«Sagen Sie mir: Wo ist der Aggressor?»: Claus von Wagner und Max Uthoff zu Gast in einer Talkshow, 2014.
Im April 2014, als Wladimir Putin gerade die Krim annektiert hat, geht es bei der ZDF-Satiresendung «Die Anstalt» um ein besonderes Thema: das Feindbild Russland. Dieses, so demonstrieren die beiden Gastgeber Claus von Wagner und Max Uthoff ihrem Publikum mit satirischen Übertreibungen, ist total hirnrissig, ein Relikt aus dem Kalten Krieg, verbreitet von gekauften und «einseitigen» Journalisten.
Der Schwank beginnt, als eine Art bärtiger Rasputin an der Tür klingelt und Einlass begehrt. Von Wagner will ihn hereinlassen und mit ihm reden, denn «vielleicht will er einfach mitmachen bei Europa». Uthoff interveniert sofort: «Der lässt nicht mit sich reden. Das ist ein Soldat. Den hat Putin geschickt!» Um ihm sein Putin-Verstehertum auszutreiben, schliesst Uthoff seinen Kollegen an einem «Original-Ivanometer» aus dem Jahr 1962 an.
«Das ist die Nato, richtig bedrohlich»
Dort erhält er jedes Mal einen Stromschlag, wenn er eine falsche Antwort gibt. «Sagen Sie mir: Wo ist der Aggressor?», fragt Uthoff, als eine Europakarte eingeblendet wird. Wagner antwortet: «Links, das ist die Nato, das wird ja immer grösser, ist richtig bedrohlich» – und erhält dafür einen Stromschlag. Einen Stromschlag gibt es auch, weil Wagner keinen Unterschied erkennen mag zwischen Demonstranten in Kiew und Paramilitärs in der Ostukraine. Die Annexion der Krim, so bringt ihm Uthoff bei, ist mit der Osterweiterung der Nato überhaupt nicht zu vergleichen (satirische Botschaft ans Publikum: ist sie doch!). Zum Schluss schwenkt die Kamera ins Publikum, man sieht ältere Damen lachen und applaudieren. Gefährlich, das scheinen sie begriffen zu haben, sind nicht die Putin-Versteher. Sondern die Russland-Phobiker und die Nato-Kriegstreiber.
Gäbe es die Digitalisierung und die sozialen Netzwerke nicht, wäre die fast acht Jahre alte «Anstalt»-Sendung wohl längst vergessengegangen. Da das Internet jedoch nichts vergisst, erlebt die Satire vor dem Hintergrund des Putin-Krieges in der Ukraine ein Revival: Geteilt und kommentiert, ist sie für die einen ein Beweis, dass die Medien schon damals einseitig gegen Russland hetzten, mit Ausnahme des scharfsinnigen Duos Wagner/Uthoff.
Für andere ist die Sendung gealtert wie Milch – also ziemlich schlecht. Sie zeigt, dass Gerhard Schröder keineswegs der Einzige war, der auf Putins Propaganda hereinfiel und diese weiterverbreitete. Genau dieser Eindruck wird derzeit erweckt, indem Schröder öffentlichkeitswirksam bestraft wird – wohl auch, damit die Öffentlichkeit alles andere vergisst: Die SPD will ihn lieber heute als morgen rauswerfen, Fussballklubs entziehen ihm die Ehrenmitgliedschaft, CDU-Politiker nennen ihn einen «ausländischen Agenten von Putin».
Dabei war der frühere Bundeskanzler und Gas-Lobbyist mit seiner Kumpanei, seinem Opportunismus und seinem Willen zur Selbsttäuschung nur der sichtbarste Ausdruck eines verbreiteten Phänomens. Der pro-russische Tenor wurde nicht primär von den Medien geschürt – die deutschsprachige Presse galt in der russischen Propaganda trotz der «jungen Welt» und der ZDF-«Anstalt» nicht ohne Grund als «russophob» –, sondern von Spitzenpolitikern und Wirtschaftsführern, die sich als naive Verharmloser und nützliche Idioten gebärdeten.
Wer unsere Russlandpolitik kritisiert, ist ein «Kalter Krieger»
Da ist zum Beispiel ein Twitter-Eintrag von SPD-Haudrauf Ralf Stegner aus dem Jahr 2016, in dem er die Journalisten der Zeitung «Welt» als «Kalte Krieger» abkanzelt. Der «wüste antisozialdemokratische» «Welt»-Kommentar, über den sich Stegner so enervierte, war allerdings hellsichtig: Er warnte die SPD davor, ihre Unterstützung der Westbindung aufzugeben und «sich mit dem aggressiven und kleptokratischen russischen Autoritarismus gut zu stellen».
Schlecht gealtert wirken heute auch die deutschen Reaktionen auf eine Wutrede des damaligen US-Präsidenten Donald Trump. Dieser bezichtigte die Deutschen 2018, sie seien «total von Russland kontrolliert», ein «Gefangener Russlands». Das war natürlich stark übertrieben, hatte aber, wie heute selbst langjährige Russland-Apologeten einräumen, einen wahren Kern. Damals jedoch bestritten das sowohl Kanzlerin Angela Merkel als auch Aussenminister Heiko Maas vehement. Letzterer schrieb auf Twitter: «Es gibt keine Abhängigkeiten Deutschlands von Russland, schon gar nicht in Energiefragen. Wir werden auch nicht müde werden, die echten Fakten dem entgegenzusetzen.» Angela Merkel wiederum erwiderte nach Trumps Ausfällen bedeutsam, sie sei in einem von der Sowjetunion kontrollierten Land aufgewachsen – womit sich Diskussionen über aktuelle Abhängigkeiten offenbar erübrigten.
Tote des Zweiten Weltkriegs als Argument für Nord Stream
Selbst in deutschen Leitmedien, die sonst kritisch über Nord Stream und andere deutsch-russische Gasprojekte berichteten, stiess dieses Geflunkere des Aussenministers auf wenig Widerspruch: Lieber mit Merkel und Maas die Realität verweigern als mit Trump recht haben. Der «Spiegel» etwa erklärte nach Trumps Attacke mit patriotischem Stolz, dass der US-Präsident von «Hass gegen Deutschland» beseelt sei und dass ihn Angela Merkels «notorische Ruhe» und ihre «liberale» Gesinnung besonders reizten.
Dieses kurzfristige Ausschalten kritischen Denkens wirkt geradezu harmlos, wenn man sich die Erklärungen vor Augen führt, mit denen das Führungspersonal in Deutschland die zunehmende Distanz zwischen moralischem Anspruch und praktischem Handeln rechtfertigte. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier betonte noch 2021 in einem Interview mit der «Rheinischen Post», Deutschland habe wegen der 20 Millionen russischen Toten im Zweiten Weltkrieg eine besondere Pflicht, nicht alle Brücken nach Russland abzubauen – und müsse deshalb an Nord Stream 2 festhalten.
Die Ukrainer, Polen und Balten, die wegen Hitlers und Stalins Politik ebenfalls Millionen Tote zu beklagen hatten und Nord Stream schon früh als Gefahr erkannten, spielten in diesen Gedankengängen offensichtlich keine Rolle. Andere wandelten sich erstaunlich schnell von Appeasern zu mutigen Putin-Kritikern. Exemplarisch für diesen Sinneswandel ist der ehemalige Siemens-Vorstandschefs Joe Kaeser, der auf Twitter bereits einige zeitgeistige Wendungen vollzogen hat (unter anderem mutierte er vom Trump-Umgarner zum Kämpfer gegen Rechtspopulismus).
Seine Gedanken, so schrieb er Anfang März auf Twitter, seien beim ukrainischen Volk, und: «Das ist der Krieg eines rücksichtslosen Regimes.» 2014 tönte es allerdings noch etwas anders. Damals reiste Kaeser persönlich nach Moskau, liess sich vom Staatsfernsehen filmen und bemühte sich um gute Geschäftsbeziehungen mit Putins Regime, das schon zu diesem Zeitpunkt nicht eben rücksichtsvoll agierte. Mit Russland, so sagte er, habe man bei Siemens schon viele Herausforderungen gemeistert, da wolle man sich von «kurzfristigen Turbulenzen» nicht beeindrucken lassen.
Katar, der nächste Irrtum mit Ansage
Im Nachhinein ist man natürlich immer klüger, und jeder kann sich mal verrennen. Wenn solche Irrtümer einen Lerneffekt hätten oder zumindest Anlass zur Selbstreflexion gäben, könnte man sie auch vergessen. Doch geirrt haben sich in den Augen der Irrläufer immer die anderen. So beschwerte sich der ehemalige Vizekanzler Sigmar Gabriel kürzlich, Deutschlands neuer Energielieferant Katar lasse sich nicht mit Russland vergleichen, denn: «Katar bedroht niemanden, finanziert keine Terrororganisationen. Katar ist schlicht ein verlässlicher Partner des Westens.» Dass Katar im Jemen-Krieg mitgemischt hat, über staatsnahe Stiftungen das europäische Netzwerk der antisemitischen Muslimbruderschaft mitfinanziert und enge Beziehungen zur terroristischen Hamas unterhält – all das ist dem SPD-Politiker offenbar entgangen.
Die ZDF-«Anstalt» hat in letzter Zeit zwar eine kriegsbedingte Kehrtwende eingeleitet und zieht nun eifrig über Putin her. Auch die Attraktivität der Nato, so räumte Max Uthoff in einer Sendung ein, habe man unterschätzt. Die wahren Dummköpfe, daran hält er aber fest, sind nach wie vor die Medien: Sie hätten auf Putins Einmarsch «erwartbar doof» reagiert, nämlich mit Forderungen nach mehr Waffen. Dabei verhindere man mit mehr Waffen doch gar nichts! Besser wohl, man hätte «den Ivan» bereits 2014 einfach reingelassen. Er wollte ja, wie die «Anstalt» damals behauptete, bloss mitspielen.