NZZ, Jonas Hermann, Berlin, 28.02.2021
Ein Berliner Oberstaatsanwalt schlägt Alarm: «Einbrecher werden hier in 97 Prozent der Fälle nicht verurteilt»
Ralph Knispel ist seit fast drei Jahrzehnten Staatsanwalt und sorgt sich um Deutschlands Justizsystem. Ein Gespräch über realitätsferne Politik, eingeschüchterte Zeugen und einen bundesweit bekannten Clan-Boss.
Herr Knispel, Sie sagen, in Deutschland würden selbst schwere Straftaten nicht mehr geahndet, weil die Justiz überlastet sei.
Zunehmend ziehen sich Verfahren derart in die Länge, dass sich deutsche Gerichte wegen der von Beschuldigten nicht zu vertretenden Verzögerungen gehalten sehen, Haftbefehle aufzuheben und die dringend Verdächtigen aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Das gilt selbst dann, wenn es Tötungs- oder Sexualverbrechen betrifft. Die Opfer oder deren Angehörige sehen so jemanden dann vielleicht unbekümmert über die Strasse laufen, nur weil die Justiz nicht mehr in der Lage ist, ihre Arbeit dem Gesetz entsprechend zu verrichten. Das schafft Verbitterung und einen grossen Verdruss.
Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel «Rechtsstaat am Ende». Darin zeichnen Sie ein düsteres Bild.
Ich sehe den Rechtsstaat nicht als komplett verloren an. Allerdings möchte ich einen Warnruf absetzen, damit die Politik dem Rechtsstaat wieder zur Stärke verhilft. Wenn das nicht gelingt, werden wir das Vertrauen der Bevölkerung endgültig verlieren.
Wieso schlagen die Justizminister keinen Alarm?
Weil sie dann bei den Finanzministern mehr Geld für die Justiz fordern müssten. Ein wesentlicher Punkt ist die finanzielle Ausstattung von Polizei und Justiz.
Mehr Geld und mehr Personal fordern auch Schulen, Spitäler, die Bundeswehr . . .
Klar, anderswo herrscht ebenfalls Mangel. Die Politik muss dann Prioritäten setzen. Bei aller Kritik am rot-rot-grünen Senat in Berlin muss man auch sagen, dass unter dem derzeitigen grünen Berliner Justizsenator viel mehr Stellen geschaffen worden sind als unter all seinen Amtsvorgängern.
Staatsanwälte im Berliner Kriminalgericht müssen Aktenstapel mit Rollwagen Hunderte Meter über die Flure schieben. Für so eine Tätigkeit sind Sie und Ihre Kollegen natürlich überzahlt. Das gilt aber ebenso für Oberstudienräte, die unzählige Stunden damit verbringen, Arbeitsblätter für ihre Schüler zu kopieren. Die von Ihnen beschriebenen Missstände finden sich auch in anderen Beamtenberufen wieder.
Das stimmt. Übrigens stehen wir ebenfalls oft am Kopierer, und zwar teilweise auf Fluren, wo viel Verkehr herrscht – zum Beispiel von Verteidigern und Angehörigen der Beschuldigten. Dort müssen wir auch Akten zu brisanten Verfahren kopieren. Das sind unhaltbare Zustände. Belustigt und manchmal auch begeistert lautete die Devise in der Politik bis vor ein paar Jahren: Sparen, bis es quietscht.
Wer ist dafür verantwortlich?
Alle Parteien mit Regierungsverantwortung. Wir hatten in Berlin Justizsenatoren von CDU, SPD, FDP und den Grünen. Das hat nichts mit der Parteizugehörigkeit zu tun.
Das Problem scheint in Berlin grösser zu sein als anderswo. Sie sagen, in der Hauptstadt könne mehr als die Hälfte der Täter damit rechnen, nicht bestraft zu werden.
Die Täter werden oft gar nicht erst ermittelt, weil Polizei und Justiz nicht nachkommen. Berlin ist zum Beispiel nicht nur die deutsche Hauptstadt, sondern auch die Hauptstadt der Fahrraddiebstähle. Sie können davon ausgehen, dass kaum ein Fahrrad wiedergefunden oder ein Täter ermittelt wird. Auch Einbrecher werden hier in 97 Prozent der Fälle nicht verurteilt.
Wie kann das sein?
Polizisten, die bei Einbrüchen ermitteln, sind oftmals findig. Sie sichern DNA-Spuren und schicken diese ins Labor. Im zuständigen Labor der Berliner Kriminaltechnik standen aber Ende des vergangenen Jahres über 34 000 Untersuchungen aus, darunter zahllose DNA-Spuren. Die Kollegen kommen einfach nicht mehr hinterher. Zwischen Tat und Auswertung vergehen manchmal zwei oder drei Jahre. Das grenzt natürlich ans Lächerliche.
Die DNA-Analyse wird auch von der Politik behindert. Es ist in Deutschland nicht erlaubt, aus genetischen Spuren Rückschlüsse auf die ethnische Herkunft zu ziehen.
Wenn das erlaubt wäre, würde es die Erfolgsaussichten der Ermittlungen natürlich steigern, weil man den Kreis der Verdächtigen eingrenzen könnte. Bis vor ein paar Jahren durfte man aus der Spur noch nicht einmal die Haarfarbe und die Augenfarbe herauslesen.
Sie schreiben in Ihrem Buch über Defizite, die vielen Menschen nicht bekannt sind. So stapeln sich zum Beispiel am Berliner Sozialgericht rund 40 000 unbearbeitete Fälle. Was passiert damit?
Letztlich muss man es dann wohl über die Qualität steuern. Das ist wie in anderen Berufen auch: Wenn man viel weniger Zeit für eine Aufgabe hat, merkt man das an der Qualität der Arbeit.
Ist das Sozialgericht ein Einzelfall?
Wegen der Corona-Pandemie wird es einen grösseren Rückstau geben. Das müsste man der Bevölkerung eigentlich ehrlich vermitteln. Bestimmte Dinge können gerade nicht so bearbeitet werden, wie es notwendig wäre.
Eine Möglichkeit, die Justiz zu entlasten, wäre eine liberale Drogenpolitik. Gerade bei Marihuana stellt sich die Frage, ob ein Verbot der richtige Weg ist. Die deutsche Drogenpolitik frisst Ressourcen bei Polizei und Justiz.
Das gilt aber ebenfalls für Ladendiebstähle. Wollen Sie die auch entkriminalisieren?
Es ist doch ein Unterschied, ob jemand Drogen kauft oder etwas stiehlt.
Eine grosse Zahl der Ladendiebstähle wird aber schon verhindert, bevor sich die Täter mit der Beute davonmachen. Es entsteht dabei kein Schaden, straffrei sind sie natürlich trotzdem nicht. Aber zurück zur Ausgangsfrage: Die Folgen der Entkriminalisierung von Drogen wären für die Gesellschaft und das Gesundheitswesen enorm. Dass die Rechnung am Ende aufgehen würde, wage ich zu bezweifeln.
Zumindest könnte man so eine wichtige Einnahmequelle der organisierten Kriminalität trockenlegen.
Und wer mit Drogen gehandelt hat, wird sich dann beim Arbeitsamt melden und bald einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen? Das kann ich mir nicht vorstellen.
Welchen Anteil hat die Migration nach Deutschland an der Überlastung des Rechtsstaats? Die Verwaltungsgerichte mussten in den vergangenen Jahren mehr als hunderttausend Klagen von Migranten gegen ihre Asylbescheide bearbeiten – und die Sicherheitsbehörden sind mit dem Islamismus überfordert.
Es gibt in Deutschland mehr als 600 islamistische Gefährder, die gegebenenfalls rund um die Uhr überwacht werden müssten. Dafür fehlt jedoch das Personal. Um jemanden einen Tag lang zu überwachen, brauchen Sie mindestens acht Einsatzkräfte. Und es liegt in der Natur der Sache, dass Sie dafür nicht jeden Tag dieselben Kräfte einsetzen können.
Asylsuchende und Migranten begehen häufiger Straftaten als Deutsche ohne Migrationshintergrund. Dennoch wird Migration von vielen Politikern und Medien als etwas durchweg Positives dargestellt.
Man muss ehrlich eingestehen, dass manche ethnischen Gruppen auffällig oft für bestimmte Delikte verantwortlich sind. Das gilt zum Beispiel für den Drogenhandel. Zudem haben die meisten Intensivtäter einen Migrationshintergrund. Es heisst dann oft, man dürfe niemanden stigmatisieren, und viele dieser Täter seien doch Deutsche. Das stimmt, aber nicht wenige von ihnen haben ausländische Wurzeln und brauchen dann vor Gericht teilweise einen Dolmetscher.
Gegen den Berliner Clan-Boss Arafat Abou-Chaker liefen rund dreissig Ermittlungsverfahren. Nur einmal wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt, er gilt aber weiter als nicht vorbestraft.
Das ist ein Fall, in dem uns die andere Seite die Grenzen vor Augen führt und uns nicht mehr ernst nimmt. Generell ist in solchen Verfahren immer wieder festzustellen, dass das Verhalten vor Gericht respektlos und beleidigend ist. Zeugen können sich im Prozess oft nicht mehr an ihre Aussagen erinnern, obwohl sie bei der Polizei durchaus belastende Angaben gemacht haben.
Wer alle Zeugen einschüchtert, kann kaum verurteilt werden.
Dieses Phänomen ist mir in meinen knapp dreissig Berufsjahren tatsächlich wiederholt begegnet. Doch allzu oft sind das nicht einmal strafrechtlich relevante Verhaltensweisen: Da baut sich dann ein grosser, stämmiger Mann vor Ihnen auf und sagt: «Denk dran, was du aussagst.» Das ist per se keine Bedrohung und nicht strafbar, dennoch weiss jeder, was damit gemeint ist. Vieles wird aber in diesen Kreisen auch intern geregelt, beispielsweise von sogenannten Friedensrichtern.
Der Rechtsstaat wird nicht nur im arabisch-islamischen Milieu ausgehebelt: Sie kritisieren zum Beispiel das sogenannte Kirchenasyl und erläutern, was wohl nicht jedem klar ist: Rechtlich betrachtet sind die Räume von Glaubensgemeinschaften kein geschütztes Territorium.
Trotzdem wurden nach meiner Kenntnis rechtskräftig abgelehnte und ausgewiesene Asylbewerber noch nie von der Polizei aus kirchlichen Räumen geholt und abgeschoben. Sowohl die Polizeiführung als auch die Politik haben da Skrupel. Wenn wir rechtsstaatliche, vollstreckbare Entscheidungen haben, dann kann niemand mit erhobenem Zeigefinger daherkommen und sagen: «Ich habe aber die bessere Moral.» Kirchenasyl führt den Rechtsstaat ad absurdum. Man darf das nicht hinnehmen.
Laut Kriminalstatistik sinkt die Zahl der Straftaten. Wie passt das zum Ton Ihres Buches?
Es gab in den fünfziger Jahren in den USA eine Studie, die belegte, dass Rauchen eigentlich gar nicht gesundheitsschädlich sei. So ähnlich ist das mit den Kriminalstatistiken. Gerade bei den Sexualdelikten stiegen die Fallzahlen immens an, zudem gibt es ein riesiges Dunkelfeld. Eine Straftat muss erst einmal angezeigt werden, sonst taucht sie nicht in der Statistik auf. Deren Aussagekraft ist deshalb begrenzt, auch wenn das manche Politiker anders darstellen. Aus diesen Statistiken lassen sich aber gewisse Tendenzen bei einzelnen Deliktarten ablesen, und auch der Vergleich zwischen den Regionen ist dadurch möglich.
Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind auffällig: In Bayern werden zum Beispiel wesentlich mehr Straftaten aufgeklärt als in Berlin.
Es kommt darauf an, wie Gesellschaft und Politik mit den Menschen umgehen, die Straftaten verfolgen. Das Ansehen von Justiz und Polizei ist in Bayern eindeutig höher als in Berlin. Die Kollegen treten dort mit einem gänzlich anderen Selbstbewusstsein auf. Hinzu kommt: Wenn Sie durch München laufen, werden Sie weitaus häufiger Fussstreifen sehen als in Berlin, und ich habe nicht den Eindruck, dass die Beamten in Bayern häufig angepöbelt oder schräg angesehen werden.
Der Systemkritiker Ralph Knispel
Staatsanwalt war schon früh der Traumberuf von Ralph Knispel (60). Das sei trotz allen Enttäuschungen bis heute so, sagt er. Nach einem Auftritt in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz bekam der Berliner Oberstaatsanwalt mehrere Angebote, ein Buch über die Missstände im deutschen Rechtssystem zu schreiben. Knispel hat fast sein gesamtes Berufsleben dem Kampf gegen Kriminalität gewidmet. Im Jahr 1996 wechselte er in die Abteilung für Kapitalverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Berlin, die er nach vorübergehendem Dienst in anderen Deliktsbereichen seit vier Jahren wieder leitet.
Ralph Knispel: «Rechtsstaat am Ende». Ullstein. 240 S., € 22.99.