Frankreich ist der kranke Mann Europas. Das Land droht zur Geisel einer gewaltbereiten Minderheit zu werden

Emmanuel Macron sucht nach Antworten auf die zunehmende Polarisierung der französischen Gesellschaft. Er spricht von einer Entzivilisierung und erntet mit der Diagnose heftigen Widerspruch.

NZZ, Pascal Bruckner, 22.06.2023

Gewaltbereitschaft und Zerstörungswut haben in Frankreich ein erschreckendes Ausmass angenommen. Im April brennen Barrikaden im Pariser Stadtviertel Marais.

In seinem Buch «Der Magier im Kreml» lässt der Autor Giuliano da Empoli seine Hauptfigur Baranow, Putins graue Eminenz, einen bemerkenswerten Satz sagen: «Der Zar nennt nie Zahlen, wenn er über Politik spricht: Er benutzt die Sprache des Lebens, des Todes, der Ehre, des Vaterlandes.» Unsere Staatschefs sprechen zwei Sprachen und nur zwei Sprachen: die Sprache der Statistik und die Sprache des Mitgefühls.

Seit Beginn der Proteste gegen Emmanuel Macrons Rentenreform, die von Krawallen und Gewalt begleitet wurden, hat der Präsident der französischen Republik die Rollen eines tadelnden Lehrers und eines fliegenden Feuerwehrmanns übernommen. In einem parlamentarischen System ist es für Politiker unmöglich, sich nicht an den Ort einer Tragödie, einer Katastrophe oder eines besonders abscheulichen Verbrechens zu begeben.

Wer dies versäumt wie George W. Bush während des Hurrikans «Katrina», der 2005 in Louisiana Tausende von Menschenleben forderte, riskiert die Abwahl. Der amerikanische Präsident hatte sich darauf beschränkt, mit der Air Force One die Region zu überfliegen. Dafür wurde er später heftig kritisiert, und Kanye West beschuldigte ihn gar, die Afroamerikaner zu verachten.

Unsere Regierungen betreiben mittlerweile eine affektive Politik, die darauf abzielt, die Bürger zu trösten. Der väterliche Staat nimmt die Unglücklichen in den Arm und versichert ihnen, dass die Nation sie nicht im Stich lassen wird.

Zerfall der Sittlichkeit

In Frankreich reichen die Interventionen des königlichen Wunderheilers nicht mehr aus, um die Flut von Brutalitäten und tragischen Ereignissen, die in die Nachrichten schwappen, einzudämmen. Emmanuel Macron hat darum bei dem Politologen Jérôme Fourquet, einem der brillantesten Analysten unserer Gesellschaft, eine Studie über die Verwilderung unseres sanften Landes in Auftrag gegeben.

Kaum hatten Fourquet und Macron in diesem Zusammenhang den Begriff der «Décivilisation» in Umlauf gebracht, schrien die Linke und die extreme Linke auf. Denn so lautet auch der Titel eines Buches des rechtsextremen Autors Renaud Camus.

Jérôme Fourquet hat diesen Begriff jedoch von dem deutsch-britischen Soziologen Norbert Elias übernommen, der ihn 1939 in England prägte, um den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland zu beschreiben. In Frankreich zeigen die grundlosen Angriffe auf Unbeteiligte, die Morddrohungen, die Zunahme der Kriminalität, die Brutalität gegenüber Parlamentariern einen beunruhigenden Zerfall der Sittlichkeit.

In Marseille ist die Zahl der jungen Männer, die im Zusammenhang mit dem Drogenhandel getötet wurden, mit 23 Toten seit Januar so hoch, dass die Notaufnahme der Spitäler auf Militärmedizin umgestellt hat, um die Schussverletzungen zu behandeln. Der Firnis der Zivilisation ist dünn, ihre Errungenschaften sind gefährdet. Schon Diderot befürchtete, dass seine Landsleute «den Weg des Fortschritts rückwärtsgehen» und in die Barbarei zurückfallen würden, aus der die Aufklärung sie zu befreien versuchte.

Doch der von Fourquets Begriff suggerierte Vergleich mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus hinkt: Unser Land läuft nicht Gefahr, dass sich eine dem Nationalsozialismus ähnliche Ideologie etabliert: Marine Le Pens Rassemblement national ist populistisch, nationalistisch und inkompetent. Die moralische Verwilderung ist nicht auf eine Massenbewegung zurückzuführen, sondern auf einen übersteigerten Individualismus, der gesellschaftliche Notwendigkeiten nicht mehr anerkennen will.

Verbote, insbesondere im Strassenverkehr, wo die Zahl der Zuwiderhandlungen explosionsartig angestiegen ist, werden als unerträgliche Einschränkungen der Freiheit empfunden. In dieser Hinsicht ist die Zahl der Polizisten, die in Ausübung ihres Amtes verletzt (3800 im Jahr 2004, 4900 im Jahr 2020) oder von Rasern getötet wurden, ein deprimierender Indikator für das Ausmass der Gewalt gegen Behörden. Nicht zu vergessen sind die Angriffe auf Feuerwehrleute, die seit 2005 ständig zunehmen, oder die Übergriffe auf Krankenhauspersonal und Lehrer.

Politiker schüren die Wut

Das alles hat vielfältige Ursachen: Der Bürger der modernen Demokratie ist gleichzeitig ein verwöhntes Kind, das eine antiautoritäre und auf die geringsten Bedürfnisse eingehende Erziehung erhalten hat. Als Kunde ist er ein König, dessen Wünsche auf dem Marktplatz heilig sind. Bis ins Erwachsenenalter bleibt er «Seine Majestät das Baby», dem man alles schuldig ist.

Das Recht, Rechte zu haben, verkehrt sich in das Recht, alle Rechte zu haben, wobei diese mit dem eigenen Wohlbefinden gleichgesetzt werden: Jede Einschränkung oder Behinderung macht mich zum Opfer und legitimiert meine Wut. Hinzu kommt schliesslich die von Lehrern und Sprachwissenschaftern festgestellte abnehmende Beherrschung der französischen Sprache, die Nuancen verunmöglicht und die Eskalation mit sofortigen Beschimpfungen beschleunigt.

Die französische Gesellschaft scheint sich in einem Zustand ständiger Überforderung zu befinden. Wer hätte vorhersagen können, dass junge Menschen ihr Leben für eine Pfütze riskieren würden? So geschah es jedoch im vergangenen April, als eine Gruppe von Ökoterroristen unter dem Slogan «Der Aufstand der Erde» zu Protesten gegen den Bau von Wasserreservoirs für die landwirtschaftliche Bewässerung in Sainte-Soline aufrief. Mehrere Demonstranten und Polizisten wurden dabei schwer verletzt.

Aber es gibt Politiker der extremen Linken, die in die Glut blasen und das «revolutionäre Chaos» herbeiführen wollen. Sie klatschen den Schlägern Beifall und protestieren auch nicht, wenn auf der Place de la Nation ein Polizist vom schwarzen Block mit einem Molotowcocktail angegriffen wird und schwere Verbrennungen erleidet. Sie beschuldigen die Polizei immer wieder der Gewalttätigkeit, sprechen die Randalierer aber von jeglicher Brutalität frei, die selten eine Gefängnisstrafe riskieren, wenn sie gefasst werden.

Immerhin scheint sich die Haltung der Justiz zu ändern, nachdem in Amiens ein Grossneffe von Brigitte Macron von einem Mob fast umgebracht worden ist. Wir erleben weder einen Bürgerkrieg noch einen Staatsstreich, sondern eher eine schleichende Zersetzung sittlicher Normen, beschleunigt durch eine unpopuläre Rentenreform.

Gewalt ist allerdings seit dem Ancien Régime ein fester Bestandteil unserer Geschichte. Das sollte Frankreich nicht vergessen. Zwar zeichnete sich die Französische Revolution durch die Abschaffung der Privilegien aus. Sie brachte 1793 aber auch den Terror, den ersten Ansatz zu einer totalitären Gesellschaft, woran Lenin erinnern sollte und den der rotbraune Agitator Jean-Luc Mélenchon heute lobt.

Das 19. Jahrhundert war geprägt von den blutigen Tagen von 1830, 1848 und der Pariser Kommune, die Tausende Tote forderte. Das 20. Jahrhundert brachte seine eigene Gewaltgeschichte hervor. Ausgenommen der Mai 1968, der trotz der Härte der Zusammenstösse nur drei Todesopfer forderte.

Symptom eines Malaises

Heute werden bei jeder Demonstration Banken, Versicherungen und Immobilienbüros verwüstet, und niemand empört sich darüber. Niemand zahlt für die verursachten Schäden. Die Kinder der Reichen, der schwarze Block, die Antifa und die habituellen Anarchisten vergnügen sich damit, das Stadtmobiliar zu zerstören, das am nächsten Tag von den städtischen Arbeitern repariert wird. Die Bürgersöhne machen es kaputt, und die Proletarier flicken es.

Unzählige Präfekturen wurden niedergebrannt, öffentliche Gebäude verwüstet, Autos und Busse angezündet. Vergessen wir nicht den jüngsten Wutausbruch der Gelbwesten, die zu allem bereit sind, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen.

Die unkontrollierte Einwanderung und der radikale Islam sind echte Probleme für alle Länder der Europäischen Union. Sie treffen jedoch auf ein Frankreich, das sich in Auflösung befindet, das nicht mehr arbeiten will und die internationale Deklassierung mit voller Wucht zu spüren bekommt. Die Dezivilisation ist das Symptom eines tieferen Malaises.

Frankreich ist der kranke Mann Europas.

Pascal Bruckner ist Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Paris. – Übersetzt aus dem Französischen.