Eine Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie Berlin verharmlost kommunistische Gewaltherrschaft und die Sowjetunion

NZZ, Zsuzsa Breier, 15.11.2021, 05.30 Uhr

Die Neue Nationalgalerie in Berlin zeigt in ihrer Sammlungspräsentation auch Bilder des deutschen Malers und Schriftstellers Heinrich Vogeler, der ein begeisterter Kommunist war. Die Kuratoren sind auf dem linken Auge blind: Tödliche Gewaltherrschaft und Millionen von Opfern sind kein Thema.

Heinrich Vogeler, Kulturarbeit der Studenten im Sommer, 1924.

Heinrich Vogeler, Kulturarbeit der Studenten im Sommer, 1924.

«Sehen Sie die sommerlichen Blau- und Grüntöne? Und die strahlende Sonne im Zentrum?», fragt der Audioguide in der Neuen Nationalgalerie in Berlin vor Heinrich Vogelers Ölbild «Kulturarbeit der Studenten im Sommer». Der Ton ist heiter, die Farben sind froh, die Szenen hoffnungsfreudig. Vogelers Studenten – auf der Erklärungstafel: Student:innen, Landarbeiter:innen – bauen den Sozialismus: «Szenen aus dem sowjetischen Landleben», erklärt der Guide.

Was er nicht erklärt, obwohl es schwer zu übersehen ist: In der Bildmitte strahlt nicht nur die Sonne, sondern auch Hammer und Sichel glänzen. Auf dem Vogeler-Bild nebenan, über die Reise nach Baku, schaut Lenin aus dem Bild, direkt aus dem Hammerstiel heraus. Das Symbol des Marxismus-Leninismus wird vom Guide weder erwähnt noch erklärt, die Rede ist konsequent von «Himmelskörpern», die im Zentrum stehen. Im dritten Bild ist es der rote Stern: «Auch hier ist ein Himmelskörper inmitten des Bildes, statt der Sonne sehen wir einen roten Sowjetstern.»

Der Sowjetstern als Himmelskörper, als wären Vogelers Komplexbilder Oden an Sonne, Mond und Sterne? Die Raum-Überschrift «Politik und Propaganda» verrät zwar, dass es um Propaganda geht, und im Erklärtext darunter steht: «Um politische Aussagen bildnerisch zu transportieren, entwickelt Heinrich Vogeler 1924–1927 seine Komplexbilder.» Auf der Website des Museums erfährt man immerhin noch, dass Vogeler «das Leben in der Sowjetunion idealisiert darstellte».

Was aber diese Symbole bedeuten, wofür sie stehen, warum sie umstritten (in einigen Ländern sogar verboten) sind, dass sie vielerorts als Verhöhnung der Millionen Opfer des Kommunismus gelten, hierzu gibt es weder Fragen noch Antworten. Auch der rätselhafte Schlusssatz hilft nicht weiter: «Zugleich sind die Komplexbilder noch immer Lehrtafeln im Sinne kommunistischer Propaganda.»

Die Kunst im Dienste der Ideologie

Die drei Komplexbilder von Vogeler sind mehr als interessant, sie sind hochspannend, künstlerisch, biografisch, historisch, zeitgeschichtlich. Sie legen Zeugnis ab von einem Menschen, dessen Leben «voller Sturm, Drang und immerwährenden Veränderungen unterworfen» war (H. Vogeler: «Werden. Erinnerungen», 1989). Sie legen Zeugnis ab von einem rastlosen Künstler, der schon in seinen jungen Jahren Bleibendes schuf, dem Anerkennung zuteilwurde; der von Sinnkrisen erfasst wurde, der freiwillig in den Ersten Weltkrieg zog; den die «schauerlichen Eindrücke» des Krieges zutiefst erschütterten. 1918 richtete Vogeler einen dramatischen Friedensappell an den Kaiser, verliess seinen «goldenen Käfig», um seine Kunst in den Dienst der kommunistischen Idee zu stellen. «Vielleicht war es gar nicht mehr Kunst, sondern nur Agitation und Propaganda», schrieb er, der schliesslich an jener elenden und brutalen Realität zugrunde ging, welche die kommunistische Ideologie hervorbrachte.

Heinrich Vogeler, der Kommunist, fasziniert von «dem Werden» des Kommunismus und diesem selbstlos dienend, wurde zu einem von Millionen Todesopfern desselben Kommunismus. Aber davon ist im Museum nicht die Rede.

Das «heilig Russland, sehr-sehr sympathisch» lässt den Maler nämlich im September 1941 unter Zwang nach Kasachstan bringen, Vogeler dazu: «als seien mir die Glieder abgeschlagen». Niemand, keiner der einflussreichen Freunde rettet den 70-jährigen Maler. Ob er von der grossen kommunistischen «Ehrensache» noch immer überzeugt war oder Teil eines Systems wurde, dem er nicht mehr entrinnen konnte? Sein letztes Schreiben, eine Postkarte an Erich Weinert, nimmt seinen nahenden Hungertod vorweg: «Ich bin abgemagert wie ein Gespenst, friere bei jedem Wetter . . . da ich keine 20 Schritte mehr gehen konnte, hatte ich mit diesem letzten einsamen Depressweg abgeschlossen.»

Kein Leid, nirgends?

Eine zutiefst erschütternde Lebensgeschichte. Darüber aber schweigen Erklärungstafel und Audioguide. Erzählt werden lediglich Vogelers «Überzeugung», seine «Begeisterung» für den Kommunismus: «Der Erste Weltkrieg und der Sturz des Kaiserreichs politisieren ihn . . . 1923 reist er erstmals in die Sowjetunion, weil ihn die kommunistischen Ideen überzeugen.» Und: Die Komplexbilder habe er benutzt «auf Vortragsreisen, in denen er seine Begeisterung für die sozialistische Gesellschaft der Sowjetunion» vermittelte. Das stimmt schon irgendwie.

Geht es heute, im Jahr 2021, in Deutschland, in Europa, in der freien westlichen Welt, dass Symbole der kommunistischen Gewaltherrschaft gezeigt, aber nicht als solche benannt werden? Die Gulag-Forscherin Anne Applebaum fragte angesichts des Umstands, dass Symbole der Sowjetmacht, Lenin-Bilder und Sowjetarmee-Uniformmützen als Souvenirs gekauft werden, wie es sein könne, dass uns das Symbol «für den einen Massenmord mit Schrecken erfüllt», während das andere verharmlost werde. Warum dieser «Mangel an Gefühl angesichts der Tragödie des europäischen Kommunismus»? Applebaums Antwort: «Niemand stellt sich gerne vor, dass wir den einen Massenmörder mithilfe eines anderen besiegt haben.»

Im Nachbarsaal mit den Exilkünstlern, die in den 1930er Jahren vor dem Nationalsozialismus flohen, kommentiert man Ernesto de Fioris Werk «Fliehender»: «Mit der Machtübernahme Hitlers beginnen 1933 die dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte.» Geht doch, die Einordnung. Warum aber geht sie nicht beim Kommunismus? Nach dem Schwarzbuch des Kommunismus forderte diese Ideologie um die 100 Millionen Todesopfer. Wie kann Propaganda für eine solche Gewaltherrschaft heute ohne die Erwähnung dieses Verbrechens präsentiert werden?

Es fehlen Hinweise auf Zwangskollektivierung, Deportationen, Repressionen oder «Entkulakisierung», die die Bauernschaft und die Landwirtschaft praktisch vernichteten. Wo bleiben Begriffe wie Klassenfeind, Enteignung, Holodomor, Zwangsarbeit und Gulag? Es gibt keine Richtigstellung zu Vogelers – meist im Auftrag der Partei – belobigtem «Reichtum des Landes».

In Briefen gesteht Vogeler immer wieder, dass «es uns hier wirtschaftlich sehr schlecht geht», dass der «sozialistische Gedanke nicht die strahlende Sonne» geworden ist, die er sich erhoffte. Die vom Künstler erwähnte Hungersnot, die 1921/22 Ostrussland traf und um die 5 Millionen Tote forderte, ist dem Museum nicht der Erwähnung wert.

Historische Einordnung fehlt

Hartnäckig hält sich in gewissen Kreisen bis heute der Mythos vom guten Kommunismus und von der schlechten Ausführung, vom guten Lenin und vom Massenmörder Stalin. Die Fakten sagen auch dazu etwas anderes: Nicht erst Stalin pervertierte die sozialistische Idee in ein Verbrechen. Dass Lenin bereits im Sommer 1918 die «unzuverlässigen Elemente» in Konzentrationslagern internieren liess, ist ebenfalls bei Anne Applebaum nachzulesen. Dass der sowjetkommunistische Weg, den Vogeler zum Objekt seiner Bilder macht, in weitere Katastrophen führte, ist heute auch nicht unbekannt. Knapp ein Jahrzehnt später, 1932/33, wurde schon die nächste, noch verheerendere Hungerkatastrophe ausgelöst, diesmal mit etwa 6 bis 8 Millionen Toten.

Für diesen Lenin und für diese Sowjetunion wirbt Vogeler unter anderem mit seinen Komplexbildern. Die Kuratoren der Nationalgalerie widersprechen nicht, erklären nicht, ordnen nicht ein, erwähnen mit keinem Wort das Verbrechen, das hinter der Propaganda steckt.

Sichtbar beeindruckt von rotem Stern, Hammer und Sichel, vom «Blau des Meeres» und von «der sonnigen Gegend», wo «Fördertürme emporragen», «moderne Technik, moderne Transportmittel» und fröhliche «Student:innen» das sowjetkommunistische Leben bestrahlen. Ein Künstler und seine kommunistischen Ideen werden hochgehalten, ohne auf die biografischen Brüche einzugehen.

Dabei wäre zu erwarten, dass einer jungen Generation Diktaturen und Gewaltherrschaft erklärt werden, weil sie diese nicht erlebt hat, aber für die Zukunft die schwierige Aufgabe hat, unser freiheitlich-demokratisches System zu pflegen und zu erhalten. Im neu erstrahlenden Mies-van-der-Rohe-Bau in Berlin fehlt es an einer Erzählung darüber, was hinter Heinrich Vogelers Propagandabildern steckt.