Weltwoche, 05.11.2020, Von Roger Kimball

Am Wahltag pflege ich mit gleichgesinnten, seriösen Leuten an einem halbwegs sicheren, ungenannten Ort in Manhattan zusammenzukommen, um bei einem ausführlichen und entspannten Lunch ein wenig über die Wahlergebnisse zu spekulieren. 2016 war es ausserordentlich anregend, einige Teilnehmer blieben bis weit in den späten Nachmittag. Gegen 23.30 Uhr erhielt ich einen Anruf von einem Mitglied unserer Truppe, des «Gastmahls der Gelehrten», wie es bei Athenaios heisst, der unsere Versammlungsort bis zuletzt mit seiner Heiterkeit erfüllte.

Diese bewusste Spontaneität ist aufgrund des China-Virus unmöglich geworden, aber eine kleine Gruppe von uns hat sich trotzdem zu einer vorweggenommenen Feier zusammengefunden. Bald werden wir wissen, ob Jubel oder Trauerflor angesagt ist.

In der Zwischenzeit möchte ich ein Wort über die Sperrholzparty verlieren, wie sie ein Freund genannt hat. Als ich auf dem Weg zu unserem Treffen die Madison Avenue und Fifth Avenue entlangschlenderte, sah ich, wie Heerscharen von Handwerkern die Schaufenster der Upper East Side mit Sperrholzplatten verrammelten, meist in dem üblichen Gelbbraun, manche aber von ausgesuchter Designer-Qualität, schwarz oder in einer anderen schicken Farbe, versehen mit dem Firmenlogo. Fast alle schienen eine längere Haltbarkeit zu versprechen.

So, wie wir ermahnt werden, das Gesicht zum Schutz vor dem heimtückischen China-Virus zu bedecken, so wurden wir ermahnt, unsere Geschäfte vor der heimtückischen Bedrohung durch frustrierte Wähler zu schützen.

Seltsam, wirklich seltsam. Die einzigen, die zum Randalieren neigen, sind Mitglieder der Partei von Frieden und Liebe. Trump-Anhänger schwenken Fahnen, Anhänger von Joe Biden und Kamala Harris verbrennen sie.

Vermutlich wurde also die Parole ausgegeben, dass Donald Trump gewinnen wird. Warum sollte man diese prophylaktischen Barrieren sonst errichten? Diese Wetterexperten wissen offenbar oder glauben zu wissen, woher der Wind weht. Daher die Vorbereitungen auf die «wütenden, aber überwiegend friedlichen» Proteste, die uns versprochen wurden für den Fall, dass Donald Trump gewinnt.

Den meisten Menschen ist wahrscheinlich nicht klar, wie merkwürdig diese Wahl ist. Die Demokraten lieben das Wort «Demokratie». Darunter verstehen sie: «Wir werden die Macht übernehmen.»

Daraus folgt, dass eine Wahl demokratisch ist, wenn sie die Sieger sind. Wenn der Kandidat der anderen Seite gewinnt, sprechen sie von einem «Angriff auf die Demokratie». So gesehen repräsentiert Donald Trump einen Angriff auf die Demokratie, weil er 2016 mit der Mehrheit des Wahlmännergremiums siegte. Aber er hatte doch verloren! Also ist die Wahl ungültig und seine Präsidentschaft ohne Legitimation.

Wenn man diese Denkweise versteht, ergeben sich viele andere Dinge von selbst. Donald Trump nominierte drei Richter für den Obersten Gerichtshof, die auch bestätigt wurden. Deswegen wollen die Demokraten die Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof erhöhen, um Trumps unheilvollen Einfluss zunichte zu machen.

Der Senat war eine wichtige Stütze für Trump. Daher erwägen die Demokraten, Washington D.C. und Puerto Rico den Status eines Bundesstaates zu verleihen, um den Senat auf Linie zu bringen. Wir sind gewarnt!

Da Trump 2016 mit einer Mehrheit von 306 Wahlmännern siegte, muss das von den Vätern der Verfassung entworfene System abgeschafft werden zugunsten einer Präsidentenwahl, die von den Wählern entschieden wird.

2020 endet der Wahltag ohne klares Ergebnis. Kein Kandidat kommt auf die benötigten 270 Wahlmänner-Stimmen. Nach wie vor offen ist das Rennen in Arizona (11 Wahlmänner), Georgia (16), Nevada (6), North Carolina (15) und Pennsylvania (20). Vor uns liegen das Chaos und die juristischen Auseinandersetzungen, von denen die Demokraten geträumt haben. Möglicherweise werden wir erst in ein paar Tagen oder Wochen wissen, wer der Wahlsieger ist.

Dann wird sich zeigen, ob vorsichtshalber feuerfeste Sperrholzplatten verwendet wurden. Egal, was geschieht – die Anhänger der Partei von Frieden und Toleranz werden auf die Strasse gehen, um uns daran zu erinnern, dass Frieden nur möglich ist, wenn sie gewinnen, und dass Toleranz bedeutet, sich ihren Forderungen zu beugen.

Roger Kimball ist ein amerikanischer Kunstkritiker, Bestsellerautor und Verleger. Er lebt in New York.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork