«Alle Modelle sind falsch, aber einige sind nützlich»
Der Nobelpreisträger Adam Riess gehört zu den Wegbereitern des Standardmodells der Kosmologie. Im Interview mit Christian Speicher erklärt er, warum er heute nicht mehr restlos von diesem Modell überzeugt ist.
NZZ, Christian Speicher 6.7.2019
Die Expansion des Universums vom Urknall (links) bis heute (rechts). Zunächst verlangsamte die Materie die Ausdehnung. Doch seit einigen Milliarden Jahren sorgt die dunkle Energie für eine beschleunigte Expansion. (Bild: Nasa / WMAP Science Team)
Herr Riess, es ist nicht vielen Kosmologen vergönnt, einem neuen Weltbild zum Durchbruch zu verhelfen. Sie hatten daran Ende der 1990er Jahre grossen Anteil. Was ist damals geschehen?
Damals war man davon überzeugt, dass das Universum im Wesentlichen aus Materie besteht, die durch ihre Anziehungskraft die Ausdehnung bremst – möglicherweise sogar so stark, dass das Universum eines Tages wieder kollabiert. Zu unserer Verwunderung stellten wird damals jedoch fest, dass sich die Expansion nicht verlangsamt, sondern im Gegenteil sogar beschleunigt. Daraus folgte unmittelbar, dass die Materie nicht die wichtigste Zutat des Universums ist. Es muss vielmehr etwas geben, was der Anziehungskraft der Materie entgegenwirkt und die Expansion beschleunigt. Dieses Etwas, was immer es ist, nennen wir dunkle Energie.
Der Nobelpreisträger Adam Riess vor einer Aufnahme, die mit dem Hubble-Teleskop gemacht wurde. (Bild: Johns Hopkins University)
Was war Ihr erster Eindruck, als Sie die Daten sahen?
Ich dachte, dass sie falsch seien und wir bei der Messung einen Fehler gemacht hätten. Was wir sahen, war verrückt. Aber als Wissenschafter hat man die Pflicht, seine Ergebnisse zu veröffentlichen, wenn man sein Bestes gegeben und alle Fehlerquellen ausgeschlossen hat. Nur so können andere Kosmologen versuchen, diese Ergebnisse zu bestätigen oder zu widerlegen.
Wie lange hat es gedauert, bis sich das neue Weltbild unter Kosmologen durchgesetzt hat?
Es dauerte ungefähr fünf Jahre. Entscheidend dazu beigetragen haben Beobachtungen der kosmischen Mikrowellen-Hintergrundstrahlung mit dem WMAP-Satelliten der Nasa und später mit dem Planck-Satelliten der ESA. Diese bestätigten, dass es im Universum tatsächlich mehr Materie und Energie geben muss als die fünf Prozent, die wir sehen können. Diese Messungen passten sehr gut zum Bild der beschleunigten Expansion. Insofern sind hier zwei Beweislinien zusammengekommen. Zur Akzeptanz beigetragen hat sicherlich auch, dass es neben unserer Arbeitsgruppe noch eine zweite gab, die Hinweise auf eine beschleunigte Expansion des Universums beobachtet hatte. Unsere Entdeckung konnte also nicht auf einem einfachen Messfehler beruhen.
Die Vorstellung, dass wir in einem Universum leben, das unter dem Einfluss der dunklen Energie immer schneller expandiert, gilt heute als Standardmodell der Kosmologie. Kann man mit diesem Modell zufrieden sein? Immerhin beruht es zu 95 Prozent auf Materie- und Energieformen, die wir nicht näher spezifizieren können.
Das Standardmodell ist im Grunde genommen ein sehr einfaches Modell. Wir sehen im Universum zwei Gravitationsphänomene, die nichts miteinander zu tun haben. Auf der einen Seite sehen wir in Galaxien und Galaxienhaufen einen starken Zusammenhalt, stärker, als es die Gravitation der gewöhnlichen Materie vermuten lässt. Das sagt uns, dass es dort neben der gewöhnlichen Materie noch eine andere Materieform geben muss, die dunkle Materie. Auf grösseren Skalen sehen wir hingegen, dass die Dinge voneinander wegstreben. Materie tut so etwas nicht von selbst, auch die dunkle Materie nicht. Das führt uns zur dunklen Energie. Mehr als diese beiden Komponenten brauchen wir nicht. Dafür, dass das Standardmodell so einfach ist, ist es sehr erfolgreich. Das bedeutet aber nicht, dass es vollständig ist.
Sehen Sie Parallelen zur Teilchenphysik? Auch dort gibt es ein sehr erfolgreiches Standardmodell, das grundlegende Fragen offen lässt.
Es gibt ein bekanntes Sprichwort. Alle Modelle sind falsch, aber einige sind nützlich. Ein Modell liefert selten eine vollständige Beschreibung der Realität. Üblicherweise fehlt immer irgendetwas. Entscheidend ist, ob das Modell es erlaubt, Dinge zu berechnen und Vorhersagen zu machen, die sich überprüfen lassen. In diesem Sinne ist sowohl das Standardmodell der Teilchenphysik als auch jenes der Kosmologie nützlich.
Während das Standardmodell der Teilchenphysik seit Jahrzehnten wie ein Fels in der Brandung steht, mehren sich die Zweifel am Standardmodell der Kosmologie. Was ist der Grund dafür?
Ein Grund dafür ist, dass die heutige Expansionsrate des Universums grösser zu sein scheint, als es das Standardmodell der Kosmologie erwarten lässt. Durch die präzise Vermessung der kosmischen Hintergrundstrahlung glauben wir zu wissen, in welchem Zustand sich das Universum kurz nach dem Urknall befand. Mit dem Standardmodell können wir extrapolieren, wie schnell es sich heute, mehr als 13 Milliarden Jahre später, ausdehnen sollte. Doch Messungen der Hubble-Konstante – einem Mass der gegenwärtigen Expansionsrate – liefern einen grösseren Wert. Folglich scheint das Modell falsch zu sein, das das Gestern mit dem Heute verknüpft – vorausgesetzt natürlich, die Messungen sind korrekt.
Und, sind sie korrekt?
Ich würde sagen, dass die Messungen inzwischen ziemlich zuverlässig sind. Wir arbeiten schon seit vielen Jahren daran, die Hubble-Konstante immer genauer zu messen. Die Messwerte haben sich kaum verändert. Aber die Fehlerbalken sind immer kleiner geworden. Auf der anderen Seite sind auch die Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung genauer geworden. Deshalb sind die Messfehler heute um ein Mehrfaches kleiner als die Diskrepanz zwischen der extrapolierten und der tatsächlich gemessenen Expansionsrate des heutigen Universums. Das muss uns zu denken geben.
Das klang vor einigen Jahren noch ganz anders. Obwohl sich diese Diskrepanz damals schon abgezeichnete, zögerten Sie, das Standardmodell infrage zu stellen. Was hat Sie zum Umdenken bewogen?
Inzwischen ist es möglich, Quervergleiche mit anderen Experimenten zu ziehen. Dabei zeigt sich ein konsistentes Bild. Die Messungen der frühen und der heutigen Verhältnisse passen nicht zusammen, wenn man davon ausgeht, dass das Universum so entstanden ist und sich so entwickelt hat, wie es das Standardmodell der Kosmologie nahelegt. Das lässt sich kaum mehr auf Messfehler zurückführen, es sei denn, mehrere unabhängige Effekte hätten sich miteinander verschworen.
Welche Schlüsse muss man daraus ziehen? Ist es an der Zeit, sich vom Standardmodell der Kosmologie zu verabschieden?
So weit würde ich nicht gehen. Es könnte eher darauf hinauslaufen, das Standardmodell zu verfeinern. Wie ich schon sagte, handelt es sich um ein ziemlich einfaches Modell. So nimmt man zum Beispiel an, dass die dunkle Materie aus Teilchen besteht, die nicht miteinander wechselwirken, nicht kollidieren und sich nicht gegenseitig vernichten. Vielleicht stimmt eine dieser Annahmen nicht. Genauso gut könnte es sein, dass die dunkle Energie keine kosmologische Konstante ist, sondern mit der Zeit stärker wird. In diesem Fall würde das Standardmodell eine grössere Expansionsrate für das heutige Universum vorhersagen. Und es gibt noch andere Ideen. Bei allen Vorschlägen handelt es sich aber um Präzisierungen des Standardmodells, nicht um ein völlig neues Modell.
Andere Forscher gehen da weiter. Sie ziehen in Erwägung, dass möglicherweise die Theorie der Gravitation modifiziert werden muss.
Die meisten Kosmologen gehen heute davon aus, dass unsere Theorie der Gravitation korrekt ist. Bis jetzt kennen wir keinen einzigen Fall, bei dem die allgemeine Relativitätstheorie versagt hat. Aber natürlich müssen wir offen gegenüber der Möglichkeit sein, dass dieses Paradigma falsch ist. Das hätte unmittelbare Auswirkungen auf den dunklen Sektor des Standardmodells. Für mich ist das aber nicht die erste Option. Zudem muss man sehen, dass es gar nicht so einfach ist, alternative Theorien der Gravitation zu entwickeln. Es reicht nicht, den starken Zusammenhalt von Galaxien und die beschleunigte Expansion des Universums zu erklären. Die Theorie muss auch die Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne und viele andere Dinge erklären können.
Bisher hat man vergeblich nach Teilchen der dunklen Materie gesucht. Sind Sie zuversichtlich, dass man sie finden wird?
Ich bin zwar nicht sicher, aber ich bin optimistisch. Auf jeden Fall lohnt es sich, weiter nach diesen Teilchen zu suchen. Ich finde es durchaus legitim, andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen – aber diese müssen die vielen Tests bestehen, die die dunkle Materie bereits bestanden hat.
Die Messungen der Hubble-Konstante rufen nach einer Modifikation des Standardmodells. Wie bereits von Ihnen erwähnt, könnte es sein, dass die dunkle Energie mit der Zeit stärker wird. Welche Konsequenzen hätte das?
Keine unmittelbaren. Über lange Zeiträume betrachtet, wären die Folgen allerdings drastisch. Denn auf Dauer wäre kein Objekt mehr stabil, das durch die Gravitation zusammengehalten wird. Wir nennen das den «Big Rip». Zunächst würden Galaxienhaufen auseinandergerissen, dann Galaxien und zuletzt auch Planeten wie die Erde. Das wäre ein ganz anderes Ende als der «Big Crunch», der grosse Kollaps, den wir in einem von Materie dominierten Universum erwarten.