Christian Pfister ist einer der führenden europäischen Klimahistoriker. Seine Forschungen zeigen, dass es in vorindustrieller Zeit in einem Jahr – 1540 – schon wärmer war als heute. Trotzdem schlägt der Professor jetzt Alarm. Ein sportliches Gespräch über wissenschaftliche Hypes und echte Gefahren.
Wir treffen uns im Restaurant «Beaulieu» im Berner Universitätsquartier. Dort gebe es schattige Bäume, hatte Christian Pfister im Vorfeld gesagt. Es ist ein Dienstagnachmittag im Juli, eine schwüle Hitze liegt über der Bundesstadt. Pfister, ein kleingewachsener, braungebrannter Mann mit sportlich-zähen Zügen, erscheint ganz unprofessoral in kurzen Hosen und T-Shirt. Man sieht ihm nicht unbedingt an, dass er eine europaweit bekannte Kapazität auf seinem Gebiet ist. Er ist Umwelthistoriker und Geograf, und es gibt kaum einen zweiten Wissenschaftler, der so genau weiss wie er, wie warm es etwa im Sommer 1542 oder im Winter 1609 gewesen ist. Die Klimageschichte war lange Zeit keine besonders glamouröse Disziplin; sie dreht sich um lange Messreihen mit Unmengen von Daten. Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert: Mit dem politischen Hype um den Klimawandel ist sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit auch einer breiteren Öffentlichkeit gerückt.
Kleine Vorbemerkung. Als ich Pfister für das Treffen anfragte, sagte er zuerst ab. Er erinnerte sich noch, mit dem genauen Erscheinungsdatum, an einen Artikel von mir über ihn, der vor dreizehn Jahren in der Weltwoche erschienen war («Der rückwärtsgewandte Prophet», Weltwoche Nr. 50/06). Am Ende konnte ich ihn dennoch zu einem sportlichen Gespräch bewegen («Ich gebe Ihnen noch mal eine Chance», meinte er).
Bevor wir uns ins argumentative Getümmel stürzen, beseitigen wir die alten Wunden. Die Bezeichnung als «Prophet» habe ihn geärgert, sagt Pfister. Er habe keinen göttlichen Auftrag, sondern arbeite präzis mit genauen Daten, die mehrfach abgesichert seien. «Das ist zentral.» Und schon sind wir mittendrin in der Diskussion. Die Kritik damals hatte gelautet, als Klimahistoriker sehe Pfister die Dinge entspannt – alles war schon da unter der Sonne –, aber neuerdings stimme er ein in den modischen Chor der Alarmisten.
Keine Häufung von Naturkatastrophen
Die Versuchsanordnung: Ich konfrontiere den Professor mit Kernaussagen aus seiner jahrzehntelangen klimahistorischen Forschung – und er sagt mir, ob er heute noch dazu steht oder ob er es inzwischen anders sieht. Dies bietet sich an, weil Pfisters Arbeiten, die den Zeitraum eines halben Jahrtausends abdecken, in vielen Punkten gegenwärtige Überhitzungen der Klimadebatte mit dem Blick auf die «longue durée» zu relativieren vermögen. Wenn es so etwas wie eine Generallinie in Pfisters Werk gibt, dann ist es die, dass vieles, was uns Heutigen als einzigartig und aussergewöhnlich vorkommt, so einzigartig und aussergewöhnlich nicht ist.
Die erste Aussage stammt aus der Zusammenfassung des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 31 («Klimaänderungen und Naturkatastrophen»). «Die Häufigkeit von Naturkatastrophen in den letzten Jahrzehnten liegt in der Schweiz in der natürlichen Bandbreite der letzten 500 Jahre», hielt Pfister dazu 1998 fest. «Grundsätzlich stehe ich noch zu dieser Aussage», sagt er heute.
Da ist zum Beispiel der interessante Befund der sogenannten Katastrophenlücke: Von den 1880er bis in die 1970er Jahre gab es kein Hochwasser am Rhein; im Gegensatz zu früheren Epochen, in denen es öfter dazu gekommen war. Auch gängige Ansichten über das Unwetter von 1987 in Uri widerlegt Pfister. «Es hiess damals, die Bodenversiegelung sei schuld daran. Dabei hat es einfach viel geregnet.» Solche Überschwemmungen habe es früher auch schon gegeben, und zwar in grösserer Anzahl. Ähnlich verhalte es sich mit den Stürmen. «Lothar» (1999) sei nicht der schlimmste Sturm der letzten 500 Jahre gewesen.
Pfister fand heraus, dass es am 18. Januar 1739 noch viel ärger chutete und tobte. Weil der barocke Sturm noch keinen Namen hatte, taufte er ihn auf «Prisca». «Ich wollte nicht einfach einen Namen erfinden, sondern schaute auf den Heiligenkalender. Sonst hätte es geheissen, ich sei bösartig», sagt er verschmitzt. «Es herrscht heute die Tendenz, jede Naturkatastrophe der globalen Erwärmung zuzuschreiben, aber so einfach geht das nicht», bilanziert Pfister. «Da gehe ich auf die Barrikaden.»
Vorsichtig argumentiert er auch bei der Ursachenforschung für die vielen warmen Winter im 20. Jahrhundert. «Inwieweit die – klimageschichtlich betrachtet – ausserordentliche Häufigkeit sehr warmer und feuchter Winter im 20. Jahrhundert durch die menschliche Aktivität (CO2) mitbedingt ist, kann auf Grund des vorliegenden Materials nicht entschieden werden», schrieb er 1983 («Klima- und Gletscherschwankungen seit 1525»). Hält er an diesem Befund fest? «Ja, das ist richtig.» Das CO2 habe lange Zeit einen «positiven Effekt» gehabt: «Es stoppte die langfristige Abkühlung.» Pfister verweist auf den schwedischen Physiker Svante Arrhenius, der Ende des 19. Jahrhunderts als Erster eine Erwärmung des Planeten aufgrund der Industrialisierung voraussagte – und darin nichts Schlechtes sah, im Gegenteil. Pfister hat für diese Einschätzung «volles Verständnis». Das 19. Jahrhundert sei ein «garstiges» gewesen, erst recht in einem so nördlich gelegenen Land wie Schweden. Die Aussicht auf eine um ein paar Grad höhere Durchschnittstemperatur sei da durchaus willkommen gewesen.
«Gunstjahrhundert»
Im Hinblick auf die Debatte über die Erderwärmung interessieren neben möglichen Folgen wie Naturkatastrophen in erster Linie die Temperaturdaten. Hier konnte Pfister zeigen, dass weder der heisse Sommer von 1947 noch derjenige von 2003 an der Spitze steht. In seiner «Klimageschichte der Schweiz» (1988) ist nachzulesen, dass der neuzeitliche Rekordsommer auf das Jahr 1540 fällt, lange bevor ein menschengemachter Treibhauseffekt wirksam war. «Die Durchschnittstemperaturen in den Sommermonaten zwischen 1532 und 1540 entsprachen jenen im denkwürdigen Jahrzehnt 1943–1952, wobei jedoch etwas mehr Regen fiel. Unzweifelhaft wurde die Hitze und vor allem die Dürre des Sommers 1947 durch das ‹grosse Sonnenjahr› 1540 in den Schatten gestellt.»
Zwischen 1530 und 1564 prägte eine auffällige Warmphase das Klima. Dazu Pfister: «Es spricht für die Klimagunst dieser drei Jahrzehnte, dass die Chronisten in keinem einzigen Jahr von einer durchgehenden Schneedecke im tieferen Mittelland berichten [. . .]» Auch dies lehren seine Untersuchungen: Warme Phasen wurden in der Geschichte immer als angenehmer empfunden, kalte machten Angst und galten als ungünstig. Am «erschreckendsten» seien den Alpenbewohnern die Kaltphasen «durch weitreichende Vorstösse der Alpengletscher ins Bewusstsein» getreten. Heute sorgen wir uns über deren dramatischen Rückgang.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wechselten sich sehr warme und sehr kalte Winter ab. 1602 blühten die Kirschen Anfang April, 1607 gar Mitte März. Der Luzerner Chronist Renward Cysat berichtet, dass er im Januar 1609 in seinem Garten reife Erdbeeren pflücken konnte. Das fand er vermutlich angenehmer als die Schneedecke, die im Winter 1613/14 fünf Monate lang liegen blieb. Von einer besonderen «Gunst» spricht Pfister im Hinblick auf das 20. Jahrhundert und das Problem der Trockenheit. «Gesamthaft gesehen, war die Belastung des 20. Jahrhunderts durch Dürresommer bemerkenswert gering, wie dies bereits für Naturkatastrophen (Lawinen, Überschwemmungen) festgestellt worden ist. Auch in dieser Hinsicht trägt das zu Ende gehende Jahrhundert seine Bezeichnung als Gunstjahrhundert offensichtlich zu Recht», heisst es in der 2000 erschienenen Studie «Dürresommer im Schweizer Mittelland seit 1525». Auch an diesem Befund hält Pfister nach wie vor fest – doch dann kommt ein grosses Aber.
«Seit 1988 ist alles anders», sagt der Professor, setzt eine besorgte Miene auf und nimmt einen Schluck Mineralwasser. Seither erwärme sich das Klima deutlich, das springe einen sofort an, wenn man etwa die Temperaturdaten von Meteo Schweiz anschaue. Für den Herbst kündigt Pfister ein wissenschaftliches Papier an, «das alles klarmacht». Es gebe in den letzten drei Jahrzehnten «viel mehr heisse Sommer, Tendenz: stark steigend». Anders als bis in die 1980er Jahre hinein, wo es nicht möglich gewesen sei, die natürliche Variabilität des Klimas von menschlichen Einflüssen zu unterscheiden, könne man heute die «anthropogenen Erwärmungs- und Abkühlungsfaktoren» herausfiltern.
Die Entwicklung der jüngsten Zeit bereite ihm «grosse Sorge», sagt Pfister, besonders wenn er an seine Enkel denke. «Wir sitzen im Schnellzug und müssen aufpassen, dass er nicht entgleist.» In diesem Jahr hätten wir «einfach Schwein gehabt», dass der Mai so kühl gewesen sei – sonst wäre es wieder ein Extremsommer geworden.
Könnte sich denn eine Megadürre wie jene von 1540 wiederholen? Und welches wären die Folgen? Diese Frage beschäftigt Pfister stark, darüber machte er sich auch Gedanken in einem Sammelband, der 2018 erschien. Entgegen seinen drastischen mündlichen Warnungen argumentiert er allerdings auch dort eher tastend. Die Wahrscheinlichkeit, dass nochmals eine solche Dürre auftrete, sei «klein», auch dann, wenn die globale Erwärmung sich intensivieren würde. Dennoch wolle er einige Überlegungen zu einem solchen Worst-Case-Ereignis anstellen. Wie 1540 wären vor allem die Landwirtschaft, der Transport- und der Energiesektor betroffen. Gefährlich könnte es vor allem für Kern- und andere Kraftwerke werden, wenn infolge der Trockenheit zu wenig Kühlwasser zur Verfügung stünde.
Ist das wirklich ein realistisches Szenario in der nächsten Zukunft? Oder folgt Pfister mit seinen Aussagen einfach einem akademischen Modetrend? Sind Klimahistoriker zu Klimahysterikern geworden? «Ich streite nicht ab, dass es solche Tendenzen in der Wissenschaft gibt.» Trotzdem hält er daran fest, «dass wir seit 1988 klimatisch in einer neuen Welt leben». Die Wahrscheinlichkeit, dass ein «schwarzer Schwan» – ein unerwartetes Ereignis – auftauche, nehme zu, ist Pfister überzeugt. Dabei stützt er sich auf die Annahme, dass «Mittel- und Extremwerte in gewissem Mass zusammenhängen». Da die Temperaturen im Mittel anstiegen, werde es auch wahrscheinlicher, dass «Superextreme» einträten.
Ganz sicher ist sich der zwischen wissenschaftlicher Zurückhaltung und politischem Wachrütteln schwankende Klimahistoriker aber nicht. Sein Bauch sage ihm, es wäre schön, wenn er sich irrte. «Mein Kopf aber sagt: Hesch äuä doch rächt.»