Weltwoche, 29.12.2021,Thomas Renggli
Mit Waldameisen gegen Nasa-Satelliten: Der Muotathaler Wetterschmöcker Martin Horat hält die Klimadebatte für übertrieben. Er hat gute Argumente.
Er ist das bekannteste Gesicht der Muotathaler Wetterschmöcker. Dank dem Fernsehen wurde er zu einem Star, dank seiner träfen Sprüche ging er in die Volkskultur ein. Martin Horat prophezeit das Wetter aufgrund der Beobachtung von Waldameisen. Was die Diskussion um Klimaveränderung, steigende Temperaturen und verschwindende Gletscher betrifft, hat er eine klare Meinung: «Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Und ob der Mensch wirklich an allem schuld ist, wird sich erst in ferner Zukunft sagen lassen.» An die Klimajugend hat der 77-jährige Landwirtschaftsgeräte-Händler aus Rothenthurm SZ eine dezidierte Botschaft: «Verschwendet eure Zeit nicht mit Demonstrieren. Wegen ein paar Menschen auf der Strasse ändert sich das Klima nicht.»
Gegen die Wissenschaft
Horat stellt sich mit seiner Einschätzung der Wissenschaft entgegen. Die Zahlen lassen kaum Raum für Missverständnisse: Gemäss US-Raumfahrtbehörde Nasa war 2020 das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Seit dem späten 19. Jahrhundert ist die Erdtemperatur im Durchschnitt um mehr als 1,2 Grad Celsius angestiegen. Die durchschnittlichen globalen Temperaturen im Jahr 2020 lagen ein Grad über dem Durchschnittswert der Jahre 1951 bis 1980. Das vergangene Jahrzehnt war das wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen. Die sechs wärmsten, durch Wetterdaten dokumentierten Jahre auf der Erde fallen allesamt in den Zeitraum nach 2015, die zehn wärmsten verteilen sich über die letzten fünfzehn Jahre. In den letzten 44 Jahren in Folge überstiegen die Temperaturen die im 20. Jahrhundert erreichten Durchschnittswerte.
Die Schweiz ist überdurchschnittlich stark betroffen: Im 20. Jahrhundert nahm die mittlere Temperatur um 1,4 Grad zu – verglichen mit 0,6 Grad weltweit. Bis 2050 werden in der Schweiz gemäss ETH die Sommertemperaturen um 2,7 Grad steigen, die Wintertemperaturen um 1,8 Grad. Bei diesen Zahlen ist die Unsicherheit aber relativ gross. Der prognostizierte Anstieg beträgt je nach Modell zwischen 1,4 und 4,7 Grad.
So viel zu den Fakten der meteorologischen Anstalt in Zürich und den satellitenübermittelten Daten aus dem Weltall. Im Muotathal stehen die Menschen aber noch mit beiden Füssen auf dem Talboden und glauben nicht alles, was in den grossen Städten erzählt wird. Sie sind eher Wiesenschaffer als Wissenschaftler. So kommt Martin Horat zu einem anderen Schluss als die akademische Konkurrenz: «Es stehen uns in Mitteleuropa wieder kältere Zeiten bevor.» Die Erdachse verschiebe sich, und deshalb kühle sich das Klima in unseren Breitengraden wieder ab.
Horat stellt die Zahlen der Nasa nicht grundsätzlich in Frage, deren Interpretation aber schon: «Wir befinden uns in einer Phase mit steigenden Temperaturen. Ob es sich aber wirklich um eine Klimaerwärmung handelt, lässt sich erst in tausend Jahren sagen.» Es gelte: «Das Klima befindet sich in einem ständigen Wandel. Man muss die historische Entwicklung kennen, um die Gegenwart zu verstehen.»
«Zwischen 1600 und 1616 erlebten wir die fünf heissesten und die fünf kältesten Jahre der Geschichte.»
Wetterchroniken aus dem Kloster
Er nennt konkrete Beispiele: Zwischen den Jahren 1530 und 1564 war es in der Schweiz sehr heiss. In dieser Zeit schmolz der Grindelwaldgletscher um 1500 Meter. Zwischen 1565 und 1592 folgte eine extreme Kälteperiode. Der gleiche Gletscher wuchs wieder um 1200 Meter.»
1573 erlebte die Schweiz eine umfassende «Seegfrörni» – ein Ereignis, das sich seither in mehr oder weniger regelmässigen Abständen wiederholte: 1784, 1829, 1963. Horat bezieht sein historisches Wissen unter anderem aus den Niederschriften des Klosters Einsiedeln. Hier wurde 1863 im Auftrag der Naturforschenden Gesellschaft der Schweiz die erste Wetterbeobachtungsstation des Landes eingerichtet.
Horat hat sich beim Wetterchroniken ein erstaunliches Wissen erarbeitet: «Damit die grossen Seen wieder zufrieren, braucht es nicht nur eine längere Kältephase, sondern auch eine ganz besondere Konstellation. Es muss früh schneien – und dann wieder wärmer werden. Dadurch gelangt kaltes Schneewasser in den See, das bei einem neuerlichen Temperaturabfall besser gefriert.» Im Winter 2011/2012 sei es in der Schweiz während sechs Wochen sehr kalt gewesen. Weil der Schnee aber nicht mitgespielt habe, seien nur kleinere Seen vollständig gefroren.
Horat blättert in den Chroniken des Klosters Einsiedeln: «Zwischen 1600 und 1616 erlebten wir die fünf heissesten und die fünf kältesten Jahre der Geschichte. Im Januar 1616 gefror die Aare bei Bern, so dass die Kinder zwischen Matte und Marzili auf dem Eis spielen konnten.» Im folgenden Sommer notierten die Chronisten die stärkste Hitzewelle der vergangenen fünf Jahrhunderte: «Zwischen dem 10. Juli und dem 2. August 1616 war es so heiss und trocken, dass im Kanton Schwyz Bäume und Wiesen brannten.» Zwei Jahre später zeigte sich das Wetter von seiner nässesten Seite: «Wolkenbruch im Berg Egeri, dass das Wasser zu Inwyl über den Altartisch und in Zug über den Taufstein floss», heisst es in den Aufzeichnungen.
Welche Folgen dies für die Bevölkerung hatte, machen die Einträge der nächsten Jahre deutlich: 1619: «Grosse Teuerung.» 1622: «Missjahr und teure Zeit.» 1623: «Sehr kalter Winter.» 1624: «Hat man alles Geld um das Halbe abgerufen.» 1629: «Grosse Teuerung und Hungersnot im Land Schwyz.»
Damals war weder von Inflation oder einer Klimaveränderung die Rede. Heute dagegen wird in Klimafragen von Wissenschaftlern und Medien vieles sehr heiss gegessen. Als klarstes Zeichen der Klimaerwärmung im Alpenraum gilt der Rückgang der Gletscher. Von den rund 200 Kubikkilometer Eis in den Alpen sind seit 1850 rund zwei Drittel verschwunden. Im letzten Jahrzehnt war die Gletscherschmelze stärker denn je. Beispielsweise wurde im Nährgebiet des Grossen Aletschgletschers beim Jungfraujoch im September 2020 die geringste Schneehöhe seit Messbeginn vor hundert Jahren gemessen. Schweizweit gingen allein 2020 fast 2 Prozent des gesamten Gletschervolumens verloren.
«Das Klima ist nicht wie ein Rad, das sich gleichmässig dreht.»
Horat zieht an seiner Pfeife, stösst gelassen eine Rauchwolke aus: «Das Klima lässt sich nur in viel grösseren Zeiträumen beurteilen. Es verändert sich zyklisch und war in den vergangenen fünf Millionen Jahren immer wieder grossen Schwankungen unterworfen.» Er blättert in der Chronik und bleibt bei den Einträgen des Jahres 1709 hängen: «Da erlebte das alte Land Schwyz einen der härtesten Winter. Die Linth bei Glarus war zugefroren. Das Vieh musste vielerorts in die Stuben genommen werden.» Auch die Restschweiz war betroffen: «In Genf wurden die Kinder Tag und Nacht in den Betten behalten, im Neuenburger Jura rissen hungrige Wölfe zwei Frauen. In Zürich gefror der See bis zur Limmat. Die Temperatur lag zwischen 25 und 30 minus. Landauf, landab war von gefrorenen Gliedern die Rede. In den Wäldern platzten Bäume auf, dass es geklepft habe wie grobes Geschütz.»
Weiter hinten im dicken Dossier stösst er auf eine andere Besonderheit der Wettergeschichte: «1785 hielt die Schneedecke volle fünf Monate lang. Allein in der Nacht vom 12. auf den 13. März fielen die Schneeflocken so intensiv, dass in der Stadt Bern der Schnee an etlichen Orten fünf Schuh hoch lag (90 bis 150 cm). Sogar im Sommer schneite es bis ins Flachland.»
Rückendeckung vom Historiker
Im Gegensatz dazu gab es zwischen 1918 und 1922 bis in höhere Lagen gar keinen Schnee. 1920 ist vom «längsten goldenen Herbst» im 20. Jahrhundert die Rede – mit 47 Tagen ohne Niederschlag. Das Jahr 1921 wird vom Chronisten als «Trockenjahr ersten Ranges» bezeichnet. Nie habe es den vier Jahreszeiten so wenig Niederschlag gegeben. Jener Sommer sei der heisseste und trockenste seit über 120 Jahren gewesen.
Überhaupt hätten schon seine Urväter über eine Klimaerwärmung klagen müssen, so Horat: «Vor 500 bis 600 Jahren gab es bei uns eine längere Phase mit noch wärmerem Wetter als heute. Dies lässt sich an der Bewaldung bei Riemenstalden erkennen. Die geht bis auf 1700 Meter hoch. Dies wäre nie möglich gewesen, wenn es früher nicht deutlich wärmer gewesen wäre.»
Unterstützung erhält Horat vom Schwyzer Historiker Walter Laimbacher. Akribisch trug der heute 93-jährige Wetterarchivar auf 263 A4-Seiten die Wetterentwicklung in der Region Schwyz während der vergangenen tausend Jahre zusammen. Er beruft sich auf wissenschaftliche Fachzeitschriften und offizielle Statistiken als auch auf mündliche Überlieferungen von Zeitzeugen sowie Beobachtungen und Aufzeichnungen der Muotathaler Propheten.
Bis zu 75 Prozent richtige Prognosen
Laimbacher macht einen interessanten Vergleich: «Das historische Gedächtnis der Menschen ist in Sachen Klima seit je erstaunlich kurz. Da sich die Bedingungen in den vergangenen 10 000 Jahren im Rahmen derjenigen der letzten Jahrhunderte bewegten, ist anzunehmen, dass die Anomalien seit 1525 im Rahmen der Extremwerte seit der letzten Kaltzeit (vor rund 115 000 Jahren) liegen.»
Auch Martin Horat mahnt zu Gelassenheit: «Die Welt ist momentan ein bisschen vergrippt – in jeder Beziehung. Das legt sich wieder.» Es heisse, dass es in den letzten drei Millionen Jahren 44 Eiszeiten gab. Dann gab es auch 44 Wärmephasen – und die fanden nicht immer im gleichen Zeitraum statt: «Das Klima ist nicht wie ein Rad, das sich gleichmässig dreht.» Auf die Frage, ob er für seine Aussagen auch schon kritisiert oder angefeindet worden sei, schüttelt er den Kopf. In der Schweiz gelte glücklicherweise die Meinungsfreiheit. Und er könne seine Aussagen belegen: «Vor 500 Jahren hatten wir dasselbe Wetter wie jetzt, obwohl es damals noch keine Autos und Fabriken gab. Die paar Autos, die hier rumfahren, können das Klima doch nicht beeindrucken.»
Auf Allwissenheit pocht der Mann nicht, aber er sagt auch: «Wir liegen mit unseren Prognosen zwischen 70 und 75 Prozent richtig. Vor sechzehn Jahren kamen wir mit gelehrten Meteorologen aus Zürich zusammen. Damals hiess es, dass deren Prognosen dank der Satellitentechnik zu 72 Prozent stimmten – später soll sich dieser Wert um 10 Prozent gesteigert haben.» In diese Rechnung müsse man aber den Kostenfaktor einbeziehen: «Waldameisen sind wesentlich günstiger als Satelliten.»