Sorry, Roger Köppel, du liegst falsch. Der Westen habe Russland in die Enge getrieben und trage eine Mitschuld am Krieg, sagst du. Ich sehe die Sache ganz anders.
Lieber Roger, wir arbeiten seit zwanzig Jahren zusammen, darum bleibe ich beim bewährten Du. In deinem Online-Leitartikel vom Wochenende über die Ursachen der Eskalation in der Ukraine schreibst du:
«Unter Führung der Amerikaner wurde nach dem Fall der Berliner Mauer die grosse Chance verpasst, Russland zu einem Verbündeten zu machen. Die Kommunisten waren weg, Putin strebte nach Westen, doch die Amerikaner, die Nato und die EU dehnten ihre Macht, ohne die Russen einzubeziehen, immer weiter nach Osten aus.»
Damit machst du dir Putins Argumente zu eigen, mit welchen er den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen versucht. Sie halten den historischen Fakten nicht stand. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der Westen die Russen nicht «gedemütigt», wie du schreibst. Im Gegenteil. Er hat entschlossen versucht, Russland als neuen Partner zu respektieren und es in ein friedliches Europa einzubinden.
Hier seien summarisch drei zentrale Vertragswerke erwähnt:
– Pariser Grundakte: Unmittelbar nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands wurde gemeinsam mit der Sowjetunion eine grundlegende Neugestaltung Europas ausgearbeitet. Fundament der neuen Ordnung war die Einhaltung der Demokratie als Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens unter Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Meinungsfreiheit.
In der Charta von Paris verpflichteten sich 32 europäische Signatarstaaten sowie die USA und Kanada am 21. November 1990 zu diesem neuen Europa. Die Spaltung des Kontinents und der Kalte Krieg wurden für beendet erklärt. Der Nachfolgestaat der Sowjetunion, Russland, war substanzieller Träger dieser neuen Ordnung.
– Budapester Memorandum: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist der Westen auch auf die sicherheitspolitischen Befindlichkeiten Russlands eingegangen. 1994 verzichteten die drei ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Weissrussland und Kasachstan auf die Atomwaffen, die seit Sowjetzeit auf ihrem Territorium stationiert waren. Statt sie zu verschrotten, wurden sie in die Obhut Russlands gegeben. Dieser Akt war ein Vertrauensbeweis gegenüber Moskau, den man nicht genug hoch einschätzen kann. Die Ukraine verfügte zu diesem Zeitpunkt über das drittgrösste Atomwaffenarsenal der Welt. Als Gegenleistung sicherte Russland – sowie die USA und Grossbritannien – den drei Staaten verbindlich zu, deren Souveränität und «die existierenden Grenzen» zu respektieren.
– Nato-Russland-Grundakte: Seit der Auflösung der Sowjetunion bemühte sich die Nato aktiv um eine enge Partnerschaft mit Russland und untermauerte diese mit vertraglichen Zugeständnissen gegenüber Moskau. Oberstes Ziel war es, gegenseitiges Misstrauen und Bedrohung zu überwinden und einen gemeinsamen Sicherheits- und Stabilitätsraum zu schaffen. Ein Meilenstein auf diesem Weg war die Aufnahme Russlands in das Programm «Partnerschaft für den Frieden» 1994. Der Annäherungsprozess gipfelte 1997 in der Nato-Russland-Grundakte. Darin wurde der «Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit» verankert. Explizit wurde die «Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker» vertraglich festgelegt.
Fixes Konsultationsgremium
Seit der Auflösung der Sowjetunion sah sich die Nato mit einer dringlichen Bitte ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten um Aufnahme in die Nato konfrontiert. Verstärkt wurden diese Begehren durch russische Militäraktionen wie den Krieg in Abchasien (1992/93) sowie den Ersten Tschetschenienkrieg (1994–96). Russlands aggressives Gebaren bestärkte mittel- und osteuropäische Länder, die selbst sowjetische Interventionen erlebt hatten, in ihrem Drängen, von der Nato aufgenommen zu werden.
Lange zögerte die Nato, bis sie 1999 Polen, Ungarn und die Tschechische Republik schliesslich offiziell zu Bündnispartnern erklärte. Dabei hat sich die Nato Beschränkungen auferlegt und machte Moskau gegenüber weitreichende Zugeständnisse: So wurde der Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen in den neuen Nato-Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa vertraglich festgehalten. Die Stationierung von Truppen in den neuen Nato-Staaten wurde eng begrenzt, wobei eine Truppenaufstockung nicht grundsätzlich ausgeschlossen wurde. Zementiert wurde das Vertragswerk durch den Nato-Russland-Rat, als fixes Konsultationsgremium, um allfällige Friktionen frühzeitig zu entschärfen.
Darüber hinaus war der Westen aufrichtig bemüht, Russland wirtschaftlich und politisch einzubinden. So wurde Russland 1996 in den Europarat aufgenommen. 1998 hiess die G-7, der Zusammenschluss der bedeutendsten Industrienationen der westlichen Welt, das wirtschaftliche Leichtgewicht Russland als achtes Mitglied willkommen. Und 2011 wurde Russland Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO).
Aus diesen Taten ist ersichtlich, dass man die russischen Sorgen keineswegs «überheblich in den Wind schlug», wie du, Roger, schreibst.
Draussen vor der Tür
Hinsichtlich der Aufnahmebegehren der zentraleuropäischen Staaten stellst du richtig die Frage: «Wie hätte man ihnen diesen Wunsch abschlagen können?»
Hätte man sie draussen vor der Tür stehenlassen sollen nach traumatischen vierzig Jahren unter sowjetischem Joch? Quasi als Knautsch- und Einflusszone Russlands?
Es gab keinen Grund, ihre Anträge abzulehnen. Auch Wladimir Putin schien zu jener Zeit keinen Anstoss daran zu nehmen. Kaum an die Macht gekommen, sagte er in einem Interview mit der BBC: «Ich kann mir die Nato nur schwerlich als einen Feind vorstellen» – dies zu einem Zeitpunkt, als sich das Nato-Bündnis gerade nach Osten ausgedehnt hatte.
Auch bei der nächsten Erweiterungsrunde gab es keine fundamentale Opposition aus Russland. Zwar war die Reaktion gemässigt ablehnend, doch 2001 sagte Putin, die Frage einer Ablehnung der Mitgliedschaft der baltischen Staaten in der Nato könne man nicht mit Ja oder Nein beantworten.
2004 wurden Estland, Lettland und Litauen, allesamt ehemals Teil der Sowjetunion, sowie Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien Nato-Mitglieder. Damit war die Osterweiterung, wie sie heute besteht, weitgehend abgeschlossen. Noch zu diesem Zeitpunkt sagte Putin: «Jedes Land soll das Bündnis wählen, indem es seine Sicherheit am besten aufgehoben fühlt», wie Rüdiger von Fritsch, ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau (2014–2019), bestätigt. Er hält ausserdem fest: «Wir haben uns immer wieder bemüht, Russlands besondere Situation, Russlands besondere Interessen in Rechnung zu stellen», und man habe auf Augenhöhe versucht, Russland in das «gemeinsame Haus Europa» einzubinden.
Du schreibst, Roger:
«Erstaunlich lange blieb Moskau duldsam. Den Bruch brachten die westlichen Einmischungen in die Ukraine, die mythische Wiege der Russen.»
Dem ist nicht so. Seit der Auflösung der Sowjetunion verfolgt Russland einen aggressiven militärischen Kurs in seiner Region. So führte Putin als Präsident einen jahrelangen Vernichtungskrieg in Tschetschenien. 2008 überfiel er die ehemalige Sowjetrepublik Georgien, um zwei abtrünnige Republiken, Abchasien und Südossetien, zu unterstützen.
Mit der militärischen Eroberung und der Annektierung der Krim 2014 hat Putin schliesslich eine rote Linie überschritten. Damit brach er sämtliche oben erwähnten Vertragswerke, die der Westen mit Russland eingegangen war, und weckte alte Urängste vor Moskaus Grossmachtstreben.
Du fragst, Roger:
«Kann man es ihnen (den Russen) verargen, dass sie die Aussicht auf US-Atomraketen vor der eigenen Haustür endgültig in Alarm versetzen musste?»
Von einer solchen Absicht seitens der USA kann nicht die Rede sein. Nie stand zur Diskussion, dass die Amerikaner Atomraketen in die Ukraine verlegen würden. Auch wurde nie geplant, ballistische Raketen oder andere Offensivwaffen an Russlands Grenzen zu stationieren. Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis. Die Vorstellung eines Angriffs gegen Russland gehört ins Reich der Verschwörungstheorien. Russland hat durch sein Atomarsenal ein derart hohes Abschreckungspotenzial, dass eine solche Option nie in Frage käme.
Schriftliche Garantien
Nun droht Putin selbst mit Atomwaffen, sollte man ihn bei seinem Ukraine-Feldzug behindern. Ausserdem fordert er schriftliche Garantien, dass die Nato keinen weiteren Staat aufnehmen wird. Damit nicht genug. Er verlangt, dass die Nato auf den Zustand von 1997 zurückkehrt, zur Nato-Russland-Grundakte, die er selbst gebrochen hat. Das bedeutet nichts anderes, als dass er die gesamte Osterweiterung rückgängig machen und Europa sicherheitspolitisch komplett neu ordnen will.
Was auch immer der Grund für diese Maximalforderung und die kriegerische Eskalation in der Ukraine ist – die Nato-Osterweiterung, die in wesentlichen Zügen seit fast zwei Jahrzehnten abgeschlossen ist, kann es nicht sein.