Konformismus und Gruppendynamik behindern das kritische Denken. Ohne Innovation aber stagniert jede Entwicklung, in der Grundlagenphysik wie im Journalismus.
Zurzeit findet bei der linksliberalen «New York Times» ein wahres Sesselrücken statt. Im Juni verlor James Bennet seinen Posten, weil in dem von ihm verantworteten Ressort «Meinungen» ein umstrittener Beitrag eines republikanischen Senators veröffentlicht wurde. Unabhängig davon kündigte im Juli die Journalistin Bari Weiss – und kritisierte Zeitung und Verleger scharf. Bei der «Times» seien intellektuelle Neugierde und thematische Risikobereitschaft selbst zum Risikofaktor für Journalisten geworden. Als ob der liberale Gedanke im Sinne der Meinungsvielfalt nicht mehr opportun sei; als ob es nur eine Wahrheit gäbe – und als ob es einen Konsens zu dieser einen Wahrheit geben müsse. Die Wahrheit wird damit zur Glaubensfrage.
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Was ist «wahr», was ist «falsch»?
Wie Roger Penrose, der diesjährige Nobelpreisträger für Physik, in seinem Buch «Faith, Fashion and Fantasy» (2016) darlegt, waren bereits in der frühen Antike einige physikalische Theorien stark von Glaubensfragen geprägt. So setzten etwa die Griechen die damals bekannten vier geometrischen Grundformen (platonische Körper) mit den vier Elementen Wasser, Feuer, Erde und Luft in Beziehung. Als ein fünfter platonischer Körper, das Dodekaeder, «entdeckt» wurde, hat man deshalb einfach ein weiteres «Element» – nämlich den «Äther» – neu dazu «erfunden».
Einige der historischen Theorien erwiesen sich auch je nach dem Geist der Zeit als nicht adäquat. So wurde beispielsweise nach vierzehn Jahrhunderten das ptolemäische geozentrische Modell durch das kopernikanische heliozentrische Weltbild abgelöst bzw. als «falsch» entlarvt, da dieses neue Weltbild die Messungen von Tycho Brahe besser abbilden konnte. ....
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Die Wahrheitsfindung wird zusätzlich erschwert durch ein weiteres Grundproblem in der Grundlagenphysik: das System der Fördermechanismen und der Herdenbildung. Dieses führt dazu, dass sich die Grundlagenphysik nur noch selten ausserhalb von Mainstream-Themen bewegt. So wird jungen Wissenschaftern von Kollegen immer wieder davon abgeraten, sich in gewisse Themen und theoretische Modelle zu vertiefen, da keine finanzielle Unterstützung zu erwarten sei und solche Arbeiten auch nicht durch den Prozess von Reviews aus den Peer-Groups gewürdigt würden.
Der als Querdenker bekannte theoretische Physiker Lee Smolin beschreibt eindrücklich sieben Muster eines solchen Herdenverhaltens am Beispiel der Stringtheoretiker – diese Muster lassen sich auch auf andere Zweige der Wissens- und Meinungsbildung übertragen: Erstens ein enormes Selbstvertrauen und, darauf aufbauend, eine Anspruchshaltung und ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit zu einer Experten-Elite. Zweitens eine ungewöhnlich monolithische Gemeinschaft mit einem ausgeprägten Sinn für Konsens unabhängig von der Beweislage. Drittens eine hohe Einigkeit der Ansichten über offene Fragen; diese Haltung scheint mit der Existenz einer hierarchischen Struktur einherzugehen, in der Ideen, Strategie und Ausrichtung von oben diktiert werden.
In einigen Fällen findet sich viertens eine Gruppenidentifikation, die mit der Zugehörigkeit zu religiösen oder politischen Gemeinschaften vergleichbar ist, kombiniert mit einer klaren Abgrenzung der eigenen Gruppe gegenüber anderen Experten und einem Desinteresse an Ideen, Meinungen und der Arbeit anderer. Fünftens eine Vorliebe dafür, sich nur mit Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft auszutauschen. Sechstens die Tendenz, Beweise optimistisch zu interpretieren, übertriebenen oder falschen Aussagen Glauben zu schenken und Theorien nie infrage zu stellen – kombiniert mit der Annahme, Ergebnisse seien richtig, nur weil sie als «allgemein akzeptiert» gelten, selbst wenn man den Beweis selbst nie gesehen oder überprüft hat. Und schliesslich siebtens : Eine mangelnde Wertschätzung für Forschungsprogramme, die sich bewusst riskanteren Themen widmen.
Die hier dargelegten Herausforderungen sind auch für unsere Gesellschaft ganz allgemein relevant. Denn der Zeitgeist selektiver «Wahrheit» und Wahrnehmung führt dazu, dass gewisse Wissensbereiche und Innovationsfelder weniger gefördert und kaum weiterentwickelt werden. Das Resultat ist ein Aussterben des Ideen-Wettbewerbs nicht nur in der Forschung, sondern auch überall, wo es um Lösungsvorschläge für die vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit geht.
Querdenker sind gefragt
Smolin unterscheidet hierbei Revolution und Evolution. In evolutionären Phasen müssen Gedanken weitergesponnen, entwickelt und vertieft werden. Dafür braucht man solide ausgebildete Fachkräfte. In Zeiten des Umbruchs aber benötigt man Querdenker. Menschen, die die Dinge neu betrachten und neugierig immer wieder hinterfragen. Dank ihnen ist zum Beispiel die Quantenmechanik Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. Ohne Innovation jedoch stagniert die Entwicklung. Man denke an die oben erwähnte «Theorie von allem», die sich seit Jahrzehnten kaum weiterentwickelt hat.
Allerdings: Viele solcher Querdenker werden heute sowohl in der Gesellschaft wie auch in der Grundlagenforschung nicht mehr gehört, geschweige denn eingestellt. Können wir uns dies leisten? Ich glaube: nein. Die Probleme und Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind so vielfältig, dass wir die innovativsten Köpfe und Ideen brauchen, um diese zu lösen. Denn wir befinden uns in vielen Bereichen in einer revolutionären Phase. Auch im Journalismus.
Journalismus heisst, Dinge kritisch zu hinterfragen und anderen Gedanken Raum und Perspektive zu geben, auch wenn sich diese nicht immer mit unserer eigenen Überzeugung decken. Die NZZ versteht sich hierbei als Qualitätsmedium für den offenen Diskurs, der ein breites gesellschaftliches Spektrum zu Wort kommen lässt. Die Meinungsfreiheit erweist sich in der Achtung vor dem Andersdenkenden. Wir wollen zum Dialog inspirieren und diesen führen. Wir berichten über die Welt, wie sie ist, und informieren faktentreu, fair und vorurteilslos. Wir analysieren und kommentieren aus kritischer Distanz und lassen uns nicht von Partikularinteressen vereinnahmen, seien sie wirtschaftlicher, politischer oder gesellschaftlicher Natur. Dies streben wir bei der NZZ seit nunmehr 240 Jahren an und werden es auch in Zukunft tun. – Ganz nach dem Motto der soeben lancierten NZZ-Kampagne: «Journalismus.».
Felix Graf ist CEO der NZZ Mediengruppe. Er hat an der ETH in Physik doktoriert.