Nach dem infamen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine haben es westliche Putin-Versteher nicht mehr so leicht. Und doch halten sie sich argumentativ über Wasser. Ein paar logisch klingenden Begründungszusammenhängen sei hier nachgegangen.
NZZ, Christoph Brumme 24.04.2022
Wenn du den Krieg willst, bereite den Krieg vor – russische Militärübung in Weissrussland im September 2021.
Putin-Versteher protestieren gern gegen das Wort «Putin-Versteher». Die Motive der Gegenseite verstehen zu wollen, das könne ja nicht schlecht sein, es sei ja sogar die Voraussetzung für Dialog und Friedenspolitik, lautet ihr logisch klingendes Argument. Und verstehen bedeute ja nicht, Verständnis zu haben oder Putins Handlungen gar zu verteidigen. Genau das aber tun die Putin-Versteher regelmässig.
Als Russland im Jahr 2014 schon mehrere Monate lang Krieg gegen die Ukraine im Donbass führte, behaupteten mehr als 60 deutsche Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien in einem Aufruf: «Niemand will Krieg!» Aber «Amerika, die Europäische Union und Russland treiben unausweichlich auf ihn zu, wenn sie der unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten».
Welche Drohungen oder Gegendrohungen von westlicher Seite an Russland angeblich ergangen sein sollen, wird nicht gesagt. Stattdessen wird behauptet, die Verantwortlichen im Westen riskierten durch ihr geschichtsvergessenes Handeln im gleichen Masse wie Russland einen Krieg. «Bei Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verlorengegangen.» Die Folge seien «die bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch den russischen Staat unter seinem Präsidenten Wladimir Putin».
Die Mär vom Triumphgeschrei
Die Schuld an der Konfrontation wird also beiden Seiten zugewiesen, obwohl die Fakten schon damals zeigten, wer der Aggressor und wer um Frieden bemüht war. Auch war «die Zusammenarbeit mit Moskau» nach dem Ende der Sowjetunion jahrelang in grosszügigster Weise unaufhörlich vertieft worden, trotz eklatanten russischen Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen wie in den Tschetschenienkriegen.
Die USA und die Nato-Staaten hatten zunächst einmal dafür gesorgt, dass Russland die einzige verbleibende Atommacht der ehemaligen Sowjet-Nachfolgestaaten blieb. Die Ukraine und Kasachstan übergaben ihre Atomwaffen an Moskau, das ausserdem noch 9 Milliarden Dollar von den USA für die Verschrottung dieser Waffen bekam. Eine äusserst seltsame Form von «Betrug durch den Westen» und angeblichem Triumphgeschrei über die Schwäche Russlands.
Warum nur wollen Putin-Versteher nicht in Russland leben?
Russland wurde zu den G-7-Treffen der wichtigsten Industriestaaten eingeladen, obwohl seine Wirtschaftskraft dies gar nicht ausreichend rechtfertigte. Mit der Unterzeichnung der Nato-Russland-Grundakte wurde Russland auch zum privilegierten Partner der Nato ernannt. Russlands Sicherheitsinteressen waren auch respektiert worden, indem in den baltischen Staaten die Nato-Präsenz nur in symbolischer Weise erfolgte, mit nur 1500 Nato-Soldaten.
Etliche Male wurden Russland von westlicher Seite «Modernisierungspartnerschaften» im beiderseitigen Interesse angeboten. Die Beispiele liessen sich endlos fortsetzen. Dass jemals ein Vertreter der Nato oder ein verantwortlicher Politiker im Westen der Atommacht Russland militärisch gedroht hätte, ist indessen nicht bekannt.
Rechnen müsste man können
Um die Putin-Ideologie zu rechtfertigen und Russlands angebliche Bedrohungsgefühle zu erklären, verweisen Putin-Versteher gern auf die Rüstungskosten der Nato. Die Nato-Länder verfügen über Militärbudgets in Höhe von 1100 Milliarden Dollar, während das bescheidene, friedliche Russland angeblich mit fast einem Zwanzigstel dieser Geldsumme auskommt, mit nur 61 Milliarden Dollar.
Das ist ein Klassiker im Argumentationsrepertoire der pazifistischen Selbstbefriedigung, leicht zu verstehen und einfach schön. Tagtäglich wird dieser Vergleich in politischen Talkshows und Bundestagsdebatten vorgebracht, in sozialen Netzwerken ständig wiederholt. So auch im letzten pazifistischen Grossappell mit dem Motto «Nein zum Krieg – gemeinsam stoppen wir den Rüstungswahnsinn!». Diesmal erstunterzeichnet nicht bloss von 60, sondern von mehr als 600 Prominenten. «Schon jetzt übersteigen die ‹Verteidigungsausgaben› aller dreissig Nato-Staaten die russischen um fast das Zwanzigfache», argumentieren sie. Verteidigungsausgaben in Anführungszeichen, womit man signalisiert, dass es auch Angriffsausgaben sein könnten.
Das entwicklungsgeschichtliche Niveau dieses Arguments entspricht allerdings dem von Vorschulkindern. Denn im ersten Schuljahr lernen Kinder schon die Zahlen von 1 bis 100 und die Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division kennen, sie vergleichen nicht mehr bloss zwei willkürlich ausgewählte Zahlen miteinander. Die «Schülerbank der Gegenwart» (Shakespeare) ist für kindliche Erwachsene aber offenbar zu hart.
Wie schaffen es die Russen nur, mit beinahe nur einem Zwanzigstel des Militäretats der Nato ihr militärisch ebenbürtig und in Teilen sogar überlegen zu sein? In Russland gelten offenbar andere ökonomische und mathematische Gesetze als im Westen. Wie können sie dort mit viel weniger Geld die angeblich schnellsten Raketen der Welt bauen und genauso viele Atomwaffen wie die USA einsatzbereit halten? Wieso schätzt man die theoretische Kampfkraft aller Nato-Armeen nur etwa vier bis fünf Mal höher ein als die Russlands? Wie kann Russland mit etwa der gleichen offiziell angegebenen Summe knapp eine Million aktive Soldaten finanzieren, Grossbritannien aber nur 190 000?
Schüler der Unterstufe könnte man darauf hinweisen, dass Arbeiter und Angestellte in amerikanischen Rüstungsfabriken etwa fünf bis sechs Mal höhere Löhne und Gehälter bekommen als ihre russischen Kollegen. Ebenso Soldaten, Offiziere, ziviles Personal. Westliche Rüstungsfirmen müssen sich gegen Konkurrenten durchsetzen und konkurrenzfähige Löhne zahlen, wenn sie staatliche Rüstungsaufträge bekommen wollen, russische nicht. Westliche Waffenfabriken sind private Unternehmen, russische mehrheitlich staatliche. In Russland kann die Regierung befehlen, welche Aufträge zu welchem Preis auszuführen sind.
Koryphäen und ihre Meinungen
Weiterhin ist der Faktor X zu bedenken. Russland deklariert nicht alle seine vielen Militäretats öffentlich, was in internationalen Studien, auf die sich Putin-Versteher gerne beziehen, regelmässig ignoriert oder unterschätzt wird.
Viele Putin-Versteher und Möchtegernpazifisten bestätigen derzeit ihr kindliches Denkniveau auch gern mit der Entschuldigung, sie seien «früher vielleicht naiv» gewesen (Ingo Schulze ), als sie einen Grossangriff Russlands auf die Ukraine kategorisch ausgeschlossen und diese Möglichkeit als westliche Kriegstreiberei abgetan hätten. Naiv bedeutet bekanntlich leichtgläubig, gedankenlos, unwissend, leicht verführbar. Eben wie Vorschulkinder, die nur mit dem Herzen denken. Mit dem Unterschied, dass die Kinder ihre Hände nicht in Blut tauchen, wenn sie mit falschen Behauptungen für Räuber und Mörder um Verständnis bitten, wie das die erwachsenen Kriegsermöglicher notgedrungen tun.
Erstaunlich ist immer wieder, dass die meisten der öffentlich sich äussernden Putin-Versteher gar kein Russisch verstehen oder nur sehr schlecht, wie kürzlich auch der Schriftsteller Ingo Schulze über sich einräumte, der beide obengenannten Putin-Versteher-Manifeste unterschrieb. Nun, im argumentativen Vorschulalter hat man noch keinen Fremdsprachenunterricht.
Man kann die Dialektik der Putin-Versteher auch gegen diese selber ausspielen – warum verstehen sie denn eigentlich den Westen nicht? Warum versuchen sie es nicht wenigstens und fragen Erwachsene um Rat, Offiziere etwa, die ihnen erläutern könnten, dass 1500 Nato-Soldaten keine ernsthafte Bedrohung für 150 000 russische Soldaten sein können? Warum gelangen die Leute vom Fach zu anderen Urteilen als sie und sehen durchaus ernsthafte militärische Gefahren für westliche Länder?
Wenn die Nato-Pressesprecherin behaupten würde, sie sei eine bessere Schauspielerin als die Friedensappell-Unterzeichnerin Corinna Harfouch, würde man nur lachen. Koryphäen wie der Filmregisseur Wim Wenders, der Schriftsteller Christoph Hein oder die Theologin Margot Kässmann bilden sich ja ein, militärische Sachverhalte besser beurteilen zu können als Spezialisten, wenn sie in dem Appell statuieren: «Die Anschaffung von konventionellen Waffen wie Kampfjets und bewaffneten Drohnen zur Abschreckung unter atomaren Militärblöcken ist sinnlos.» Alles unter der Atombombe ist sinnlos, wenn man sowieso kapitulieren will, oder wie? Oder sollen westliche Soldaten mit Schweizer Sackmessern gegen feindliche Panzer kämpfen?
Neutralität und Pazifismus sind vielleicht dann eine Option, wenn sich zwei Kräfte bekriegen, die im gleichen Masse Menschenhass, Grausamkeit und Rechtlosigkeit verkörpern. Bei der Wahl seines Exils entschied sich der von den Nazis verfolgte Bertolt Brecht dann doch lieber als für Stalins Vielvölkergefängnis für das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, die demokratischen USA, wo er frei und ungestraft über die Barbarei des Kapitalismus schimpfen konnte.
Warum nur wollen Putin-Versteher nicht in Russland leben?
Der Schriftsteller Christoph Brumme, 1962 im ostdeutschen Wernigerode geboren, lebt seit 2016 in der ostukrainischen Stadt Poltawa. 2019 ist bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen: «111 Gründe, die Ukraine zu lieben. Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt».