«Die Medien lieben Geschichten über Rassismus, weil sie Klicks bringen und Ideologien bestätigen. Ob die Storys wahr sind, ist unwichtig»

NZZ, Lucien Scherrer , 10.01.2022

Flucht mit Turkey-Sandwich: Schauspieler Jussie Smollett vor dem Leighton Courthouse in Chicago, März 2019.

«Brutaler Hassangriff auf schwulen ‹Empire›-Star»: So und ähnlich berichteten schweizerische und internationale Medien am 30. Januar 2019. Anlass für diese Schlagzeilen waren Aussagen des homosexuellen schwarzen Schauspielers Jussie Smollett: Er berichtete, zwei weisse Männer hätten ihn nachts in Chicago überfallen, geschlagen, mit Bleichmittel übergossen und dabei trumpistische Parolen skandiert. Die Geschichte galt schnell als Beweis, dass die Regierung Trump Homophobie und Rassismus schüre, allerdings hatte sie einen Haken: Sie war frei erfunden, wie kürzlich auch ein Gericht festgestellt hat.

Solche Falschmeldungen über Hassverbrechen sind auch in Europa ein zunehmend verbreitetes Phänomen. In der Schweiz sorgte 2006 eine Brasilianerin für einen internationalen Skandal, indem sie behauptete, jemand habe ihr die Buchstaben «SVP» ins Bein geritzt. In Deutschland wird derweil darüber debattiert, ob der deutsch-israelische Sänger Gil Ofarim in einem Leipziger Hotel wirklich antisemitisch beleidigt worden sei, wie er in einem millionenfach angeklickten Video behauptet; Kameraaufnahmen und Zeugenaussagen konnten seine Version bisher nicht bestätigen. Bezeichnend für diese Fälle ist, dass sich Medien und Politiker in Vorverurteilungen und Anschuldigungen überbieten, die man sich bei «gewöhnlichen» Verbrechen verböte.

In den USA haben Hate Crime Hoaxes ein derart endemisches Mass angenommen, dass sich auch Wissenschafter damit befassen. Der Politikwissenschafter Wilfred Reilly analysiert in seinem Buch «Hate Crime Hoax. How the Left is Selling a Fake Race war» rund hundert Fälle. Sein Befund ist klar: Die meistdiskutierten Rassismusskandale beruhen in den USA oft auf Falschaussagen – und die Medien spielen dabei eine unselige Rolle.

Professor Reilly, was haben Sie gedacht, als Sie zum ersten Mal vom Fall Smollett gehört haben?

Wilfred Reilly: Als Wissenschafter halte ich es für wichtig, mich mit Urteilen zurückzuhalten, bis die Untersuchungen der Polizei abgeschlossen sind und der Fall juristisch geklärt ist. Mein persönliches Gefühl sagte mir jedoch, dass da etwas nicht stimmt. Smollett behauptete ja, er sei nachts um zwei Uhr aus dem Haus gegangen, um sich ein Turkey-Sandwich zu holen, in einer der kältesten Nächte in Chicago. Dann wird er mitten im Ausgehviertel von zwei weissen Kampfmaschinen angegriffen, die Trump-Mützen, patriotische Skimasken und eine Gallone Bleichmittel tragen, jedoch von niemandem sonst gesehen, geschweige denn verhaftet werden. Sie schlagen ihn, und schliesslich rennt Smollett mit einem Strick um den Hals und einem Turkey-Sandwich in der Hand nach Hause. Nun ja.

Unmittelbar nach dem angeblichen Vorfall bekundete selbst Donald Trump sein Mitgefühl, und die heutige US-Vizepräsidentin Kamala Harris schrieb auf Twitter, dies sei ein moderner «Lynchmord», bevor irgendwelche Untersuchungsergebnisse vorlagen.

Solche Reaktionen sind typisch. Klar, in unserer Gesellschaft gibt es sehr viele dumme Tweets. Aber auch die Mainstream-Medien nahmen das alles sehr ernst, auch in Kanada, Mexiko und Europa. Smollett war Gast bei «Good Morning America», die «New York Times», die «Washington Post», die «Chicago Tribune», alle berichteten, und der Tenor war, dass dies wirklich passiert sei. Leute wurden sogar kritisiert, dass sie die Sache zu wenig ernst nähmen. Elliot Page – die ehemalige Ellen Page – sagte, das sei ein Hassverbrechen, provoziert von der Trump-Administration. Das war wohl die durchschnittliche Meinung der oberen US-Gesellschaft. Sie sagten: Natürlich ist das passiert.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Medien in solchen Fällen als Brandbeschleuniger wirken und eine «erschreckende Gutgläubigkeit» gegenüber absurden Storys offenbaren. Wie erklären Sie sich, dass Journalisten nicht zuerst fragen, ob etwas wahr oder falsch ist?

Zunächst ist der wirtschaftliche Druck für die Medien grösser geworden. Es gibt auch in seriösen Medien einen starken Trend zum Sensationalismus, damit die Werbekunden Trucks und Penispillen verkaufen können. Lange Interviews mit Yasir Arafat sind da weniger gefragt, sexuelle Dinge und rassistische Konflikte dagegen sehr attraktiv, um Aufmerksamkeit zu erregen. Zweitens kann man die Tatsache nicht ignorieren, dass die Medien in den USA von der politischen Linken dominiert sind. Das zeigen auch Umfragen. Zusammen ergibt das, dass man auf Sensationsgeschichten fokussiert, welche die eigene Ideologie bestätigen. Sensationalismus und Linksdrall eröffnen ein grosses Feld für diese Race-Storys.

Wie äussert sich der politische Bias in diesen Geschichten?

Die linken Leitmedien konzentrieren sich auf Fälle, in denen Schwarze von Weissen angegriffen werden: «White on black»-Kriminalität. «Black on white» ist dagegen weniger ein Thema, ebenso wie «Black on black». Dies, obwohl die meisten Schwarzen Opfer von Schwarzen werden. Gleichzeitig wird dem Publikum suggeriert, weisse Polizisten würden massenweise Unschuldige ermorden. Jacob Blake, der 2020 in Kenosha von Polizisten angeschossen wurde, wurde von der «New York Times» wie ein Märtyrer verklärt, und Kamala Harris sagte, sie sei stolz auf ihn. Dabei war er vor seiner Verhaftung in das Haus einer Frau eingedrungen, er war wegen sexueller Übergriffe und häuslicher Gewalt gesucht, und er hatte ein Messer dabei.

Was jedoch eine Schussabgabe noch nicht rechtfertigt.

Natürlich kann man kritisieren, dass Polizisten in den USA Waffen einsetzen. Aber die ursprüngliche Story war falsch. Und das sehen wir immer und immer wieder. Googeln Sie mal Yasmin Seweid, die 2015 behauptete, drei betrunkene Weisse hätten sie in der Subway als Terroristin beschimpft und «Donald Trump» gebrüllt, wegen ihres Kopftuchs: Die Geschichte wurde als Beweis für wachsende Islamophobie verbreitet, aber sie war erfunden. Oder nehmen Sie den schwarzen Nascar-Fahrer Bubba Wallace, der behauptete, jemand habe einen Lynch-Strick in seiner Garage aufgehängt: Auch das war falsch.

Auffällig ist, dass angebliche Opfer manchmal auch dann noch von Aktivisten verteidigt werden, wenn sie offensichtlich lügen. Wie erklären Sie sich das?

Was zählt, ist die Erfahrung des Opfers. Wenn Sie sagen, Sie seien ein Opfer, dann sind Sie es, selbst wenn Ihre Geschichte vollkommen verrückt ist. Dieses Muster zeigte sich bereits bei einem der ersten Hoax-Fälle, jenem von Tawana Brawley. Sie behauptete unter grosser medialer Anteilnahme, ein Polizist und der stellvertretende Staatsanwalt hätten sie entführt und tagelang vergewaltigt. In Wahrheit ging es um ein 15-jähriges schwarzes Mädchen, das mit einem Freund ausgegangen war und Angst vor seinem Stiefvater hatte. Dennoch erklärte eine schwarze Bürgerrechtlerin, es sei irrelevant, ob Brawley die Wahrheit sage – irgendetwas Schreckliches müsse ihr widerfahren sein. Fakten sind also unwichtig. Stattdessen wird behauptet, es gebe da draussen etwas, was für alles Leid verantwortlich sei – die Männer, die Reichen, die Weissen oder was auch immer. Die Ideologien dahinter sind verwandt, Critical Race Theory, Critical Feminist Theory, Marxismus und so weiter: Ihre Anhänger sind besessen von der Vorstellung, dass die «weisse» Gesellschaft alle Minderheiten unterdrückt.

Wie erklären Sie sich die Wirkmächtigkeit von Ideologien wie der Critical Race Theory? Diese behauptet ja, alle Weissen und alle Institutionen seien rassistisch.

Woke People und Social Justice Warriors sind in der Bevölkerung keine Mehrheit, nicht einmal annähernd. Gemäss Umfragen sind es etwa 8 Prozent. Sie verfolgen die alte Gramsci-Strategie, gehen in jene Institutionen, die Diskurse produzieren. In den USA sind die Medien bereits dominiert von dieser Gruppe. Die «New York Times» etwa war schon früher das Organ der gutsituierten Pastamaschinen-Haushalte. Heute haben aber nicht nur ihre Leitartikel, sondern die meisten Artikel einen klaren Drall. Dasselbe in den Hochschulen. Sie vertreten zwar Minderheitenpositionen, aber sie können sie sehr einfach als Mehrheitsmeinung erscheinen lassen.

Was motiviert Menschen dazu, sich als Opfer auszugeben?

In der Bevölkerung führen die erwähnten Theorien zu einer kompetitiven Viktimisierung. Die Leute streiten darüber, wer das grösste vorstellbare Opfer ist. Jussie Smollett dachte, wenn er sich als Opfer eines Hassverbrechens inszeniere, werde er zur Ikone des antirassistischen Kampfes und erhalte bessere Rollen. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein 19-Jähriger, Sie suchen Ihre Sexualität und müssen sich auf dem Jobmarkt behaupten, gegen Europäer, Asiaten und so weiter. Und dann behaupten Sie, man habe Sie rassistisch beschimpft. Plötzlich gibt es in Ihrem Namen Campus-Rallys, Protestaktionen und mediale Aufmerksamkeit. Das ist ungemein verlockend.

Die Opferstrategie wird mittlerweile auch von Weissen und Anhängern der Rechten angewandt, auch sie erfinden Hate-Crimes. Werden diese Fälle in den Medien ähnlich unkritisch skandalisiert?

Ja, dieses Phänomen ist nicht auf die Linke beschränkt. Dieses verrückte Verhalten ist dort zwar normaler, besonders in der urbanen Linken. Aber die Alt Right – die harte, internetbasierte Rechte – funktioniert ähnlich. Das extremste Beispiel ist ein Mann namens Scott Lattin. Er behauptete, sein Truck sei von Anhängern der «Black Lives Matter»-Bewegung mit Obszönitäten verschmiert worden, weil er «Police Lives Matter» draufgeschrieben habe. Seine Botschaft war ähnlich wie jene der linken Antirassisten: «Schaut, was diese Schweine mit meinem Truck gemacht haben. Schaut, wie wir Konservativen unterdrückt werden.» In der Regel hört man von solchen Fällen eher auf Fox News und anderen rechten Kanälen. Es ist derselbe ideologiegeleitete Sensationalismus wie in den linken Medien.

Diese Tendenz, so schreiben Sie, ist gefährlich, weil sie Misstrauen und Hass zwischen Gruppen schürt. Wie kann diese Entwicklung gestoppt werden?

Wir beobachten gerade einen Backlash. Immer mehr Leute merken, dass Theorien wie die Critical Race Theory schlicht Nonsens sind. Denn es gibt keine Evidenz für die Grundannahmen dieser Ideologie. Mit Fakten können wir die Kraft der Diskriminierungstheorien brechen, aber ich glaube, sie werden uns noch eine Weile beschäftigen. In einer grossen Studie wurden die Teilnehmer kürzlich gefragt, wie viele unbewaffnete Schwarze in den USA jedes Jahr von der Polizei erschossen würden. Von jenen, die sich als links einstufen, glaubte rund die Hälfte, es seien 1000 bis 10' 000. In Wahrheit sind es zehn bis ein paar Dutzend.

Sie sind als Schwarzer in Chicago aufgewachsen. Was macht Sie so optimistisch, dass Rassismus in den USA abnimmt?

Sagen wir es so: Ich bin in einer einigermassen normalen, von der Arbeiter- und der Mittelklasse geprägten Umgebung aufgewachsen, ausserhalb des Einflusses von all diesen trendigen College-Boy-Ideologien. Dort hattest du eher Probleme, wenn du als Italiener in ein von Schwarzen oder Iren dominiertes Quartier gezogen bist.

Aber inwiefern soll sich die Lage der Schwarzen verbessert haben?

Für Schwarze ist es in den letzten 70 Jahren viel besser geworden, die Rassendiskriminierung ist verboten, seit 1967 gibt es gezielte Minderheitenförderung. Ich zum Beispiel konnte ein Studium anfangen, weil ich ein Schwarzer aus einer Grossstadt war. Erst als ich in die Universität kam, wurde ich mit all diesen Theorien konfrontiert, die auf marxistischen Lehren beruhen, die von nicht sehr intelligenten Amerikanern übersetzt wurden. Da datet man dann das Business-Girl, das einem erzählt, wie unterdrückt sie war. Für mich war das fast ein Witz, dass diese Leute unterdrückt werden. Aber seit ich an der Universität bin, ist mir bewusst geworden, dass dieser Witz sehr mächtig sein kann.

Wilfred Reilly – Politologe: Aufgewachsen in Chicago, ist Wilfred Reilly heute Politikwissenschafter und Assistenzprofessor an der Kentucky State University in Frankfort. Sein besonderes Interesse gilt «Heilige-Kuh-Theorien», die er auf ihren Faktengehalt prüft – etwa die kaum noch hinterfragte These, wonach die USA «strukturell» rassistisch seien. Er ist Mitglied der Organisation 1776 Unites, eines Gegenprojekts zum linken 1619 Project. Sein nächstes Projekt heisst «Alt wrongs» – und beschäftigt sich mit (falschen) Theorien der alternativen Rechten, der sogenannten Alt Right.