliarden in ihr Ukraine-Projekt investiert hatten. Der Umfang dieser antirussisch geprägten Investitionstätigkeit zeigt deutlich, was für Washington auf dem Spiel steht. Ganz offensichtlich stellen die Vorgänge in der Ukraine die USA selbst und die neoliberale globale Ideologie vor existenzielle Herausforderungen.

Weltwoche: Andererseits standen viele Länder, etwa China, Indien und andere Länder, einer Verhängung von Sanktionen gegen Russland zögerlich bis ablehnend gegenüber. Halten Sie diese Basis für tragfähig? Wird sie die von Ihnen befürwortete multipolare Welt hervorbringen?

Sacharowa: Es liegt auf der Hand, dass sich nun eine demokratische multipolare Weltordnung herausbildet. Das gesamte Gefüge internationaler Beziehungen befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Die unipolare Welt gehört der Vergangenheit an, und dieser Wandel vollzog sich lange vor den Geschehnissen in der Ukraine. Neue Machtzentren in Asien, Afrika, Lateinamerika und dem Nahen Osten spielen bei der Ausgestaltung der globalen Agenda eine zunehmend gewichtige Rolle und zeigen auch Bereitschaft, für ihre Interessen einzustehen und Respekt für ihren eigenen Entwicklungsweg einzufordern. Sind wir jetzt näher dran an der Ländermehrheit? Hier muss man eines verstehen: Wir sind in der Mehrheit. Unsere chinesischen Kollegen zeigten auf einer Landkarte scherzhaft die «internationale Gemeinschaft», auf die sich westliche Führer und Medien ständig berufen. Auf dieser Landkarte sind aber die Länder «China, Indien und verschiedene Länder in Afrika und Lateinamerika» nicht zu sehen.

Weltwoche: Sie sagen, dass der Westen im Namen einer Minderheit spricht?

Sacharowa: Diesbezüglich gibt sich niemand mehr Illusionen hin. Multipolarität läuft der amerikanischen Weltsicht jedoch zuwider, denn Letztere basiert auf dem Grundgedanken bedingungsloser US-Hegemonie. Tatsächlich versucht Washington, die seinen Interessen entsprechenden Bestandteile der alten Weltordnung zu erhalten, wobei es die ihm im Rahmen des Völkerrechts obliegenden Pflichten oft ausser Acht lässt. Die Entstehung neuer politischer Einflusszentren, die eine unabhängige Aussenpolitik verfolgen und miteinander kooperieren, passt nicht in die US-zentrische Vorstellung von der Welt und wird daher als Bedrohung der Vormachtstellung Washingtons gesehen. Russland hat sich stets für den Aufbau einer multipolaren Weltordnung ausgesprochen, in der alle an der internationalen Politik beteiligten Staaten sich nachweislich zu den in der Uno-Charta verbrieften Grundsätzen bekennen, darunter die souveräne Gleichheit, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten sowie weitere völkerrechtliche Normen. Die Entwicklung einer gerechteren globalen Architektur steht im Einklang mit der von der Entstehung neuer wirtschaftlicher und politischer Machtzentren geprägten, dem Geist unserer Zeit entsprechenden Dynamik in Entwicklungsländern, die ihr Recht auf Stärkung ihrer Rolle in internationalen Angelegenheiten geltend machen.

Weltwoche: Unter welchen Bedingungen ist eine Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen und die Wiederherstellung eines normalen Verhältnisses mit den «unfreundlichen» Ländern wie der Schweiz möglich?

Sacharowa: Zunächst möchte ich anmerken, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen Russland und der Schweiz zu keinem Zeitpunkt abgebrochen wurden oder waren. Gleichzeitig hat die Schweizer Eidgenossenschaft unsere Beziehungen jedoch ernsthaft erschwert, indem sie alle antirussischen Sanktionspakete der EU unterstützte, das heisst durch Schliessung ihres Luftraums, Abschaffung der visafreien Reiseregelung für Inhaber von Diplomatenpässen und für offizielle Delegationen sowie Stimmabgabe für die antirussische Resolution bei der Uno-Vollversammlung. Wir stellen mit Bedauern fest, dass der neutrale Status der Schweiz erste Risse aufweist und dass sich diese Entwicklung fortsetzt. Einer der jüngsten Belege hierfür ist der in der Schweiz kürzlich gefasste Beschluss, die Lieferung von Ersatzteilen und Zubehör an ausländische Waffenhersteller zu gestatten, deren fertiggestellte Produkte anschliessend in die Ukraine versandt werden können. Der neutrale Status der Schweizerischen Eidgenossenschaft, auf den sie sich lautstark zu berufen pflegte und auf den sie zu Recht stolz war, wird immer mehr zur Fiktion und zu einem Teil der Vergangenheit. Bedauerlicherweise können die gegenwärtigen Beurteilungen und Ansätze von Bern zur Beilegung des Konflikts in der Ukraine in keiner Weise als neutral oder wohlüberlegt bezeichnet werden. Natürlich wird dieser Aspekt im Dialog mit Bern sowohl in Bezug auf die bilaterale als auch in Bezug auf die internationale Agenda für Russland eine Rolle spielen.

Weltwoche: Da nun Finnland und Schweden Nato-Mitglieder werden möchten, wie könnte die neue Architektur einer zukünftigen europäischen Sicherheitsvereinbarung, die auch Russland mit einschliesst, aussehen?

Sacharowa: Wir halten die Entscheidung Finnlands und Schwedens, der Nato beizutreten, für einen Fehler, da ihre Sicherheit nicht bedroht ist. Der Mythos der militärischen Bedrohung durch das russische Militär wurde diesen Ländern vom nordatlantischen Bündnis und einigen seiner Mitgliedstaaten eingeimpft, allen voran von den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, und zwar mit dem Ziel, den Militärblock noch näher an die Grenze der Russischen Föderation heranzuführen. Wie wir bereits mehrfach dargelegt haben, handelt es sich bei der Wahl des Wegs und des Mittels zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit um das souveräne Recht eines jeden Staates, doch dürfen diese Entscheidungen keinerlei Bedrohung für die Sicherheit anderer Länder schaffen. Die von Russland infolge des Nato-Beitritts von Finnland und Schweden zu ergreifenden Gegenmassnahmen werden von den Bedingungen der Mitgliedschaft dieser Staaten abhängen, unter anderem von der Stationierung ausländischer Militärstützpunkte und Angriffswaffen auf ihrem Hoheitsgebiet.

Weltwoche: Was bedeutet der Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens für die europäische Sicherheit?

Sacharowa: Er wird sie irreparabel schädigen. Er wird auch ihr internationales Ansehen nicht stärken, sondern Helsinki und Stockholm vielmehr der Möglichkeit berauben, in Friedensinitiativen eine Führungsrolle zu übernehmen. Er wird zu einer Militarisierung im Ostseeraum sowie zu einer Eskalation der Spannungen in der Arktis führen. Die Geschichte zeigt, dass es sich bei der Nato weniger um eine Verteidigungs- als vielmehr um eine Angriffsorganisation handelt. Ihre endlose Erweiterung hat die europäische Sicherheitsarchitektur tiefgreifend verändert; durch die Bombardierung Jugoslawiens und den blamablen Einsatz in Libyen hat die Nato diese Länder ins Chaos gestürzt. Das Bündnis hat Afghanistan verwüstet, und nun pumpt es Waffen in die Ukraine. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben wir vor den mit einer Nato-Erweiterung verbundenen Gefahren gewarnt und auf das Erfordernis hingewiesen, Russland als gleichberechtigten Partner zu behandeln und unsere vitalen Interessen zu achten.

Weltwoche: Wie äusserte sich dies?

Sacharowa: Wir haben aktiv Anstrengungen unternommen, eine verlässliche Architektur für eine auf den Grundsätzen der Gleichheit und Unteilbarkeit fussende europäische Sicherheit zu schaffen. Wir sind an die westlichen Länder mit dem Vorschlag herangetreten, einer Verabschiedung der entsprechenden Dokumente zuzustimmen: Darunter befanden sich der Europäische Sicherheitsvertrag von 2009, die Vereinbarung über die Grundsätze zur Regelung der Beziehungen zwischen Russland und den im Nato-Rat vertretenen Mitgliedsstaaten im Bereich der Sicherheit, ebenfalls aus 2009, ferner der Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Russischen Föderation über Sicherheitsgarantien sowie der Vertrag über Massnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Russischen Föderation und der Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation aus dem Jahr 2021. All unsere Initiativen wurden vom Westen abschlägig beschieden. Ohne die in diesen Dokumenten verankerten Grundsätze kann es keine Einigung über die europäische Sicherheit geben. Bei diesen Grundsätzen handelt es sich um die Unteilbarkeit der europäischen Sicherheit und die Verpflichtung, die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer zu stärken.

Weltwoche: Was fordern Sie ganz konkret?

Sacharowa: Das würde folgende Punkte einschliessen: Garantien zur Nichterweiterung der Nato, die Nichtstationierung von Angriffswaffensystemen in der Nähe unserer Grenzen sowie die Zurückführung der Bündnisstruktur auf den Stand von 1997, als die Grundakte zwischen Russland und der Nato unterzeichnet wurde.