Wir erleben derzeit so etwas wie ein Endspiel beim europäischen State-Building. Die Karten werden neu gemischt, mit weitreichenden Konsequenzen. So steht denn auch beim EU-Rahmenvertrag für die Eidgenossenschaft mehr auf dem Spiel als wirtschaftlicher Wohlstand oder direkte Demokratie.

Gastkommentar von Oliver Zimmer (Neue Zürcher Zeitung 17. Dezember 2018)

«Ich hoffe, dass wir mit der EU zu einer Vereinbarung gelangen, die etwa der Schweizer Lösung entspricht.» So äusserte sich kürzlich eine befreundete Historikerin. Das «wir» bezog sich auf Grossbritannien, und mit der Schweizer Lösung meinte sie die bilateralen Verträge der Eidgenossenschaft mit der EU. In den britischen Medien redet man meist von «deals» – gern vom «Norwegian» oder vom «Canadian deal», etwas seltener auch vom «Swiss deal». Unmittelbar nach dem Brexit-Referendum bewerteten einflussreiche Stimmen die bestehenden Abkommen als ungeeignet. Man hoffte auf einen Deal, der britischen Interessen und Befindlichkeiten entgegenkommt. Seit Theresa May und ihr Chefunterhändler mit der EU ihr Verhandlungsergebnis offenbart haben, ist das Wort «deal» wieder in aller Munde. Auch vom «Swiss deal» ist zuweilen wieder die Rede.

Trittbrettfahrerin Schweiz?

Ich erklärte meiner Kollegin, dass die Schweizer Option wohl vom Tisch sei; auch für uns Briten. Sie müsse nämlich wissen, dass die EU schon lange keine Freude mehr an der Schweiz habe. Trotz pünktlicher Entrichtung substanzieller Beitragszahlungen, trotz Alpentransversale und Umsetzung der Personenfreizügigkeit sei man in Brüssel nicht gut auf die wohlhabende Alpenrepublik zu sprechen. Die EU-Kommission und ihre diplomatischen Vertreter betrachteten die bestehenden Verträge als eidgenössischen Freibrief zum Rosinenpicken. Selbst im Gespräch mit ihren Hofjournalisten schrecke die EU-Kommission nicht davor zurück, die Schweiz als Trittbrettfahrerin erster Klasse zu porträtieren.

Was die EU von der Schweiz verlange, sei eine neue Vereinbarung, genannt Rahmenabkommen. Dieses liege nun im Entwurf vor. Trete es in Kraft, würde die Schweiz faktisch zu einem EU-Mitgliedsstaat ohne Stimmrecht. Sie würde sich verpflichten, neues Unionsrecht dynamisch zu übernehmen. Sollten das Parlament oder die Schweizer Stimmbürger im Einzelfall den Aufstand proben, hätte der Europäische Gerichtshof in wesentlichen Fragen das letzte Wort. Der Bundesrat habe den Entwurf des Abkommens soeben in die Konsultation geschickt. Teile der Wirtschaft, allen voran die Grosskonzerne, hätten das Rahmenabkommen von Anfang an unterstützt; auch die bürgerlichen Parteien seien, trotz skeptischer Nebengeräusche, mehrheitlich dafür. Allerdings habe die Sache für Brüssel wie für Bern einen Haken: Das Abkommen unterliege dem obligatorischen Referendum. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Mehrheit der stimmberechtigten Schweizer sich ihre Zukunft als Kantonsangehörige innerhalb eines europäischen Staates vorstellten, sei als gering einzustufen.

Einigen Lesern mag meine Metaphorik frivol erscheinen. Das ist sie vielleicht auch. Gleichzeitig macht sie es leichter, den Finger auf den europapolitisch neuralgischen Punkt zu legen. Was wir momentan erleben, ist so etwas wie ein Endgame beim europäischen State-Building. Staats- und machtpolitisch gesehen, werden die Karten in Europa gegenwärtig neu gemischt, mit potenziell weitreichenden Konsequenzen.

Wie sollen sich staatliches Handeln und staatliche Organisation legitimieren? Welches sind ihre treibenden Kräfte? Sind es die Exekutivpolitiker im Verbund mit Verwaltungsbeamten, die Europapolitik als technisch-rechtliche Abgleichungsübung begreifen? Oder sind es die Bürger im harten Dialog mit ihren demokratisch gewählten Vertretern? An welcher Art von State-Building sollen wir uns als Bürger, mit unserem Engagement und unseren Steuern, beteiligen? Die Frage nach der Machtfülle, nach Sinn und Legitimität des Staates, stellt sich heute in Europa unerbittlicher denn je. Wenn Politologen Politikern empfehlen, den Begriff der Souveränität durch das Wort «Kompetenztransfer» zu ersetzen, sollte man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Mit ähnlichen Fragen befasste sich unlängst der Historiker Niall Ferguson in der «Sunday Times». Mittels einer kleinen Zeitreise versuchte er, die Bedeutung des Brexit in der langen historischen Dauer zu bewerten. Auch in seiner fiktiven Retrospektive erschien das europäische State-Building als des Pudels Kern: «Solange die politischen Eliten Frankreichs und Deutschlands ihr Ziel einer Bundesrepublik Europa verfolgten, war der Brexit unvermeidbar und notwendig.»

Ferguson verglich das 2016 erfolgte Ja zum EU-Austritt mit dem von Heinrich VIII. herbeigeführten Bruch mit Rom. Auch äusserte er die Vermutung, dass der Brexit ähnlich weitreichende Folgen zeitigen werde wie Englands 1532 erfolgter Austritt aus dem römisch-katholischen Machtbereich: «The Holy German Empress, Angela Merkel, is fading from the scene.» Mit dem britischen Austritt werde der EU-Integrationsdampfer auf Grund laufen, so mutmasste Ferguson. Seine Diagnose mag sich längerfristig bewahrheiten. Kurzfristig wird der Brexit die radikalen Integrationskräfte jedoch eher stärken. Wer verunsichert ist, weil sein Machtanspruch Widerstand provoziert, wird kaum mit Gelassenheit reagieren.

«Le souverain, c’est nous»

Für die realistische Einschätzung der Gesamtlage ist es entscheidend, dass ein Faktum nicht länger negiert wird: Die tonangebenden Kräfte innerhalb der EU betreiben den europäischen Staatsbildungsprozess als Nullsummenspiel. Sie betrachten die Union – aus politisch nachvollziehbaren Gründen – als Souverän. Das ist eine legitime Position. Was man spätestens seit dem Vertrag von Lissabon wusste, wurde mit dem Brexit zur Gewissheit. Das europäische State-Building der Gegenwart hat als Voraussetzung den Abbau nationaler Staatlichkeit. Dass dies auf Kosten der demokratischen Autonomie geht, liegt auf der Hand.

Der von der EU angestrebte Rahmenvertrag gehört in denselben Problembereich. Wer den Vertrag als Kompromiss bezeichnet, betreibt entweder Augenwischerei oder hat seinen demokratiepolitischen Kompass verloren. Formal gesehen geht es beim Rahmenvertrag um ein Abkommen zwischen gleichberechtigten Staaten. Nüchtern betrachtet handelt es sich indessen um ein Instrument des europäischen State-Building. Dieses Projekt schreitet voran, indem es die politische Entscheidungsmacht des Schweizer Staates herunterfährt.

Die von den Sozialdemokraten als neoliberal kritisierte Aufweichung der flankierenden Massnahmen dokumentiert dies ansatzweise. Viel unmittelbarer zeigt sich die angesprochene Dynamik jedoch bei der Personenfreizügigkeit und beim Zugriff auf Sozialhilfe und Niederlassungsrecht. Wie Christof Forster in der NZZ mit präziser Nüchternheit bemerkt hat, betrifft der tiefste Eingriff in die staatliche Souveränität nicht den Abbau der flankierenden Massnahmen – solche Eingriffe wären auch bei gewöhnlichen Handelsverträgen denkbar. Er betrifft vielmehr die Durchsetzung der Unionsbürgerrichtlinie. Dabei geht es laut Forster um «ein grosszügigeres Bleiberecht, einen rascheren Zugang zur Sozialhilfe sowie restriktivere Voraussetzungen für Ausschaffungen», als dies beim jetzigen Vertragszustand vorgesehen ist. Man mag sich zu diesen Änderungen stellen, wie man will. Unbestreitbar ist, dass hier ein Staat seinen Machtbereich auf Kosten eines anderen ausdehnt. Der Befund des Herunterfahrens ist deshalb keineswegs übertrieben. So geht das halt beim Nullsummenspiel.

Ich wiederhole: Die Ziele der EU-Kommission sind legitim. Man soll Leute nicht dafür kritisieren, dass sie sich viel vornehmen. Schon gar nicht, wenn sie ihre Ziele offen deklarieren und konsequent verfolgen. Die Zeit, da die Kommission Unaufrichtigkeit gegenüber dem Publikum als Strategie favorisiert hat, ist vorbei. Juncker, Barnier und ihre Berater machen heute kein Hehl mehr daraus, dass Europa sich als Staat konstituieren soll. «Whatever it takes.»

Ehrlichkeit als Ausweg

Es ist deshalb auch für national gebundene Politiker an der Zeit, mit dem Versteckspielen aufzuhören. Ob das Spiel bewusst oder unter Einbezug hypnotisierender Sprech- und Denkformeln gespielt wird, ist unerheblich. Der Spruch etwa, dass Staaten heutzutage global miteinander verflochten seien, sollte man sich inskünftig schenken dürfen. Regierungen genossen zu keiner Zeit absolute Souveränität. Das bedeutet allerdings auch heute nicht, dass sie keine Entscheidungen treffen können. Auch das geschichtsphilosophische Dogma, wonach uns die Zeit gewisse Lösungen alternativlos aufzwingt, wird bei einem aufgeklärten Publikum nicht eifriges Kopfnicken auslösen, sondern wiederholtes kritisches Nachfragen.

In Europa wird nach dem Brexit fast nichts mehr so sein, wie es einmal war. Gleichzeitig ist die Lage, was die kontinentale Machtdynamik betrifft, dank dem britischen Austrittsentscheid eher übersichtlicher geworden. Auch deshalb stehen die nationalen Regierungen in der Pflicht. Was die Protagonisten der EU anstreben, ist kein Geheimnis. Ob sie es auch bekommen werden, bleibt unsicher. In dieser Situation liegt es nicht im Interesse der Schweiz, auf vorauseilenden Gehorsam zu setzen. Druck und Einschüchterungsversuche sind nicht dasselbe wie Zwang. Man muss sich zwischen legitimen Alternativen entscheiden.

Für die Eidgenossenschaft steht hier deutlich mehr auf dem Spiel als wirtschaftlicher Wohlstand oder die direkte Demokratie. Soweit ich sehe, geht es vor allem um die Glaubwürdigkeit der liberalen Kräfte und der liberalen Gesellschaftsordnung, die diese während zweier Jahrhunderte mitgeprägt haben. Verträgt sich die faktische Beschränkung der parlamentarischen Demokratie mit einer liberalen Grundhaltung? Wie stark tangiert das fortschreitende Zurückstutzen demokratischer Entscheidungsmacht unter Anrufung höherer Mächte die liberalen Freiheitsrechte? Von der Antwort auf die zweite Frage durch die Bürger der europäischen Nationen hängt die politische Zukunft Europas mittelfristig ab.

Oliver Zimmer ist Professor für moderne europäische ­Geschichte an der University of Oxford. Er beschäftigt sich insbesondere mit dem europäischen Nationalismus sowie der Geschichte der Religion und des Liberalismus.