Zeitgeist in Deutschland: Wo bleibt das Bürgertum?

Wer dem Zeitgeist nachrennt, kann nur verlieren: Deutschlands Bürgerliche wollten am Katzentisch der Progressiven sitzen – und stehen jetzt aussen vor

Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, dachte man, gesellschaftspolitisch sei das Ende der Geschichte erreicht. Was für ein Irrtum!

Jung, locker und hip, so ist das neue urbane Bürgertum: Sonntagsspaziergang auf dem Tempelhofer Feld in Berlin.

Jung, locker und hip, so ist das neue urbane Bürgertum: Sonntagsspaziergang auf dem Tempelhofer Feld in Berlin.

In Deutschland steuert die CDU der grössten Wahlkatastrophe ihrer Geschichte entgegen. Von der stolzen Volkspartei ist wenig übrig geblieben: weder Stolz noch das Volk. Ihre Ehre hat die Union schon lange verraten. Würdelos hechelt man dem Zeitgeist hinterher. Weshalb die Wähler allenfalls noch gelangweilt und ohne jede Begeisterung das Kreuz bei den Christlichdemokraten macht.

Es rächt sich nun, dass man grössere Einbrüche in der Wählergunst in den letzten Jahren vermeiden konnte. Und das, obwohl man Entscheidungen traf, die der Stammwählerschaft nicht gefielen: die Aussetzung des Wehrdienstes, der Ausstieg aus der Atomkraft, die Flüchtlingspolitik von 2015. So konnte man sich der fatalen Täuschung hingeben, die schleichenden Stimmenverluste seien lediglich auf die lange Herrschaft Merkels und eine gewisse Übersättigung zurückzuführen.

Dass das Problem viel tiefer liegt, wurde ignoriert. Stattdessen warf sich die Union dem politischen Zeitgeist an den Hals, um zumindest ein Plätzchen am Katzentisch der Progressiven und Weltoffenen zu ergattern. So begann die Selbstverzwergung im Namen sogenannter Modernität. Ein unwürdiges Schauspiel, inszeniert von irrlichternden Parteistrategen.

Der Irrtum der Liberalen

Als Angela Merkel 2005 an die Macht kam, konnte man sich noch der Illusion hingeben, die Zukunft werde zwar digitaler, globalisierter, automatisierter und vernetzter, doch gesellschaftspolitisch sei das Ende der Geschichte erreicht. Der kulturelle Sieg des Liberalismus schien absolut. Bedrohungen der Freiheit sahen die Auguren allenfalls in Fernost und der Dystopie eines autoritären Kapitalismus chinesischer Prägung. Dass der Liberalismus selbst sich einmal in der Gestalt seiner linksliberalen Mutationen zu einer Gefahr für die Freiheit entwickeln könnte, erschien absurd. So kann man sich irren.

Denn revolutionärer noch als die technische Entwicklung gestaltete sich in den 2000er Jahren die gesellschaftliche. Die Digitalisierung, häufig zum epochalen Ereignis stilisiert, erwies sich im Vergleich mit dem seit der Jahrtausendwende forcierten kulturellen Umbau geradezu als Petitesse. Es wurde ein gesellschaftspolitischer Prozess in Gang gesetzt, der auf nichts anderes hinausläuft als auf die Dekonstruktion gesellschaftlicher Grundwerte. Und dies, ohne dass seitens des politischen Konservatismus Widerstand spürbar wurde.

Die Familie wurde von der bürgerlichen Kernfamilie zur allgemeinen Partnerschaft uminterpretiert. Zentrale gesellschaftliche Positionen in Wirtschaft und Politik dürfen nicht mehr nur nach Geschlecht besetzt werden, sondern müssen wohl bald schon auch nach sexueller Präferenz und ethnischen Kriterien quotiert werden. Der literarische Kanon wird einer kritischen Prüfung unterzogen und nach diskriminierenden Formulierungen oder Handlungsmotiven durchforstet.

Kunstwerke werden umbenannt, desgleichen Strassen und Plätze. Denkmäler wurden gestürzt. Wissenschaftliche Kategorien wie das biologische Geschlecht werden im Namen eines instrumentalisierten Minderheitenschutzes ausser Kraft gesetzt. Zugleich wird in Alltagsgewohnheiten von Menschen eingegriffen, beispielsweise um Einfluss zu nehmen darauf, dass sie sich ja umweltfreundlich fortbewegen und gesund essen. Die freiheitliche Gesellschaft soll zu einer durchreglementierten, rundum betreuten Gesellschaft der Behüteten werden.

Symbol dieser autoritären Interventionen ist die verfügte Umschreibung der deutschen Sprache. Ein ursprünglich esoterisches Vokabular, das zuvor allenfalls in revolutionären Student*innen-Cafés oder Antifa-Initiativen benutzt wurde, wird mithilfe von Medien, staatlichen Institutionen und Kultureinrichtungen sukzessive in die Gesellschaft eingespeist. Was in den 1990er Jahren unterschwellig begann, hat sich zu einer Strömung formiert, die die Werteordnung der Gesellschaften Nordamerikas und Westeuropas wesentlich prägt – im Namen von Wokeness, Gendergerechtigkeit, Postkolonialismus und Vielfalt.

Auslöser dafür war ein gesellschaftlicher Strukturwandel, der immer mehr Schulabgänger in die Universitäten und in der Folge immer mehr Hochschulabsolventen mit linken gesellschaftspolitischen Überzeugungen in Redaktionsstuben, Kulturinstitutionen, Stiftungen und Universitäten trieb. Antonio Gramscis Traum von der Erringung der kulturellen Deutungshoheit durch die Besetzung meinungsbestimmender Schlüsselpositionen wurde Realität.

Der sogenannte Fortschritt

Hinzu kam ein durch den Massenwohlstand forcierter alltagskultureller Wandel, der Projekte wie Diversity und Inklusion im Zeichen von Emanzipation und Selbstverwirklichung anschlussfähig an den Zeitgeist machte. Und ein Wandel der politischen Kultur: Verstanden sich weite Teile des Bürgertums bis in die 1980er Jahre als konservativ oder liberal-konservativ, so rückten weite Teile der gehobenen Mittelschicht spätestens nach der Jahrtausendwende nach links.

Klassische Sekundärtugenden wie Gehorsam, Ordnung und Pflichterfüllung kamen endgültig aus der Mode. Man gab sich lieber unkonventionell, spontan und lebenslustig. Statt fester Regeln reüssierte man nun mit Offenheit, Neugier und Toleranz. Das «Sie» begann abzudanken, flache Hierarchien wurden gepredigt. Das urbane Neubürgertum in den westlichen Städten gab sich nicht nur technisch, sondern auch gesellschaftspolitisch fortschrittsorientiert.

Der strategische Kardinalfehler des traditionellen Konservatismus und Liberalismus lag darin, sich einzubilden, man könne sich ohne Schaden dem Zeitgeist anpassen. Man träumte von einer modernen Grossstadt-Bürgerlichkeit, die sich den neuen, urbanen Milieus anbiedert, und schaltete auf Schmusekurs. In Schlüsselfragen der Energie-, Sicherheits- und Migrationspolitik übernahm man Positionen des politischen Gegners. Auf gesellschaftspolitischem Feld setzte man dem Anspruch der Linken, Sprache, Medien, Kunst und Kultur zu reglementieren, nichts entgegen.

Punk, nicht Kuschelrock

Doch man gewinnt keine ideologischen Auseinandersetzungen, indem man die Denkstrukturen und die Sprachmuster des Gegners übernimmt. Kapitulationen führen nie zum Sieg. Wo es nötig gewesen wäre, sich kompromisslos zu distanzieren und die Konfrontation zu suchen, hat man sich dem neulinken Zeitgeist angedient.

Der politisch organisierte Liberalkonservatismus muss den Mut haben, aus den sozialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte die Konsequenzen zu ziehen. Dazu gehört die Einsicht, dass weite Teile des neuen Bürgertums für seine Anliegen verloren sind. Lasst sie ziehen! Sie zurückzuholen, ist nur um den Preis der Selbstaufgabe möglich. Weder der schicke IT-Berater noch die hippe Designerin repräsentieren das zukünftige Wählermilieu. Das lebt in der Provinz, liebt sein Jägerschnitzel, fährt Diesel, will keine Gendersprache und will die Felder vor seinem Dorf nicht mit Windrädern zustellen lassen.

Vor allem aber müssen Konservative und Liberale wieder lernen, polemisch zu werden und aggressiv. Zu meinen, man könne sich die Wertschätzung oder zumindest die Duldung der meinungsmachenden Milieus durch Opportunismus erkaufen, ist ein Irrtum. Man wird lediglich als Letzter vom Spielfeld genommen. Angesichts des historischen Debakels muss nun endgültig Schluss sein mit Kuschelrock. Jetzt ist Punk gefragt.

Alexander Grau ist Philosoph und Autor und lebt in München. 2019 ist im Claudius-Verlag sein Buch «Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität» erschienen.