«Die Studenten vergeuden ihre Zeit»

Die promovierte Wirtschaftshistorikerin Andrea Franc, Dozentin in Basel und Luzern, kritisiert, dass Pflegerinnen und Polymechaniker den Heerscharen von Teilzeit-Akademikern das Leben mitfinanzieren müssen. Namentlich Geisteswissenschafter seien in Minipensen tätig und verzichteten auf einen vollen Erwerb.

NZZ, Katharina Fontana, Christina Neuhaus 25.05.2022

Professorin Andrea Franc in einer Café-Bar in Basel.

Professorin Andrea Franc in einer Café-Bar in Basel.

Frau Franc, was verdient ein Philosoph im Durchschnitt?

Rund 48 000 Franken im Jahr brutto. Historiker oder Ethnologen verdienen ähnlich viel.

Was verdient ein Polymechaniker im Durchschnitt?

Mindestens 65 000 Franken im Jahr. Wer eine Berufslehre macht und mit einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis abschliesst, fängt in der Regel bei gut 5000 Franken im Monat an, und ab dann geht es lohnmässig aufwärts.

Philosophen, Historiker und Ethnologen verdienen also weniger als Lehrabgänger zu Beginn ihres Berufslebens, nämlich 4000 Franken im Monat?

Ja, das zeigen die Absolventenbefragungen des Bundesamts für Statistik, die fünf Jahre nach Studienabschluss durchgeführt werden. Der Unterschied ist, dass Geisteswissenschafter in diesem Moment typischerweise gegen Mitte dreissig sind, und wenn sie eine Dissertation geschrieben haben, gehen sie schon gegen die vierzig. Lehrabgänger dagegen sind um die zwanzig Jahre alt.

Warum verdient man als Geisteswissenschafter nach jahrelanger Ausbildung nicht mehr?

An den Löhnen selber liegt es nicht, rechnet man sie auf ein Pensum von 100 Prozent hoch, sind sie tipptopp. Der Grund liegt darin, dass Geisteswissenschafter im Vergleich zu anderen Studentengruppen viel häufiger Teilzeit arbeiten oder gar nicht. Sie sind in Minipensen tätig und verzichten auf einen vollen Erwerb.

Wie finanzieren sie dann ihr Leben?

Viele scheinen sich das leisten zu können. Sie haben vielleicht einen Erbvorbezug erhalten, oder der Partner verdient genug für das gemeinsame Auskommen. Nicht oder wenig arbeiten wird nicht als Problem wahrgenommen.

Trotzdem: Gibt es eine Erklärung dafür, warum Geisteswissenschafter überdurchschnittlich oft Teilzeit arbeiten und an einem hohen Lohn offenbar wenig interessiert sind?

Ich kann das nur intuitiv beantworten. Ich unterrichte einerseits Geschichte an der Universität Basel und habe anderseits einen Lehrauftrag an der Wirtschaftsfakultät in Luzern. Was mir auffällt: Im Geschichtsseminar sitzen Studenten mit typischen Schweizer Namen, die heissen Meier, Huber oder Brunner. In der Wirtschaftsfakultät haben wir dagegen einen hohen Anteil an Studenten mit ausländischen Namen, die häufig aus dem Balkan stammen. Man merkt, dass es sich um Secondos aus bildungsfernen Schichten handelt. Die studieren Wirtschaft und nicht Geschichte.

Sind ausländische Studenten leistungsorientierter als jene aus der Schweiz?

Ich würde sagen, sie sind einkommensorientierter. Als Geisteswissenschafter, der vom Wohlstand der Eltern lebt und deren Vermögen für sich nutzt, muss man das nicht sein. Zudem ist es etwa für einen Philosophen schwer, eine Vollzeitstelle zu finden, bei der er seine Fähigkeiten einsetzen kann. Viele der Befragten sagen denn auch, sie würden gerne mehr arbeiten als die 40 oder 50 Prozent, die es effektiv sind. Wenn man dagegen Wirtschaft studiert, ist man voll beschäftigt und hat einen Job, der einen fordert.

Die Teilzeit-Akademiker sind offensichtlich eine Schweizer Wohlstandserscheinung.

Das spielt sicher mit. Ich persönlich verstehe nicht, warum so viele bürgerliche Leute ihren erwachsenen Akademikerkindern die Existenz finanzieren, vom Unterhalt während des langen Studiums bis zum Eigenkapital für das Einfamilienhaus. Nun kann man sagen, das sei ihre Privatsache und gehe niemanden etwas an, doch das greift zu kurz. Es betrifft eben auch die Allgemeinheit: Denn erstens bezahlen die Steuerpflichtigen die lange Ausbildung dieser Gruppe, und zweitens hat die verbreitete Teilzeitarbeit Folgen für die Sozialwerke.

Gibt es eine finanzielle Umverteilung von den Arbeitern zu den Teilzeit-Akademikern?

Ja, wobei manche Beiträge kantonal und manche eidgenössisch ausgerichtet werden. Es fehlen jedoch detaillierte Berechnungen zur Umverteilung, was ich unverständlich finde. Die Zahlen jedenfalls verheissen wenig Gutes: Pro Jahr gibt es in der Schweiz rund 66 000 Personen, die ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis oder ein Attest erwerben, von den Coiffeuren bis zu den Optikern. Auf diese kommen jährlich 3700 Masterabschlüsse und 650 Doktorate in Geistes- und Sozialwissenschaften. Das heisst, auf 100 Berufsleute kommt ein Doktor der Germanistik, Psychologie oder Kunstgeschichte – pro Jahr. Und von diesen Doktoren, die häufig erst gegen Ende dreissig abschliessen, ist danach weniger als die Hälfte Vollzeit tätig. Sie arbeiten also halb so viele Jahre wie die Berufsleute, und dann auch nur die Hälfte des Pensums. Unsere Sozialwerke gehen aber davon aus, dass die Leute 40 oder 45 Jahre arbeiten, bis sie pensioniert werden, und nicht nur 25 Jahre.

Von wie vielen Leuten reden wir?

Derzeit studieren 47 000 Geistes- und Sozialwissenschafter an den Schweizer Universitäten, sie machen über einen Viertel aller Studenten aus. Diese Gruppe wird fünf Jahre nach dem Master oder der Promotion übers Ganze gesehen einen Minilohn haben – das werden die Sozialwerke zu spüren bekommen.

Der Sozialstaat ermuntert gut ausgebildete Leute geradezu, wenig zu arbeiten. Wer als 38-jähriger Romanist mit Teilzeitpensum in einer Stadt wie Zürich wohnt, profitiert von ermässigten Kita-Tarifen, vielleicht erhält er noch eine städtische Wohnung, und die Krankenkassenprämien werden verbilligt.

Für den Einzelnen mag dieses Modell stimmen. Doch was passiert, wenn die Heerscharen von Geistes- und Sozialwissenschaftern dereinst pensioniert werden? Viele werden keine genügende Altersvorsorge haben, das Erbe ist vielleicht schon aufgebraucht, sie werden Ergänzungsleistungen benötigen. Kommt dazu, dass die Leute sich durchs Leben hangeln, was nicht befriedigend ist. Die in den 1950ern geborenen Akademiker, die Geschichte studierten, konnten Diplomaten werden. Auch die 1960er Jahrgänge kamen noch überall unter. Heute muss man als Germanist froh sein, wenn man ein paar Stunden Deutsch für Ausländer unterrichten kann oder als Kunsthistoriker im Museum das Telefon abnehmen darf.

Bilden wir heute zu einem grossen Teil die falschen Akademiker aus?

Man muss die Frage anders stellen: Ist das überhaupt eine Ausbildung? Eine gute Ausbildung dient dazu, dass ein Mensch lernfähig wird und sich anpassen kann. Wenn die Qualität der Bildung stimmt – sei es bei einer Berufslehre oder einem Doktorat –, hat man nachher kein Problem im Arbeitsleben. Auch mit einem guten geisteswissenschaftlichen Studium erhält man, was man für den Job braucht. Wer in Oxford Geschichte studiert, kann es zum Premierminister oder Hedge-Fund-Manager bringen. Damit man in Oxford zugelassen wird, muss man allerdings zwei Aufnahmeprüfungen bestehen und während des Studiums sein Bestes geben.

Das könnte man in der Schweiz auch einführen: einen Eintrittstest für Studenten, um ein hohes Niveau zu garantieren.

Das könnte man tun. Ich befürchte allerdings, dass viele nicht einmal die Fragen der Einbürgerungstests richtig beantworten könnten. Dazu müsste man ja beispielsweise wissen, wie viele Unterschriften es für Initiative und Referendum braucht.

Das tönt sehr ernüchternd. Ziehen die Geisteswissenschaften speziell Leute an, die im Leben nichts Besseres zu tun haben und ihre Jahre an der Uni einfach absitzen?

Absitzen und sich durchs Studium kiffen. Bei fünfzehn Leuten im Geschichtsseminar ist im Minimum einer bekifft. Andere zeigen sich gegenseitig ihre Ferienbilder, schicken sich Whatsapp-Nachrichten oder schiessen auf dem Handy Zwerge ab. Wer sich so an der Wirtschaftsfakultät verhält, fliegt durch die Prüfung.

Wie reagieren Sie, wenn sich die Studenten so undiszipliniert verhalten?

Ich sage ihnen, sie sollen sich in die hinterste Reihe setzen.

Was halten Sie von der Idee, die Zahl der Studienplätze für Geisteswissenschaften zu limitieren?

Aus liberaler Sicht kann man diesen Vorschlag nicht unterstützen. Liberal wäre, dass jeder tut, was er möchte, dass die Allgemeinheit aber nicht dafür zahlt. Das heisst: Man kann Geisteswissenschaften studieren, wenn man will, man kann auch in einem Minipensum tätig sein, wenn man das nötige Geld hat, doch man bekommt keine Hilfe bei den Krankenkassenprämien und später auch keine Ergänzungsleistungen. Sobald die Sozialwerke belastet werden, muss der liberale Alarm abgehen.

Für das Medizinstudium gibt es Limiten, die Ausbildung ist sehr gut.

Das stimmt. Heute kommt kein Arzt auf den Arbeitsmarkt, der sein Handwerk nicht versteht, das hat zum Grossteil mit der FMH, dem Berufsverband der Ärztinnen und Ärzte, zu tun. Dasselbe gilt für die Anwälte: Der kantonale Anwaltsverband legt fest, was es braucht, damit jemand das Anwaltspatent erhält. Auch die Sanitäre bestimmen, was ein Sanitär können muss, die Coiffeure ebenso. Und die Historiker in der Schweiz sagen, was ein Historiker können muss. Und sie finden offenbar, dass das heutige Niveau reicht.

Warum ist nicht mehr Ehrgeiz vorhanden, warum wird nicht gesagt: Unser Ziel ist es, einen exzellenten Unterricht anzubieten?

Das ist für mich schleierhaft, ich kenne die Gründe nicht. Aber es ist ungeheuer schade. Die Studenten vergeuden ihre Zeit. Wenn man einmal in einem inspirierenden Umfeld wie an einer angelsächsischen Universität gearbeitet hat, sieht man, wie bitter die Inspiration hier fehlt. Ein Teil der Studenten regrediert geradezu. Wenn man genau weiss, dass man eine 100-seitige Masterarbeit schreiben muss, die nicht gelesen wird, demotiviert das ungemein. Ich habe Arbeiten gesehen, die inhaltlich wie sprachlich unglaublich schlecht waren, die der zuständige Professor aber durchgewinkt hat. Kommt hinzu, dass die Regeln nicht eingehalten werden. Wer beispielsweise die Abgabetermine versäumt, muss meist keine Folgen gewärtigen.

Zur Debatte steht unter anderem der Vorschlag, dass Akademiker die von ihnen verursachten Studienkosten über die Steuern abzahlen müssen. Wer nicht genug Steuern zahlt, erhält eine Extra-Rechnung.

Liberal wäre es, Studiengebühren nach dem Einkommen der Eltern zu bemessen. Milton Friedman verlangte das schon in den 1960er Jahren. Die Volksschule wäre weiterhin kostenlos, für die Universität müsste man bezahlen, je reicher, desto mehr. Dann wäre es nicht mehr möglich, dass Kinder von Milliardären gratis an der Universität St. Gallen studieren.

Die Idee einkommensabhängiger Studiengebühren hat in der Schweiz bisher aber kaum eine Rolle gespielt. Warum nicht?

Weil die Schweiz von der an sich löblichen Haltung ausgeht, dass man den Leuten das Studium bezahlt, dass diese aber später Vollzeit arbeiten, einen hohen Lohn erwirtschaften und ihren Beitrag über Steuern und Sozialversicherungsbeiträge der Allgemeinheit zurückgeben. Das Schweizer Sozialsystem fusst auf dem Gedanken, dass die Leute ihr Potenzial ausschöpfen und nicht freiwillig auf Erwerb verzichten, also zwei Tage in der Badi liegen und dafür Prämienverbilligung beantragen. Dass Akademiker Teilzeit arbeiten, ist eine neue Erscheinung.

Welche Konsequenzen hat es, wenn man sein Potenzial nicht ausschöpft?

Das hat null Konsequenzen. Einzig bei der Sozialhilfe ist es anders, da wird geschaut, was jemand leisten kann, und diese Leistung wird dann auch von ihm verlangt, wenn er Sozialhilfegelder beansprucht.

Von linker Seite wird propagiert, die Arbeitswoche auf vier Tage zu verkürzen, zum selben Lohn, und den fünften Tag für den Dienst an der Gemeinschaft zu verwenden. Ist das die Zukunft?

Auf keinen Fall. Wir brauchen dringendst mehr Handwerker, die arbeiten teilweise heute schon am Samstag. Wir leben nicht in einer Planwirtschaft, in der man die Leute einteilt, wir haben den freien Markt. Man soll machen können, was man will, sofern nicht ein anderer dafür zahlen muss.

Sie sind Schulrätin im Kanton Basel-Stadt und gehören den Grünliberalen an. Da muss die Bildungsmisere, von der Sie sprechen, doch ein Thema sein.

Das ist ein riesiges Thema. Alle reden über die Maturaquote, doch das ist die falsche Diskussion. Dreh- und Angelpunkt ist die Bildungsqualität. Man kann auch an den Schweizer Universitäten phantastische geisteswissenschaftliche Ausbildungen haben. Wer zum Beispiel ein Orchideenfach wie mittelalterliche französische Literatur studiert, geniesst praktisch Privatunterricht, weil niemand sonst das Fach belegt. Und gratis dazu. Wer in einem solchen Fach promoviert, beweist, dass er Arbeitsethos hat und wissenschaftlich arbeiten kann. Ein solcher Absolvent ist überall willkommen, seine Kompetenzen sind auf dem Arbeitsmarkt gefragt. Doch der Grossteil der Studenten wählt die üblichen Fächer wie Medienwissenschaften, Geschichte oder Soziologie. Und schreibt die Masterarbeit über die üblichen zeitgeistigen Themen, die wenig Leistung und Einsatz erfordern.

Lassen wir die falschen Leute an die Universitäten?

Nach meiner Erfahrung hatten die Leute früher andere kulturelle Fähigkeiten, die sie vom Gymnasium her ins Studium mitgebracht haben. Es war selbstverständlich, dass man Latein und Altgriechisch beherrschte. Die Studenten hatten einen ganz anderen Hintergrund, der ihnen im Leben weiterhalf, ein Reservoir, aus dem sie schöpfen konnten. Das sieht man an einem Boris Johnson oder an einem Christoph Blocher. Das sind hochgebildete, belesene Menschen. Ich sage zu meinen Studenten immer: «Blocher doof zu finden, das reicht nicht. Lest zuerst einmal, was Blocher gelesen hat, und dann könnt ihr wieder kommen.»

Andrea Franc: Andrea Franc (45) ist Privatdozentin für Geschichte an der Universität Basel, wo sie 2019 habilitiert hat, und Dozentin für die Geschichte des ökonomischen Denkens an der Universität Luzern. Sie wohnt in Basel und bekleidet für die Grünliberalen das Amt einer Schulrätin.