NZZ, Christoph Eisenring, 18.05.2022
Kernkraft und Strom aus Wind und Sonne: Diese Energieformen sollten nicht gegeneinander ausgespielt, sondern kombiniert werden, sagt die ETH-Nuklearingenieurin Annalisa Manera. Sie wehrt sich gegen Irrtümer, die die Diskussion um die Kernkraft beherrschten.
Frau Manera, Sie forschen an der ETH zu Atomenergie. Braucht es diese für die Energiewende überhaupt noch?
Die Kernenergie braucht es aus zwei Gründen: Das wichtigste Ziel ist es, so viel CO2 wie möglich einzusparen. Deshalb müssen wir die Nutzung von fossiler Energie im Verkehr und fürs Heizen stark verringern. Unser Strombedarf nimmt damit rasch zu. Um diese Nachfrage zu decken, ist der Ausbau der erneuerbaren Energien nötig, aber auch die ebenfalls CO2-freie Atomenergie. Gleichzeitig brauchen wir aber auch verlässlichen, stetig verfügbaren Strom für die Industrie. Hier hat Nuklearstrom im Vergleich mit Wind- und Sonnenenergie, deren Angebot stark schwankt, einen entscheidenden Vorteil.
Ein solch verlässliches Stromsystem könnten wir doch auch mit erneuerbarer Energie und Speichern schaffen.
In Europa sind heute Batteriespeicher verfügbar, die gerade einmal so viel Strom aufnehmen können, wie in anderthalb Minuten produziert wird. Nun gibt es Pläne, dass es 2030 zehn Mal so viele Batteriespeicher hat – damit könnte man also die Stromproduktion von fünfzehn Minuten speichern. Wie will man da Strom vom Sommer in den Winter verschieben?
Trotzdem: Nuklearstrom kostet laut einer Studie 131 bis 204 Dollar je Megawattstunde, Solarstrom nur 28 bis 41 Dollar.
Die neuen Erneuerbaren decken keine Grundlast ab, weshalb wir immer ein Back-up brauchen, was Gas-, Kohle- oder Kernkraftwerke sein können. Das kommt also zu den Kosten der Erneuerbaren dazu. Deshalb ist auch der Preisvergleich von Solarstrom mit Strom aus Kernkraft irreführend. Man vergleicht Äpfel mit Birnen. Und wenn man die Pläne für das alpine Solarkraftwerk Gondosolar im Wallis anschaut, ist diese Energie auch nicht billig.
Wie meinen Sie das?
Der Preis dieser Anlage beträgt 42 Millionen Franken. Wenn man Leibstadt durch Gondosolar ersetzen wollte, brauchte man etwa 400 davon. Die Kosten lägen somit bei rund 17 Milliarden Franken. In Hinkley Point baut Grossbritannien gerade ein Kernkraftwerk für rund 25 Milliarden Franken, das die zweieinhalbfache Leistung hat wie Leibstadt. Man bekommt also die zweieinhalbfache Leistung für anderthalbmal so hohe Kosten wie bei Gondosolar – und der Strom fliesst erst noch kontinuierlich.
In Frankreich liefern Kernkraftwerke derzeit ein Viertel weniger Strom als im langjährigen Schnitt, weil man korrodierte Rohre in einigen Notfallsystemen ersetzen muss. Ist Atomstrom also doch nicht so zuverlässig, wie Sie sagen?
Das sind alte Kernkraftwerke. Frankreich ist aber aufgewacht und will bis zu vierzehn neue bauen. Dies ist auch ein Grund, weshalb man eine Energiequelle nicht gegen eine andere ausspielen sollte. Ich bin für den vernünftigen Einsatz erneuerbarer Energien, man denke an Solarpanels auf Hausdächern und an Fassaden.
Weshalb braucht der Bau von Kernkraftprojekten in Europa viele Jahre länger als ursprünglich geplant?
Diese Verzögerungen sind kein globales Phänomen. Südkorea baut Kernkraftwerke ohne Verzögerung, China ebenfalls. Zwar ist kürzlich in Finnland ein dritter Block in Olkiluoto fertiggestellt worden. Unser Problem ist aber, dass in Westeuropa über zwanzig Jahre lang kein neues Kraftwerk in Betrieb genommen wurde.
Weshalb ist das ein Problem?
Weil die Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke sehr hoch sind, kann nicht jede Firma Pumpen oder Ventile liefern. Sie müssen eine Zertifizierung durchlaufen. Dieses Know-how verschwindet, wenn man keine neuen Kraftwerke baut. Für mich als Nuklearingenieurin ist es dabei sehr traurig, zu sehen, was in Deutschland passiert ist: Das Land baute mit die besten Reaktoren und war mit Siemens massgeblich an der Entwicklung der dritten Generation beteiligt. Das ganze Wissen geht durch den Atomausstieg verloren.
Wenn das alles so lange dauert, haben Kritiker wie Greenpeace dann nicht recht, die sagen, dass die Diskussion über Nuklearenergie von raschen Klimaschutzmassnahmen ablenke?
Aber das kann man doch genauso gut über Erneuerbare sagen: Damit diese funktionieren, braucht es zum Beispiel Batteriespeicher zu vertretbaren Kosten, und diese haben wir nicht.
Immerhin gibt es Pilotprojekte, in denen mithilfe von Solarstrom Wasserstoff produziert wird, der dann zur Gewinnung von Strom eingesetzt wird, wenn man ihn braucht.
Die Wasserstoffinfrastruktur muss man zuerst noch entwickeln. Man muss zum Beispiel spezielle Turbinen konstruieren, um ihn zu verwerten. Wasserstoff ist zudem ein äusserst kleines Molekül, das schnell entweicht. Also braucht es spezielle Behälter.
Es bleibt trotzdem das Grundproblem, dass Investoren in Europa nicht bereit sind, auf Nuklearstrom zu setzen. Es sind doch private Firmen, die Risiken eingehen sollten, und nicht der Staat.
Ich sehe das etwas anders. Es gibt einige sehr wichtige Infrastrukturgüter wie Strassen, öffentlicher Verkehr oder die Energieversorgung, bei denen der Staat eine Verantwortung trägt. Im Moment kommt es mir vor, als würde jedes Land in Europa sagen: Bei Knappheit kaufen wir Strom aus dem Ausland. Aber wenn jedes Land dies sagt, wo ist denn dieses Ausland?
Wenn Leute gegenüber der Kernkraft skeptisch sind, hat dies oft mit der ungelösten Entsorgung radioaktiver Abfälle zu tun. Wie kann man da dieser Technologie vertrauen?
Um das Problem in einen Kontext zu stellen: Die Menge an giftigen Chemieabfällen ist um Grössenordnungen höher. Laut der Nagra, die in der Schweiz eine sichere Endlagerung vorantreibt, machen die Brennstoffabfälle über die gesamte Betriebsdauer der vier Kernkraftwerke 1500 Kubikmeter aus, was vom Volumen her lediglich zwei Einfamilienhäusern entspricht. Technologisch ist die Abfallentsorgung gelöst, Finnland eröffnet gerade das erste Endlager. Es ist die Politik, die für Verzögerungen sorgt.
Wenn wir bei der Sicherheit sind: Kann sich eine Reaktorkatastrophe wie in Fukushima wiederholen?
In Hinkley Point und Flamanville entstehen Reaktoren der dritten Generation, sogenannte EPR. Sie sind viel sicherer als Reaktoren der zweiten Generation, zu denen auch die Schweizer Kernkraftwerke zählen. Der EPR ist darauf ausgelegt, dass das, was im Kraftwerk passiert, auch im Kraftwerk bleibt und man bei einem Unfall nicht evakuieren muss.
Was im Fall von Fukushima geschehen ist.
Ja, in Fukushima stand ein alter Reaktor mit einem vergleichsweise kleinen Sicherheitsbehälter. Beim EPR stehen dagegen die Dieselmotoren, die bei einem Unfall weiter für die Kühlung der Kernbrennstäbe sorgen, in einem Bunker. In Fukushima hatten sie durch den Wassereinbruch versagt. Zudem wird beim EPR verhindert, dass es zu einer Ansammlung von Wasserstoff kommt. So beugt man einer Explosion vor.
Was heisst das für die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze?
Sie sinkt durch all die Massnahmen von 1:10 000 bei Kernkraftwerken vom Fukushima-Typ auf 1:1 000 000. Sie entspricht also einem Hundertstel. Dazu kommt noch etwas: Bei den EPR-Reaktoren muss selbst bei einer Kernschmelze nicht Radioaktivität austreten, da die Schmelze im Reaktorgefäss aufgefangen wird.
Die grossen Befürworter von Kernenergie sind Frankreich, Grossbritannien, USA, China und Russland. Diese haben zugleich Nuklearwaffen. Wenn mehr Länder auf Nuklearenergie setzen würden, stiege doch die Gefahr, dass es auch mehr Atommächte gäbe?
Das ist wohl der grösste Irrtum, wenn es um Nuklearenergie geht. Nuklearwaffen und Nuklearenergie sind zwei völlig verschiedene Welten. Israel verfügt faktisch zwar über Atomwaffen, aber hat keine Kernkraftwerke. Die Uranbrennstäbe, die in einem Kernkraftwerk eingesetzt werden, lassen sich nicht für eine Atombombe nutzen.
Weshalb?
Für Nuklearwaffen braucht es Uran mit einem Reinheitsgrad von über 90 Prozent oder fast pures Plutonium. Kernkraftwerke nutzen dagegen Uran mit einem Reinheitsgrad von nur 4 Prozent. Um Uran für Atomwaffen anzureichern, braucht es Zentrifugen. Doch Länder wie die Schweiz, die Nuklearstrom nutzen, brauchen keine Zentrifugen. Und umgekehrt: Um Zentrifugen zu bauen, braucht es keine Kernkraftwerke.
40 Prozent des Urans für Europa kommen aus Kasachstan und Russland. Zudem sind China und Russland in europäische Nuklearprojekte involviert. Geraten wir nicht in Teufels Küche, wenn wir stärker auf die Kernenergie setzen?
In Finnland und Osteuropa gibt es Reaktoren, die von Russland gebaut wurden. Und auch China baut Reaktoren. Aber es gibt eben auch noch die USA, Südkorea, Japan oder Frankreich. Wir haben also Alternativen.
Und beim Bezug von Uran?
Die grössten Produzenten sind Kasachstan, Kanada und Australien. Dann erst kommen Russland, Namibia, Niger und diverse andere. Es gibt zudem einen grossen Unterschied zu Kohle und Gas.
Und der wäre?
Gas- und Kohlekraftwerke benötigen einen stetigen Nachschub, da sie so grosse Mengen verbrauchen. Der Kernbrennstoff ist dagegen nicht in Minuten oder Stunden verbraucht, sondern verbleibt vier bis fünf Jahre im Reaktor. Das heisst, dass man nicht gleich morgen wieder Kernbrennstoffe nachkaufen muss. Man hat also genügend Zeit, neue Verträge abzuschliessen.
Der Krieg in der Ukraine hat die Frage nach der Sicherheit noch verstärkt. Was ist die grösste Gefahr für das Kernkraftwerk Saporischja?
Es gibt dort vier Leitungen, die das Kraftwerk mit dem Netz verbinden. Wenn alle zusammenbrechen, schaltet der Reaktor automatisch ab. Dann braucht man aber Diesel für die Generatoren, die die Kühlung gewährleisten. Und dieser Diesel reicht in der Ukraine offenbar nur für sechs Tage. Gibt es keinen Nachschub, könnte es im Krisenfalls zu einer Kernschmelze kommen. Der Reaktor hat jedoch eine grössere Sicherheitshülle als derjenige in Fukushima. Die Gefahr würde sich also über Wochen aufbauen. In dieser Zeit könnte man noch intervenieren. Die modernen Reaktoren bieten zum Glück eine viel grössere Sicherheit als Fukushima.
Von Michigan an die ETH Zürich
Schon als Teenager hat sich Annalisa Manera in Physikbücher vertieft. Fasziniert war sie von Albert Einsteins «Die Evolution der Physik: von Newton bis zur Quantentheorie». Sie suchte deshalb ein Studium, das Theorie und Praxis verband, um auch für den Arbeitsmarkt gut aufgestellt zu sein. An der Universität von Pisa machte sie schliesslich einen Abschluss in Nuclear Engineering. Für das Doktorat wechselte sie an die Universität Delft in den Niederlanden. Seit letztem Sommer hat die Mutter eines 10-jährigen Sohnes an der ETH Zürich die Professur für Nuclear Engineering inne. Die 48-Jährige kam von der University of Michigan, wo sie immer noch ein zwölfköpfiges Team betreut. Manera forscht auch am Paul-Scherrer-Institut in Würenlingen.