Homophobie in Katar: Warum sind plötzlich alle empört?

Die Fundamentalisten-Versteher – warum der mediale Aufschrei über Homophobie in Katar verlogen ist

Homosexuelle hätten einen «geistigen Schaden», sagt der katarische WM-Botschafter Khalid Salman. Medien und Politiker sind empört. Dabei fördern Medien und Staaten seit Jahren eine aktivistische Wissenschaft, die islamistische Ideologien verharmlost. Der Schweizer Staat stellt Kritik an Fundamentalisten gar unter Rassismusverdacht.

NZZ, Lucien Scherrer, 21.11.2022

«Glauben Sie, schwul sein ist haram?», fragt der ZDF-Reporter bei einer Plauderei am Esstisch. «Ja», antwortet der katarische WM-Botschafter und ehemalige Fussballer Khalid Salman, «Schwulsein ist haram. Warum ist es haram? Weil es ein geistiger Schaden ist.» Die Szene, nachzusehen in der ZDF-Dokumentation «Geheimsache Katar», hat einen Skandal ausgelöst. Mit «Haram» meinte Khalid Salman verboten, verdammenswert. Das deutsche Auswärtige Amt von Annalena Baerbock (Grüne) protestiert. Journalisten empören sich über die «menschenverachtenden Äusserungen» (SRF), fordern Distanzierungen und «klare Statements». Medienvertreter, so schreibt der zur ARD gehörende Südwestdeutsche Rundfunk, sollen «flankierend zur Sportberichterstattung über kritische Befunde aus Katar informieren».

So nachvollziehbar die Empörung auch ist: Die Überraschung, die aus den Reaktionen spricht, erstaunt. Katar ist wie viele muslimische Staaten ein religiöses, homophobes Land, das nicht zufällig ein Exil für Extremisten ist, etwa jene von der Hamas. Schwulen und Lesben drohen willkürliche Verhaftungen, Peitschenhiebe und Folter, im schlimmsten Fall gar Todesstrafen. Ebenso zeigen Umfragen und Straftaten, dass es auch in Europa einen Zusammenhang zwischen Islamismus, Homophobie, Demokratiefeindlichkeit und Judenhass gibt. So hat ein syrischer Flüchtling 2020 in Dresden ein homosexuelles Paar angegriffen und einen der beiden Männer getötet – aus religiöser Verblendung und tief verwurzelter Homophobie, wie der Gerichtsvorsitzende später feststellte.

Auch Deutschland ist «leicht katarisch»

Verschwiegen werden diese Zusammenhänge in den Medien zwar nicht. Aber konsequent benennen und anprangern will man sie auch nicht. Sobald sie thematisiert werden, sind Journalisten, Wissenschafter und Politiker zur Stelle, um sich in Relativierungen, Anklagen und Selbstanklagen zu ergehen. Das geht mittlerweile so weit, dass sich selbst staatliche Institutionen als Fundi-Versteher betätigen.

Auch jetzt ist die Kritik keineswegs einhellig. Die «Süddeutsche Zeitung» etwa findet die Aufregung über Khalid Salman deplatziert und selbstgerecht, zumal Sex unter jungen Männern in Deutschland bis 1994 verboten gewesen sei. Konservative Politiker hätten sich noch in diesem Jahrtausend einen Spass daraus gemacht, homosexuelle Paare zur Trauung auf das Forstamt zu schicken. Und wenn man sich den heutigen Umgang mit nonbinären Personen vor Augen führe, komme einem Deutschland ohnehin «leicht katarisch» vor.

Als ob es keinen Unterschied gäbe zwischen veralteten diskriminierenden Gesetzen und systematischen polizeilichen Verfolgungen. Dabei ist das, was Khalid Salman gesagt hat, für katarisch-islamistische Verhältnisse geradezu harmlos, wenn man die Schriften und Predigten arabischer Geistesgrössen studiert. Hier wäre es Aufgabe der Medien, «klare Statements» zu verbreiten, indem man die extremistischen Ideologien hinter solchen Äusserungen herausarbeitet.

Homosexuelle als Symbole der westlichen Dekadenz

Oft geschieht jedoch das Gegenteil. Zu sehen war das Ende September, als der Fernsehprediger Jusuf al-Karadawi im Alter von 96 Jahren starb. Karadawi, ein gebürtiger Ägypter, lebte in Katar im Exil. Katar ist neben der Türkei der wichtigste Förderer und Financier der islamistischen Muslimbruderschaft, die auch in Europa aktiv ist: in Moscheen, Vereinen und Verbänden, die sich in jüngster Zeit erfolgreich bei linken Antirassisten anbiedern. Zur DNA der Muslimbruderschaft gehört eine Abscheu gegen die angebliche westliche Dekadenz und den Materialismus – beides verkörpert durch offen gelebte Homosexualität und «den Juden», den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Der verstorbene Scheich Karadawi galt als geistiger Anführer der Muslimbruderschaft. Mit seinen Fernsehpredigten auf al-Jazeera beeinflusste er Millionen Menschen.

Die Ansichten dieses «Pop-Stars und Terrorpaten» («Tages-Anzeiger») sind in seinem Bestseller «Erlaubtes und Verbotenes im Islam» nachzulesen. Homosexualität bezeichnet er als Abartigkeit und «widernatürliche» Betätigung, die mit Peitschenhieben oder dem Tod bestraft gehöre. «Zwar scheinen solche Strafen grausam», so schreibt er, «doch wurden sie empfohlen, um die Reinheit der islamischen Gesellschaft zu erhalten und sie von abartigen Elementen rein zu halten.»

Ein moderater Scheich, der Adolf Hitler bewundert

Bestraft gehörten laut Karadawi auch aufrührerische Frauen, Ehebrecher und Juden. Diese, so erklärte er in einer Fernsehansprache, hätten dank Adolf Hitler eine göttliche Bestrafung erhalten. In den Nachrufen, die in internationalen Leitmedien publiziert worden sind, kommt diese Gesinnung oft nur vage zum Ausdruck. Die britische «BBC» schreibt, Karadawi sei von seinen Anhängern als «moderat» bezeichnet worden, einige (westliche) Staaten hätten ihn dagegen als Extremisten eingestuft, unter anderem, weil er zum Terror gegen Israeli aufgerufen habe. Von seinen Ansichten über Juden und Homosexuelle erfährt man nichts.

Für die «Süddeutsche Zeitung» hinterlässt der Prediger ein «zwiespältiges Erbe». Einerseits habe er gegen Schwule «gewettert» (wie, wird nicht gesagt), den Holocaust befürwortet und eine Theokratie angestrebt, aber eben auch die Gewalt des IS abgelehnt. Auf dem SRG-Kanal «Swissinfo» werden Karadawis Aussagen zum Holocaust und zu Homosexualität unterschlagen. Stattdessen behauptet der Islamwissenschafter David Warren, Karadawi sei der Demokratie verpflichtet gewesen. Der in der Schweiz oft zitierte Islam-Experte Reinhard Schulze erklärte in der NZZ, die Ansichten des Predigers seien «sehr wertkonservativ» gewesen.

Ein religiöser Fanatiker, der gegen Frauen und Minderheiten Gewalt- und Vernichtungsphantasien hegte und Adolf Hitler lobte, war demnach ein konservativer, manchmal polternder Demokrat, den man so oder so sehen kann. Kritik an religiösen Fanatikern, so belehrte das grüne deutsche Leitorgan «TAZ» kürzlich seine Leserschaft, ist grundsätzlich problematisch. Wer wie die iranische Journalistin Masih Alinejad gegen das Kopftuchgebot kämpfe, bediene kolonialistische Narrative von der Überlegenheit des weissen Mannes. Dabei würden Frauen doch auch im Westen unterdrückt.

Es war nicht der einzige Beitrag dieser Sorte. Auch notorische Schönfärber von Jusuf al-Karadawi und seiner Muslimbruderschaft kommen in der «TAZ» regelmässig zu Wort, ohne dass ihre Aussagen eingeordnet werden. Die WM in Katar will ein Teil der Redaktion jedoch tapfer boykottieren.

Islamische Homophobie gibt es nur in Anführungszeichen

Dass solche Verharmlosungen in die Medien gelangen, hat unter anderem mit den Universitäten zu tun, wo im Namen postkolonialer und dekonstruktivistischer Theorien eine alternative Realität konstruiert wird. In dieser Realität sind weisse Kolonialisten an allem Übel in der Welt schuld, und das bis heute. Unter Berufung auf den Literaturtheoretiker Edward Said behaupten aktivistische Wissenschafter, «der Westen» habe sich mit dem Orient und dem Islam «das Andere» konstruiert: Ein irrationales, von rassistischen Vorurteilen geprägtes Feindbild, das nach dem Kollaps der Sowjetunion dominant geworden sei.

Eine Vertreterin dieser Richtung ist die Berliner Forscherin Iman Attia. Die Professorin für Critical Diversity Studies sowie für Rassismus und Migration ist in den Medien eine gefragte Expertin, seit 2020 ist sie im von Horst Seehofer einberufenen deutschen «Expert:innenkreis Muslimfeindlichkeit» tätig. In ihrem Buch «Die ‹westliche Kultur› und ihr Anderes» vertritt sie die These, dass Kritik am Islam der Legitimation von Kriegen und neokolonialer, neoliberaler Politik sowie einem «hegemonialen Diskurs» diene. Sie beruht also nicht auf Fakten, sondern auf Einbildung.

Passend dazu schreibt Attia den Begriff «islamischer Antisemitismus» in Anführungszeichen. Auch Äusserungen über «islamische Homophobie» sind laut Attia rassistisch, sind sie doch «in ihrer Sündenbockfunktion aus antisemitischen Kontexten bekannt». Muslime, so behauptet sie, sind die neuen Juden, kollektive Opfer von Verschwörungstheorien. Selbst wenn muslimische Jugendliche in Deutschland antisemitisch und homophob sein sollten – dass diese Einstellungen in der muslimischen Bevölkerung stärker verbreitet sind, belegen zahlreiche Studien –, ist das eine «Reaktion auf ihre Orientalisierung in der Aufnahmegesellschaft».

Wer Fundamentalisten kritisiert, ist Rassist – sagt der Bund

Nach dieser Logik müsste man auch Jusuf al-Karadawi oder den katarischen WM-Botschafter Khalid Salman als Opfer westlicher «Dominanzdiskurse» einstufen. Dass damit islamistische Ideologien legitimiert werden, ist kaum Zufall. Wie andere Islamophobie-Forscher engagiert sich Iman Attia in Vereinen und Projekten, die von regierungsnahen türkischen Stiftungen mitfinanziert werden oder gegen das Verbot von pro-islamistischen Organisationen in Frankreich protestieren. Gleichwohl werden ihre Theorien ernst genommen, auch in der Schweiz. Hier berufen sich Fachhochschulen, Universitäten oder die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus auf ihre Schriften; Institutionen, deren Verdikte von Journalisten wie dem SRF-«Arena»-Moderator Sandro Brotz wie Gerichtsurteile vorgetragen werden.

Postkolonialistisch inspiriert ist auch die Fachstelle für Rassismusbekämpfung, die zum Innendepartement von Bundesrat Alain Berset (SP) gehört. Gemäss ihren Definitionen gibt es nur eine Religion auf der Welt, die als Rasse eingestuft wird, nämlich den Islam. «Antimuslimischer Rassismus», so ist weiter zu lesen, könne sich auch in der Ablehnung «eines konservativ oder fundamentalistisch gelebten Glaubens» manifestieren. Auf Anfrage der NZZ erklärt eine Sprecherin, diese Definitionen entsprächen dem neusten Stand der Forschung. In Katar sollte man sich das merken.