Trump mag gehen, die Medien brauchen ihn weiterhin – als Finsterling, der im Hintergrund die Fäden zieht | NZZ

Glenn Greenwald hat mit Edward Snowden die NSA-Affäre aufgedeckt. Jetzt warnt er vor den liberalen US-Medien, die ob ihrer Abneigung gegen Donald Trump jegliches Mass verlieren.

Sarah Pines 09.11.2020, 05.30 Uhr

Donald Trump war ein Geschenk Gottes an die linken und linksliberalen Medien. Vor allem an die amerikanischen, die vor Trumps Wahl oft in tumber Langeweile erstarrt waren. Ob MSNBC oder die «New York Times»: Seit 2016 wurden Abonnemente in nie gekannter Zahl abgeschlossen, Apps heruntergeladen, der Tag beginnt für die Leser mit dem gierigen Blick auf das Smartphone, die Website der «New York Times», der «Washington Post»: Was hat Trump schon wieder gesagt, getwittert, zersetzt er weiter die Demokratie?

Doch wäre im Fall eines Wahlsiegs des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden alles vorbei? Mitnichten, sagte der Pulitzerpreisgewinner und Enthüllungsjournalist Glenn Greenwald der Politplattform «Real Clear Politics» schon am 2. November.

Streit um Joe Biden

Vielmehr würden amerikanische Medien auch bei einem Sieg Bidens nicht von Trump ablassen, denn sie müssten ihn dem Clickbait zuliebe weiterhin als Hauptfigur eines apokalyptischen Bedrohungsszenarios in Szene setzen: «Sie werden weiter behaupten, dass Trump oder seine Bewegung immer noch eine existenzielle Gefahr darstellen», prophezeite Greenwald, «sie werden es derart aufbauschen, dass jede Kritik an Joe Biden als Gefahr für die amerikanische Demokratie, als freiheitsbedrohend, faschistisch oder als Hilfe für den Kreml erscheinen wird. So werden auch immer mehr Leute glauben, dass es Zensur braucht.»

Was es beruflich bedeuten kann, Joe Biden zu kritisieren, meint Greenwald selbst erfahren zu haben. Als er am 2. November seine Thesen verbreitete, hatte er bereits bei der von ihm mitbegründeten Enthüllungsplattform «The Intercept» gekündigt. Der Grund: Sein Leitartikel mit dem Titel «Der wahre Skandal» sei zensiert worden.

Der Artikel sollte vor den Präsidentschaftswahlen am 3. November publiziert werden – und Greenwald wirft den US-Medien vor, sie verbreiteten Falschbehauptungen, um Joe Biden zu verteidigen. Die jüngste Fassung des Artikels veröffentlichte Greenwald zusammen mit der E-Mail-Korrespondenz der zuständigen Redaktoren auf der Plattform «Substack».

Grob gesagt behauptet Greenwald, dass E-Mails, die auf einem kaputten Laptop von Bidens Sohn Hunter gefunden wurden, den demokratischen Präsidentschaftskandidaten belasten könnten. Joe Biden sei möglicherweise in korrupte Geschäfte mit der Ukraine und China verwickelt gewesen.

Greenwald kritisiert überdies, dass Biden seitens der Presse nicht hinreichend befragt worden sei, selbst wenn es sich bei den E-Mails um Fälschungen handeln könnte. Peter Maas, der zuständige Redaktor bei «The Intercept», war jedoch nicht bereit, den Artikel zu veröffentlichen – es sei denn, Greenwald streiche oder überarbeite die Biden-kritischen Passagen. Greenwald sieht darin eine unangemessene, der freien Presse unwürdige Wahlhilfe für die Demokraten.

Wie kaum ein anderer Journalist steht der ehemalige Anwalt und Salon.com-Blogger Greenwald für Meinungsfreiheit und für investigativen, kühnen und unabhängigen Journalismus. 2012 deckte er für die britische Zeitung «The Guardian» die NSA-Affäre auf, nachdem Edward Snowden sich ihm anvertraut hatte. Ein Jahr später, 2013, verliess Greenwald, der zeitweise und aus Sicherheitsgründen in Rio de Janeiro lebte, den «Guardian» und gründete zusammen mit dem Ebay-Gründer Pierre Omidyar «The Intercept». Die Zeitung ist wegen ihrer investigativen Reportagen bekannt geworden, ausserdem veröffentlichte sie bei Droemer Knaur das Buch «Die globale Überwachung».

Kompromisse gelten als Verrat

Beim «Intercept» ist Greenwalds Kündigung mit müdem Augenrollen zur Kenntnis genommen worden, Kollegen haben sie als überempfindliches Divagehabe abgetan. Greenwald war, so die Ansicht, ohnehin verdächtig weit in die rechte Ecke gerückt. So hatte er den medialen Umgang mit dem (für Anti-Trump-Medien enttäuschenden) Mueller-Report über mögliche Wahlhilfen Russlands an Donald Trump kritisiert, und gelegentlich hatte er auf dem Trump-nahen Sender Fox News kommentiert.

Die Frage, wann in den Medien das Vorenthalten relevanter Informationen und damit die Selbstzensur beginnt, stellt sich dennoch, ganz egal, was man von Greenwalds Offenheit gegenüber dem rechten Spektrum halten mag. Zu den Aufgaben der freien Presse gehört es auch, andere Sichtweisen einzunehmen, Missstände im Informationsfluss zu beschreiben und kritische, den «Diskurs der Macht» herausfordernde Fragen zu stellen.

Natürlich ist es naiv, anzunehmen, Presse und Medien seien parteipolitisch oder ideologisch unbeschriebene Blätter. Hundertprozentige Neutralität ist unmöglich. Bis zu einem gewissen Grad sind Medien immer parteiisch, doch bieten sie im Idealfall die halbwegs unvoreingenommene Kulisse, vor deren Hintergrund sich das First Amendment der amerikanischen Verfassung entfalten kann, entfalten muss: die Freiheit der Meinungsäusserung, die auch die Freiheit der Presse ist.

Sein Artikel, so schreibt Greenwald an den Redaktor des «Intercept», präsentiere keine falschen Fakten. Er stelle nur relevante Fragen zu einem bisher ungelösten, obskuren Fall.

Tatsächlich hat die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten vor vier Jahren die amerikanische Gesellschaft gespalten. Das Klima zwischen Demokraten und Republikanern, zwischen liberalen und konservativen Medien ist feindselig, man grenzt sich ideologisch klar voneinander ab. Kooperationen und Kompromisse sind schon lange unmöglich.

Greenwald sieht sich denn auch als Opfer einer «pathologischen, illiberalen und repressiven Mentalität», die keineswegs nur den «Intercept» erfasst habe. Vielmehr betreffe sie die gesamte nationale Presse. Ähnliches konstatierte auch James Bennet, der ehemalige Chef der Meinungsseiten der «New York Times».

Bennet musste im Juni 2020 seinen Rücktritt ankündigen, weil er einen Gastkommentar des streitbaren republikanischen (und Trump-nahen) Senators von Arkansas Tom Cotton in Auftrag gegeben hatte. Einen Monat nach Bennet kündigte auch die «NYT»-Redaktorin Bari Weiss. Bei der «New York Times», so kritisierte sie in ihrem Kündigungsschreiben, begegne man abweichenden Meinungen mit Unterdrückungsversuchen und Feindseligkeit.

Weiss führt das nicht nur auf einen Generationenkonflikt zwischen mehrheitlich jungen, von radikalen Ideen der Gerechtigkeit beseelten «wokes» und mehrheitlich über 40-jährigen Liberalen zurück (zu Letzteren zählt sie sich selbst). Sie macht auch, wie Greenwald, das hämische und rachsüchtige Twitter-Gebaren des eigenen journalistischen Milieus für das illiberale Klima verantwortlich. Sie schreibt: «Twitter wird im Impressum der ‹New York Times› nicht aufgeführt. Aber Twitter ist ihr wichtigster Redaktor geworden.»

Klickwettbewerb um Mordors Schatten

Greenwald behauptet, er habe die Redaktoren des «Intercept» vergeblich zum medialen Schlagabtausch aufgefordert, damit die Leser entscheiden könnten, wer recht habe – so wie es selbstbewusste, gesunde Medien täten. «Aber moderne Medien befördern den Disput nicht, sie ersticken ihn im Keim.» Solche Äusserungen mögen auch Ausdruck eines gekränkten Egos sein, ein mulmiges Gefühl hinterlassen sie dennoch. Zumal der Anti-Trump-Aktivismus manchmal ohne Zweifel hysterische Züge annimmt.

Sicher ist, dass der Konflikt zwischen dem Enthüllungsjournalisten Greenwald und dem «Intercept» einem anderen, interessanten journalistischen Projekt Auftrieb gibt. Seine Kritik und seinen Biden-Artikel hat Greenwald auf der Plattform «Substack» veröffentlicht. «Substack» ist ein 2018 von Christopher Best, Hamish McKenzie und Jairaj Sethi gegründetes Hybrid aus Blog, kostenpflichtigem Newsletter und, was das Layout betrifft, verschiedenen Autorenprofilen.

Der Plattform haben sich auch andere renommierte Journalisten angeschlossen, oft aus ähnlichen Gründen wie Greenwald; zu nennen sind der ehemalige «Rolling Stone»-Kolumnist Matt Taibbi, der ehemalige «Buzzfeed»-Reporter Alex Kantrowitz und Andrew Sullivan, der früher für das «New York»-Magazin arbeitete.

Statt nachzugeben, inhaltlich zu erstarren und die «Hüter der liberalen Orthodoxie auf Twitter» (Greenwald) zu befriedigen, wollen die Autoren lieber unabhängig bleiben. Dafür sind sie auch bereit, auf die Sicherheiten zu verzichten, die «corporate media» bieten. «Substack» versteht sich als neue, seriöse Bastion der freien Presse.

Einen Kauf durch Twitter lehnte McKenzie am 2. November vehement ab. Und als hätte Glenn Greenwald es geahnt: Nur drei Tage später, als die Stimmen der Präsidentschaftswahl noch ausgezählt werden und die Chancen für einen Wahlsieg Joe Bidens grösser werden, erscheint ein Artikel in der «New York Times». «Egal, ob er verliert oder gewinnt», so lautet der Titel, «Trump wird eine starke, disruptive Kraft bleiben.»

Der Artikel selbst ist ein Medley aus düsteren Szenarien, Warnungen und expliziten Botschaften, dass der Kampf gegen das Böse weitergehe. Trump, so schreiben die Autoren Peter Baker und Maggie Haberman, werde bei einer Abwahl auf Rachefeldzug gehen, denn bis zu seinem Auszug aus dem Weissen Haus blieben ihm ja noch 75 Tage. Auch danach ist Trump offenbar alles zuzutrauen: Er könnte eine Fernsehstation gründen – Trump TV –, er könnte seine 88 Millionen Follower auf Twitter als Megafon missbrauchen, um sich als Königsmacher der Republikaner zu etablieren, er könnte die Partei fernsteuern, geheime Informationen und Daten als Waffen einsetzen und finstere Komplotte schmieden.

Und natürlich könnte er auf die Idee kommen, das Präsidentenamt bei den nächsten Wahlen im Jahr 2024 zurückzuerobern. Obwohl der Ton der Autoren enervierend fistelnd ist, verfehlt er genau jene Wirkung nicht, die Glenn Greenwald und andere Journalisten stört: Of course, so denkt man sich, es kann nur einen Bösen geben! Der Klickwettbewerb um Mordors Schatten wird weitergehen, selbst wenn der künftige US-Präsident Schiefergrau trägt und gütig die Hände unter dem Kinn verschränkt.