NZZ, Andreas Scheiner16.07.2024
Hitlers Helfer flohen nicht nur nach Südamerika. Dass sie in der arabischen Welt als Feinde Israels willkommen waren, wird gerne ausgeblendet.
Die Endlösung wird auf die 700 000 Juden in Nordafrika und im Nahen Osten ausgedehnt: Das verspricht Adolf Hitler dem Grossmufti von Jerusalem 1941 in Berlin.
Es gab keine Stunde null. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren aus den Nazis nicht über Nacht bessere Menschen geworden. Den Judenhass verkniff man sich dann halt. Aber als Antisemit unterer oder mittlerer Gehaltsstufe lebte man weiter sein Leben. Wer sich nicht allzu ungeschickt anstellte, dem standen bald wieder alle Karrierewege offen.
Etwas intensiver umschauen musste sich der Nazi in leitender Funktion. Flucht nach Südamerika bot sich an. Die sogenannte Rattenlinie nach Argentinien war beliebt. Hohe Tiere wie Eichmann und Mengele machten sich auf und davon.
Allerdings gingen längst nicht alle nach Lateinamerika: Zahlreiche Nazis suchten ihr Heil im Nahen Osten. Alois Brunner beispielsweise, die rechte Hand von Eichmann: Er setzte sich nach Damaskus ab. Genauso Franz Stangl, Lagerkommandant in Sobibor und Treblinka (verantwortlich für mindestens 400 000 Tote). Johann von Leers, ein Handlanger von Goebbels, entschwand erst nach Buenos Aires, zog aber 1955 nach Kairo weiter, wo er zum Islam konvertierte. Er nannte sich dann Omar Amin von Leers. Ägypten war eine Topdestination für Nazis.
Goebbels in Kairo: Die Aufnahme stammt von 1939.
Der spätere Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess war gebürtiger Ägypter. Sein Bruder Alfred hatte bereits 1926 begonnen, die Landesgruppe Ägypten der NSDAP-Auslandsorganisation aufzubauen. Nach dem Untergang von Nazi-Deutschland residierte dann etwa der KZ-Arzt Hans Eisele unter dem Pseudonym Carl Debouche im vornehmen Kairoer Villenvorort Maadi. Oder dessen Kollege Aribert Heim, der aufgrund seiner Verbrechen im KZ Mauthausen auch bekannt war als «Dr. Tod» und «Schlächter von Mauthausen»: Die vorübergehende Nummer eins auf der Liste der meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher soll sich ab 1963 in Ägypten aufgehalten haben, als Konvertit namens Tarek Hussein Farid.
Nazis willkommen
Der ägyptische General Nasser betätigte sich als Headhunter. Nazis waren sehr gefragt in seinem antiisraelischen Staatsapparat. Im Standortwettbewerb bot Ägypten den Antisemiten die besten Bedingungen.
Weitum in der arabischen Welt waren Nazis willkommen. Während Hitler nach dem Holocaust fast überall der Inbegriff des Bösen war, eckte man in diesen Breitengraden «mit dem Bekenntnis, Hitler zu mögen, nirgendwo an», schreibt zuspitzend der Politikwissenschafter Matthias Küntzel in «Nazis und der Nahe Osten» (Hentrich & Hentrich, 2019).
Dass Südamerika nach dem Krieg zum Exil der Scheusale wurde, ist Allgemeinwissen. Hingegen sind die Verstrickungen des Nahen Ostens mit dem Nationalsozialismus weitgehend unbekannt. Als eine der wenigen hat Hannah Arendt auf die Nazi-Sympathien im arabischen Raum hingewiesen. In ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess 1961 notierte sie: «Die Zeitungen in Damaskus und Beirut, in Kairo und Jordanien verhehlten weder ihre Sympathie für Eichmann noch ihr Bedauern, dass er ‹sein Geschäft nicht zu Ende geführt› habe.«
Auch heute noch wird – offensichtlich aus Rücksichtnahme auf religiöse Befindlichkeiten – der Antisemitismus in der islamischen Welt wenig thematisiert. Dabei ist die Schwäche für Hitler manchmal geradezu offenkundig. Oder wer kennt sie nicht, die «beliebig austauschbaren Reiseerzählungen aus Casablanca, Kairo, Damaskus oder Bagdad, bei denen als Deutsche erkannte Touristen begeistert mit ‹Heil Hitler› begrüsst wurden»? Als «abseitige Schrulligkeit» würde dieses Verhalten abgetan, schreiben die Historiker Klaus-Michael Mallmann und Martin Cüppers in «Halbmond und Hakenkreuz» (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006). Tatsächlich offenbaren solche Gesten, wie salonfähig der Nazismus in Teilen der islamischen Welt weiterhin ist. Hitler hat bleibenden Eindruck hinterlassen.
«Mein Kampf» auf Arabisch
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war seine Popularität gross. 1938 wurde der deutsche Kämpfer gegen die Juden in arabischen Zeitungen gerne mit Mohammed verglichen. Und als im selben Jahr in Kairo eine Palästina-Konferenz stattfand, verteilte man neben dem antisemitischen Standardpamphlet «Die Protokolle der Weisen von Zion» auch arabische Versionen von «Mein Kampf».
Der Text wurde bloss leicht angepasst: Eine Passage, in der Hitler die «rassische Minderwertigkeit» der Araber anspricht und einem Bündnis mit einer «Koalition von Krüppeln» eine Absage erteilt, musste gestrichen werden. «In Anbetracht der heutigen politischen Lage» sei die Kürzung vertretbar, fand Hitler. Dass er sich flexibel zeigte, zahlte sich für ihn aus.
Hitler stellte «einen überragenden Exportartikel des Dritten Reiches» dar, wie Mallmann und Cüppers akribisch aufzeigen. Aus Teheran etwa habe der Botschafter und SS-Brigadeführer Erwin Ettel 1941 berichtet, dass Geistliche von Adolf Hitler als dem «zwölften Imam» sprächen, der von Gott gesandt worden sei.
Dasselbe Bild in Palästina: Der deutsche Konsul in Jaffa, Timotheus Wurst, schilderte schon 1936, dass die muslimischen Palästinenser «aufs Tiefste beeindruckt [seien] durch faschistische, vor allem nationalsozialistische Lehren und Anschauungen». Der Nationalsozialismus mit seinen judenfeindlichen Ansichten, fügte Wurst hinzu, habe bei den Arabern Palästinas im Kampf gegen den Zionismus «verwandte Saiten» aufklingen lassen.
Die erste Zweistaatenlösung
Mit der Ermordung von zwei Juden in Nablus hatte 1936 der sogenannte «arabische Aufstand» begonnen. Die Nazis suchten das Feuer der antijüdischen und antibritischen Revolte zu schüren. Der Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, vermittelte dem NS-Regime die ägyptische Muslimbruderschaft. Diese erhielt Waffen, Geld und NSDAP-Schulungen zur «Judenfrage».
Dank ihren Aktionen in Palästina wurde sie zur Massenbewegung. Zwischen 1936 und 1938 wuchs die Muslimbruderschaft von 800 Mitgliedern auf 200 000. Sie entwickelte sich «zum wichtigsten Träger des islamischen Antisemitismus in der arabischen Welt», wie Künzel schreibt.
Gleichzeitig stieg der Mufti zum grossen Alliierten der Nationalsozialisten auf. Aller Wahrscheinlichkeit nach stammt von ihm das Traktat «Islam und Judentum» von 1937, das als eine Art Gründungsdokument des islamischen Antisemitismus gelten kann. Darin wird eine ewige Feindschaft von Judentum und Islam behauptet, die übrigens auch nach einem Sieg über Palästinas Juden fortbestehen werde. Das NS-Regime liess das Pamphlet ab 1939 als «Aufruf des Großmufti« großflächig im arabisch-islamischen Raum verteilen.
Der Hitler-Mufti-Gipfel
Zusehends wurde der Mufti so allerdings auch zu einem Problem für die Briten. Vor ihrem Zugriff rettete er sich zunächst nach Iran, wo er sich in der japanischen Botschaft verschanzte. Von dort floh der konservative Sittenwächter dann, ironischerweise in Frauenkleidern, via Istanbul nach Rom. Mit Mussolini verstand er sich auf Anhieb. Anschliessend reiste er nach Berlin weiter, wo er am 28. November 1941 von Adolf Hitler empfangen wurde.
Für den deutschen Diktator, bekanntermassen kein Mann von Welt, war das Zusammentreffen zunächst ein Kulturschock. Nach arabischer Sitte dem Gast einen Kaffee zu servieren, kam für ihn nicht infrage. Einen Dolmetscher soll Hitler angeschnauzt haben: Er lasse nicht zu, «dass überhaupt jemand im Hauptquartier Kaffee» trinke. Der Führer verliess dann kurz den Raum, um sich zu sammeln. Als er zurückkam, liess er dem Mufti durch einen SS-Mann ein Glas Limonade bringen. Das Eis war gebrochen.
Hitler vermittelte dem Gast Einblicke in die soeben angelaufene Judenvernichtung. Er unterstrich, dass für Deutschland «selbstverständlich auch der Kampf gegen die jüdische Heimstätte in Palästina» zum Programm gehöre. Die Endlösung würde auf die 700 000 Juden in Nordafrika und im Nahen Osten ausgedehnt, versprach er.
Der Mufti und die Schweiz
Doch Ende 1943 kippte die Stimmung in Deutschland, und auch die deutschen Propaganda-Radios in Nahost änderten den Ton: Beim Berliner Sender «Die Stimme der freien Araber» erklärte man es zur Pflicht, sich auf eine düstere Zukunft vorzubereiten. Falls Nazi-Deutschland untergehe, müsse man zumindest dafür sorgen, dass auch das zionistische Projekt scheitere.
Noch im April 1945 erhielt der Grossmufti Gelder, die für die Schlachten in der Nachkriegszeit bestimmt waren. Laut SS-Brigadeführer Walter Schellenberg verfügte der alte und neue Palästinenserführer über «ausgezeichnete» Verbindungen in die Schweiz. «In schlauer Vorsicht» transferierte er laut seinem Biografen Joseph Schechtman «einen grossen Anteil seiner von den Nazis gestellten finanziellen Rücklagen» von Deutschland aus in die Schweiz und den Irak.
Er war gut gerüstet für den längerfristigen Kampf gegen die Juden. Und konnte sich auch bei den Alliierten bedanken, die sich scheuten, ihn als Kriegsverbrecher anzuklagen. Sie wollten keinen Krieg mit der arabischen Welt riskieren. Nicht zuletzt ein massenhaft verbreitetes Foto, das ihn im Gespräch mit Adolf Hitler zeigte, hatte den Mufti in islamischen Ländern zum Star gemacht.
Gleichzeitig waren die Muslimbrüder mit inzwischen mehr als einer halben Million Mitgliedern laut den amerikanischen Geheimdiensten machtvoll genug, «um 70 Millionen gläubige Muslime anzustacheln», wie Künzel konstatiert. Als eine amerikanisch-britische Kommission die Einreise von 100 000 Holocaust-Überlebenden nach Palästina empfahl, kündigten die Muslimbrüder ein Blutbad an. 70 Millionen Araber würden den Plan zu verhindern wissen, liessen sie verlauten: «Das Blut wird in Palästina wie Flusswasser fliessen.»
An dem Vorhaben hat sich nichts geändert. Die Hamas, die 1987 als Zweig der Muslimbruderschaft gegründet wurde, will auch nichts anderes als die Endlösung. Sie überträgt Hitlers Kampf in die Gegenwart. Ihre Charta von 1988 bezieht sich auf Hassan al-Bannā, den Begründer der Muslimbruderschaft. Es werden die «Protokolle der Weisen von Zion» zitiert, der Aufruf, Juden zu töten, steht in Artikel sieben.
Nazismus in Vollverschleierung
Auch wenn die Terrororganisation die Nazi-Ideologie in islamistischer Vollverschleierung trägt: Die Inspiration durch Hitler ist klar ersichtlich. Den Stil geprägt hat auch Sayyid Qutb, der 1950 mit seinem Aufsatz «Unser Kampf mit den Juden» das ideologische Bindeglied zwischen europäischem und islamischem Antisemitismus lieferte.
Die zahlreichen NS-Exilanten, die in der Region ihre neue Heimat fanden, taten ihr Übriges. Ein Walther Rauff etwa, der die Ermordung von Hunderttausenden Menschen in fahrbaren Gaskammern organisiert hatte: Er entkam nach Syrien und schleuste mehr als 50 deutsche Ex-Soldaten und frühere Mitglieder der SS ins Land. Nach Gestapo-Vorbild baute er die syrische Geheimpolizei auf. Der Kampf gegen Israel war ihm das zentrale Anliegen.
Oder der ehemalige SS-Standartenführer Erwin Baumann, der an der Liquidierung des Warschauer Ghettos beteiligt war und zunächst für das ägyptische Kriegsministerium arbeitete. Laut einem Bericht der jüdischen Wochenzeitung «The Sentinel» von 1967 brachte er seine Expertise in der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ein.
Die PLO wurde ab 1969 von Yasir Arafat geführt. Dessen Mentor war – der Mufti. Auch Arafats Nachfolger Mahmud Abbas, der 2005 zum Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde gewählt wurde, lässt auf den Mufti nichts kommen. Der Nazi-Stammbaum ist fein verästelt, die Ideologie wird weiter vererbt. Sich dieser Genealogie des Bösen zu verschliessen, hilft nicht. Um die Gewalt in Nahost zu verstehen, muss man sich die ideologische Kontinuität vergegenwärtigten. Alles entspringt dem gleichen braunen Strom, der nie versiegt ist.