Erdogan, der «neue Saladin» | NZZ

Erdogan, der «neue Saladin»

Die Al-Kuds-Kampagne der Türkei ist ein weiterer Beleg für deren fortschreitenden Wandel hin zum Islamismus. Der Schulterschluss mit Hamas-Ideologen, die Selbstmordattentate befürworten, gehört dazu.

Joseph Croitoru 28.10.2018, 18:02 Uhr

Die Ankündigung der Verlegung der amerikanischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem hat im Dezember 2017 auch viele Türken auf die Strasse getrieben. In Istanbul protestieren sie mit der türkischen und der Palästinenserflagge. (Bild: Osman Orsal / Reuters)

Dass die türkische AKP-Regierung den Islamismus zunehmend zu ihrer Leitideologie erhebt, offenbart besonders auch ihre energisch betriebene Kampagne zum Schutz des islamischen Ostjerusalem. Sie steht im Zeichen des Neoosmanismus der Regierung Erdogan, die osmanische Baudenkmäler in Ostjerusalem wie auch im israelischen Kernland als türkisches Erbe betrachtet, weshalb staatsnahe türkische Stiftungen sich dort immer intensiver engagieren. Damit einher geht der stetige Ausbau der türkischen Beziehungen zu führenden arabischen Islamisten, die den Muslimbrüdern nahestehen und sich auch aus den Reihen der palästinensischen Hamas rekrutieren.

Mit deren im Exil agierenden militanten Rechtsgelehrten von der 2009 ins Leben gerufenen «Gesellschaft palästinensischer Gelehrter in der Diaspora», die seit 2015 ihren Sitz in Istanbul hat, arbeiten nicht nur die erwähnten türkisch-islamistischen Stiftungen, sondern längst auch das religiöse türkische Establishment offen zusammen. Immer enger wird dessen Verhältnis auch zur «Internationalen Union muslimischer Gelehrter», die von dem in Katar ansässigen einflussreichen ägyptischen Rechtsgelehrten und Muslimbruder Yusuf al-Karadawi angeführt wird und die ebenfalls seit 2015 am Bosporus vertreten ist – seit Anfang 2017 mit eigenen Büros.

Jihad-Parolen

Die Türkei nutzt diese Kontakte, um sich als Schutzherrin nicht nur der Jerusalemer Heiligtümer, sondern auch jenes arabischen Islamistenlagers zu inszenieren, das seinen einstigen Unterstützern in Saudiarabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten heute als Erzfeind gilt: Sowohl die internationale Gelehrten-Union als auch die Gesellschaft der palästinensischen Diaspora-Gelehrten wurden im November 2017 von der saudischen Regierung auf eine Terrorliste gesetzt. Dass die Türkei diese Organisationen hofiert, hat die wachsenden Gräben zwischen Ankara, das neuerdings die Führung in der sunnitischen Welt beansprucht, und Riad tiefer werden lassen. Im März hatte der saudische Kronprinz die Türkei sogar als Teil eines «Dreiecks des Bösen» bezeichnet, zu dem er noch Iran und die militanten Islamisten zählt.

Ankaras Antwort ist eine weitere Zementierung seines Bündnisses mit dem islamistischen Lager. Im Juli wurde in Istanbul die bereits zweite Jahreskonferenz zum Schutz des Tempelberges abgehalten. Flammende Reden hielten dort vor rund 400 Teilnehmern aus der islamischen Welt neben den führenden Köpfen der genannten Gelehrten-Organisationen auch deren türkische Gesinnungsgenossen. Darunter ist etwa der frühere Leiter des staatlichen Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) Mehmet Görmez, der in diesen Kreisen seit seiner 2015 mit Jihad-Parolen gewürzten Kampfrede in der Al-Aksa-Moschee besonderes Ansehen geniesst.

Das türkische Religions-Establishment wurde auf der Konferenz von dem ehemaligen Stellvertreter von Görmez und heutigen Mufti von Istanbul, Hasan Kamil Yilmaz, vertreten. Wie andere Redner verurteilte auch Yilmaz die gewaltsame «Usurpation» des islamischen Jerusalem durch die «feindlichen» Zionisten, die «Befreiung» müsse gemeinsames Ziel aller Muslime sein. Um die Emotionen noch weiter zu schüren, malte der Istanbuler Mufti seine Vision von einem neuen Saladin, der bald wieder über die Stadt herrschen werde. Auch wenn der vermeintliche Retter nicht beim Namen genannt wurde, so dürften die Zuhörer gewusst haben, wer damit gemeint war. Staatspräsident Erdogan wird von arabischen Islamisten nämlich schon seit einiger Zeit als «neuer Saladin» verehrt.

Rechtfertigung von Attentaten

Erdogan selbst, der Israel wieder als Terror- und Besatzungsstaat zu diffamieren pflegt, hat die Muslime mit Verweis auf das Vorbild des einstigen Eroberers von Jerusalem wiederholt dazu aufgerufen, in Massen in die Stadt zu pilgern. Bereits unter Görmez als Diyanet-Chef begann dessen Behörde – auch über ihren schweizerischen Ableger ITDV und die deutsche Ditib – Pilgerreisen nach Ostjerusalem zu veranstalten. Manch eine dieser Reisegruppen hat die Israeli schon mit Demonstrationen auf dem Tempelberg provoziert, bei denen Transparente mit der türkischen Fahne und dem Konterfei Erdogans hochgehalten wurden. Auch unter seinem seit September 2017 amtierenden Leiter Ali Erbas setzt das Diyanet diesen Kurs unbeirrt fort – eine Haltung, die auch Erbas’ Twitter-Seite demonstriert, auf deren Logo ein Foto des Tempelbergs erscheint.

Wichtige palästinensische Partner der türkischen Al-Kuds-Aktivisten waren lange Zeit die Mitglieder der in Israel beheimateten Islamischen Bewegung, die Ende 2015 von der israelischen Regierung wegen ihrer Provokationen auf dem Tempelberg verboten wurde. An ihrer Stelle agieren nun palästinensische Islamisten, die der Hamas angehören oder ihr nahestehen. Ein Beispiel ist der Hamas-Ideologe Nawaf al-Takruri, Vorsitzender der Gesellschaft palästinensischer Gelehrter in der Diaspora. Bei militanten Islamisten gilt Takruri als wichtige Autorität, seit er 1997 das Pamphlet «Die Märtyrertod-Operationen aus der Sicht des Religionsgesetzes» veröffentlichte, das Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten rechtfertigt.

Der Palästinenser ist schon seit einigen Jahren auf internationalen Konferenzen islamischer Rechtsgelehrter, die in der Türkei unter der Ägide des Diyanet vermehrt stattfinden, ein gerngesehener Gast. Auf einem dieser Treffen, das im Frühjahr 2017 in der türkischen Stadt Sanliurfa stattfand, referierte Takruri über den «Unterschied zwischen legitimem Widerstand und Terrorismus». Als Beispiel für Letzteren nannte er in einem Atemzug die Kreuzzüge, Hiroshima und Massaker, die von den Israeli an Palästinensern nicht nur während des Israelisch-Arabischen Kriegs von 1948 begangen wurden, sondern auch, wie Takruri behauptete, an «Tausenden palästinensischen Kindern in den Schulen im Gazastreifen, im Westjordanland und in Libanon» verübt worden sind.

Radikale Theoretiker

Selbstmordattentätern attestierte er ein besonders gewissenhaftes Verhalten: In ihrem wahren Jihad sähen sie von einer Selbstsprengung ab, wenn in dem anvisierten Bus Kinder sässen. So weit die Theorie. Aber die blutige Geschichte der Selbstmordattentate in Israel lehrt bekanntlich das Gegenteil, und Takruri war derjenige, der seinerzeit den Suizidterroristen das ideologische Rüstzeug lieferte: Er sprach sich damals zwar grundsätzlich gegen das Anvisieren von Kindern bei Selbstmordanschlägen aus, billigte aber letztlich, quasi als Kollateralschaden, doch ihre Tötung. Dass Takruris extremistische Parolen heute in dem Nato-Land Türkei von offizieller Seite gutgeheissen werden – sein Tagungsbeitrag steht in einem Sammelband, den türkische Universitätsprofessoren im Verlag der Provinzverwaltung Sanliurfa herausgegeben haben –, ist ein Skandal. Zumal Takruri mittlerweile in Regierungskreisen herumgereicht wird. Kürzlich wurde er von Selim Argun, dem stellvertretenden Diyanet-Chef, in dessen Büro in Ankara empfangen.

Noch ein weiteres prominentes Hamas-Mitglied, der Islamwissenschafter Abdelfatah al-Awaisi, macht derzeit in der Türkei Karriere. Er ist Vater der Disziplin Islamic Jerusalem Studies, die zum Ziel hat, die okzidentale Sicht auf die Geschichte Jerusalems zu «korrigieren», und jedweden jüdischen Anspruch auf die Stadt leugnet. Awaisi war unter den mehr als 400 von Israel 1992 nach Libanon deportierten militanten Islamisten, die, ehe sie zurückkehren durften, dort monatelang im Niemandsland ausharrten und berühmt wurden.

Einige Jahre später wurde mit Geldern aus Dubai für Hamas-Ideologen im schottischen Dundee ein Forschungsinstitut eingerichtet, das 2011, als das Golfemirat mit den Islamisten brach, geschlossen wurde. In der Türkei fand der Palästinenser neue Unterstützer. Dort ist al-Awaisi nun Leiter des neuen «Forschungszentrums für Jerusalem-Studien», das Ende Juli an der Universität für Sozialwissenschaften in Ankara eröffnet wurde.

Joseph Croitoru ist freier Historiker und Journalist und lebt bei Freiburg i. Br. Schwerpunkte seiner Arbeit sind der Nahe Osten und Osteuropa.