Weltwoche, Bret Stephens, 31.1.2024
… von einem, der eigentlich will, dass er verliert.
Wenn nicht ein politisches Wunder geschieht oder eine Naturkatastrophe dazwischenkommt, wird Donald Trump als Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei nominiert werden. Sofern Joe Biden im Herbst von den Demokraten als Kandidat bestätigt wird, dürfte Trump laut Umfragen beste Chancen haben, wieder ins Weisse Haus einzuziehen.
Was Gott verhüten möge. Was sollten seine Kritiker nun tun?
Man kann einen Gegner nicht besiegen, wenn man nicht erkennen will, warum er so beeindruckend ist. Zu viele Menschen, zumal Progressive, fragen sich nicht, woher Trumps ungebrochene Anziehungskraft rührt. Sie könnten darüber nachdenken, ohne ihn und seine Anhänger zu beschimpfen oder seinen Aufstieg ausländischen Kräften oder der Ungerechtigkeit des Wahlmännergremiums zuzuschreiben. Da ich in den nächsten Monaten meine Stimme gegen seine Kandidatur erheben werde, möchte ich hier darlegen, was für Donald Trump spricht.
Warnung vor Massenimmigration
Beginnen wir mit dem Grundsätzlichen. Trump hat drei wesentliche Dinge verstanden. Die wichtigste geopolitische Tatsache unseres Jahrhunderts ist die Massenmigration aus dem Süden und Osten, die zu demografischen, kulturellen, ökonomischen und letztlich politischen Verwerfungen führt. Trump hat das schon 2015 erkannt, in jenem Jahr also, in dem Europa von einer weithin unkontrollierten Migrationsbewegung aus dem Nahen Osten und Afrika überrollt wurde. Wie er im darauffolgenden Jahr erklärte: «Eine Nation ohne Grenzen ist keine Nation. Wir brauchen eine Mauer. Die Gesetze müssen eingehalten werden.»
Viele Kritiker von Trump sehen in der praktisch unkontrollierten Migration überhaupt kein Problem für den Westen. Für manche ist es eine Gelegenheit, Mitmenschlichkeit zu demonstrieren. Andere betrachten Migration als unerschöpfliche Quelle von billigen Arbeitskräften und neigen dazu, Andersdenkende als Rassisten zu verurteilen. Aber Grenzüberwachung – ob durch eine Mauer, einen Zaun oder mit anderen Mitteln – ist kein Rassismus, sondern unabdingbar für ein funktionierendes Gemeinwesen.
Erst jetzt, da die Konsequenzen von Bidens Migrationspolitik in den Strassen, Obdachlosenheimen und Schulen von Grossstädten wie New York und Chicago, die von Demokraten geführt werden, sichtbar werden, fangen die Kritiker von Trump an, die Dinge etwas klarer zu sehen. Steuerfinanzierte Sozialleistungen gibt es für Menschen, die in Amerika leben, nicht grundsätzlich für jeden, der es unter Missachtung der Gesetze irgendwie in unser Land schafft. Auf dem Arbeitsmarkt gelten Vorschriften und Gesetze, er ist kein Ort eines unaufhörlichen Stroms von Verzweifelten, die bereit sind, für weniger Geld länger zu arbeiten. Eine nationale Kultur wird getragen von gemeinsamen Erinnerungen, Idealen, Gesetzen und einer gemeinsamen Sprache – was Neuankömmlinge als Einlassbedingung honorieren und akzeptieren sollten. Es gibt kein riesiges Eingangstor für all jene, die vom Reichtum und von der Grosszügigkeit Amerikas profitieren wollen.
Es verriet etwas über die Illusionen in der Politik des Westens, dass Trumps Hinweis auf das Offensichtliche seinerzeit als Skandal betrachtet wurde, jedenfalls von dem Teil der Gesellschaft, der am wenigsten unter Massenmigration zu leiden hatte. Für Millionen anderer Amerikaner war seine Botschaft, wie vulgär er sie auch formuliert haben mochte, nur ein Ausdruck gesunden Menschenverstands.
Das Zweite, was Trump verstand, hatte mit der allgemeinen Verfassung des Landes zu tun. Trump wurde von einer Welle des Pessimismus ins Weisse Haus getragen – den seine Kritiker nicht teilten, weil er von einem Amerika sprach, das sie nicht sahen oder nur als Karikatur verstanden. Aber auch in diesem Jahr, da linke Eliten behaupten, dass alles gut laufe, während für die allermeisten Amerikaner nichts gut läuft, hat Trump mit seinen wenig schmeichelhaften Ansichten die Stimmung im Land erfasst.
2017 stützte der Demograf Nicholas Eberstadt diesen Pessimismus mit umfassenden Daten in einem einflussreichen Beitrag für Commentary. Er verwies auf ein zähes Wirtschaftswachstum und einen Rückgang der Erwerbsquote, die sich seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr erholt hatte. Es gab eine steigende Sterberate unter Weissen mittleren Alters und eine sinkende Lebenserwartung für Neugeborene, nicht zuletzt wegen stark ansteigender Todesfälle durch Selbstmord, Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit. Mehr als 12 Prozent aller erwachsenen Männer waren vorbestraft, womit sie auf der Schattenseite des Lebens standen. Und der wirtschaftliche Niedergang war allenthalben wahrzunehmen, immer weniger junge Amerikaner konnten darauf hoffen, den Lebensstandard ihrer Eltern zu erreichen.
Viel zu wenig hat sich seitdem getan. Die Erwerbsquote ist noch immer dort, wo sie in den letzten Tagen der Regierung Obama war. Immer mehr Amerikaner nehmen sich aus Verzweiflung das Leben. Die Lebenshaltungskosten sind deutlich angestiegen, und während die Preise von Artikeln des täglichen Bedarfs zurückgehen könnten, gilt das nicht für Mieten. Nur 36 Prozent der Wähler glauben noch an den «amerikanischen Traum» (2016 waren es 48 Prozent). Wenn überhaupt, dann könnte Trumps These heute noch zutreffender sein als zum Zeitpunkt seiner ersten Kandidatur.
Institutionen verspielen Vertrauen
Schliesslich stellt sich die Frage nach den Institutionen, die angeblich unparteiisch sein sollen – von den Eliteuniversitäten und Medien bis zu den Gesundheitskommissionen und dem FBI. Trumps Kritiker (mich eingeschlossen) haben oft gesagt, dass er mit seiner Demagogie und Verlogenheit das Vertrauen in diese wichtigen Institutionen untergraben habe. Wir sollten aber ehrlicherweise zugeben, dass diese Institutionen – durch Parteilichkeit oder Inkompetenz – die ihnen entgegengebrachte Wertschätzung selbst verspielt haben.
Wie konnte es dazu kommen? Ein Grossteil der Medien-Elite, zumeist links orientiert, hat bei den Wahlen 2016 offen Partei ergriffen und damit nicht nur nicht verstanden, warum Trump gewann, sondern wahrscheinlich auch ungewollt zu seinem Wahlsieg beigetragen. Die akademische Welt, ebenfalls weitgehend links, agierte zunehmend illiberal, nicht nur gegenüber Konservativen, sondern gegenüber jedem, der die Orthodoxie der Progressiven auch nur ansatzweise kritisierte. Das FBI missbrauchte seine Autorität mit dubiosen Ermittlungen und schlüpfrigen Leaks, die zu sensationellen Schlagzeilen führten, aber nicht zu Strafprozessen, geschweige denn zu Verurteilungen.
Die staatlichen Gesundheitsinstitutionen vermasselten eine wirksame Reaktion auf die Pandemie mit (meist) guten Intentionen, aber häufig katastrophalen Folgen: «Wenn man als Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitswesens eine Entscheidung treffen muss, sieht man die Frage, was richtig und falsch ist und was Leben retten wird, sehr eng», sagte Francis Collins, der Ex-Direktor der National Institutes of Health, im vergangenen Monat. «Man denkt nicht darüber nach, ob das Leben der Menschen total durcheinandergebracht wird, ob es die Wirtschaft ruiniert und viele Kinder nicht mehr die Schule besuchen können, wovon sie sich nie mehr ganz erholen werden.»
Trump und seine Anhänger haben das kritisiert. Von Leuten, die sich für aufgeklärt und einfühlsam halten und im Kulturleben den Ton angeben, wurden sie dafür als Idioten, Lügner und Fanatiker beschimpft. Diese Verachtung verstärkte bei Millionen von Amerikanern nur den Eindruck, dass die linken Eliten selbstverliebt, arrogant, hysterisch und weltfremd sind – oder, um einen von Trumps Lieblingsausdrücken zu verwenden, «widerlich».
Einige Leser werden zustimmend nicken, dann aber fragen: Und was ist mit dem Nichtakzeptieren des Wahlergebnisses? Und was mit dem 6. Januar? Und was ist mit der Bedrohung, die Trump für das Fundament unserer Demokratie darstellt? Aus meiner Sicht alles zutreffende, ernsthafte Bedenken. Man muss aber auch versuchen, zu verstehen, warum so viele Wähler das Argument vom «Ende der Demokratie» nicht beeindruckend finden.
Haben sie diesen Einwand denn nicht schon einmal gehört – vorgebracht in der gleichen apokalyptischen Intensität? 2016 wurde Trump oft mit Mussolini und anderen Diktatoren verglichen (auch ich bekenne mich dazu). Der Vergleich wäre überzeugender gewesen, wenn es auch in Trumps Amtszeit zur Inhaftierung und Ermordung politischer Gegner gekommen wäre, wenn Wahlen gefälscht oder annulliert worden wären, wenn die Presse gegängelt oder verboten worden wäre – und Trump heute noch immer im Amt wäre und nicht zur Wiederwahl anträte. Das Leugnen des Wahlergebnisses ist gewiss unschön, aber es ist kein Einzelfall. Prominente Demokraten haben die Legitimität der beiden Wahlsiege von George W. Bush in Frage gestellt.
Viele überzeugte Republikaner halten den Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 für eine Schande und den Tiefpunkt von Trumps Präsidentschaft. Sie glauben aber auch, dass es kein Aufstand war, sondern eher ein hässlicher Wutanfall von Trump und seinen rabiatesten Anhängern, der keinerlei Chancen hatte. Nicht zuletzt deswegen, weil die von Trump nominierten Bundesrichter und Richter am Supreme Court seine juristischen Einsprüche zurückwiesen und ihm nichts anderes übrigblieb, als die Urteile zu akzeptieren. Eine amerikanische Version von Wladimir Putin ist Trump jedenfalls nicht.
Deswegen dürften die Warnungen von Biden und anderen, Trump sei eine Gefahr für die Demokratie, selbst bei vielen moderaten Wählern nicht verfangen. Wenn es eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie gibt, kommt sie dann nicht auch von demokratischen Richtern und Staatsbeamten, die unter Verweis auf abwegige Theorien (die selbst linke Juristen wie Lawrence Lessig von der Harvard-Universität als gefährlich und absurd bezeichnen) Trumps Namen von den Wahlzetteln in Maine und Colorado streichen wollen? Wenn Linke versuchen, im Namen der Demokratie die Demokratie zu unterdrücken, hilft das ihrer Sache weder politisch noch juristisch. Sie bestätigen lediglich die schlimmsten Klischees hinsichtlich ihrer eigenen Heuchelei.
Nach Lage der Dinge wird es bei der Wahl 2024 nicht um das Thema Demokratie gehen, sondern darum, welcher Kandidat mehr für die Wähler tun wird. Das wird natürlich zu der Frage führen, welcher Kandidat in seiner Amtszeit mehr für die Wähler getan hat. Bidens Anhänger sind überzeugt, dass der Präsident mit einer guten Story aufwarten kann, glauben aber auch, dass Trump nichts vorzuweisen hat, sondern nur Eigenlob und Lügen. Das ist linke Selbsttäuschung.
Gegner in Atem halten
Abgesehen von der Corona-Pandemie, einem singulären Ereignis, das fast jeden amtierenden Präsidenten unvorbereitet erwischt hätte, haben die Amerikaner allen Grund, sich an die Trump-Jahre als gute Jahre zu erinnern – als eine Zeit, die den von Experten vorausgesagten Untergangsszenarien Hohn sprach. Die Löhne stiegen schneller als die Inflation, was laut einer Untersuchung der Vergleichsplattform Bankrate unter Biden gerade erst anfängt. Die Arbeitslosigkeit sank auf ein Fünfzig-Jahres-Tief (wie unter Biden), die Aktienkurse schossen in die Höhe, Inflation und Zinsraten waren niedrig.
Trump überzeugte Amerikaner, die in der Wirtschaft tätig waren (Bauunternehmer, Fabrikanten, Energieerzeuger, Nahrungsmittelproduzenten usw.) und nicht so sehr Anwälte, Akademiker, Journalisten, Beamte. Und er teilte das Ordnungsbedürfnis der einfachen Amerikaner, einschliesslich des Respekts für die Polizei, wofür sich die Linke am 6. Januar starkmachte, aber deutlich weniger in den Monaten von Unruhen, Gewalt und Anarchie, die auf die Ermordung von George Floyd folgten.
Und in der Aussenpolitik kann man sich fragen, ob die Welt (angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine, der Angriffe von Hamas und Hisbollah auf Israel, des Angriffs der Huthi auf den Schiffsverkehr im Roten Meer und der von den Chinesen offen angedrohten Invasion von Taiwan) unter Biden sicherer geworden ist. Trump mag viel Lärm gemacht haben, aber seine wirren Kommentare und seine Unberechenbarkeit schienen die Gegner Amerikas herauszufordern und in einer Weise in Atem zu halten, wie man das von Bidens vorsichtiger und kraftloser Art nicht sagen kann.
Für den normalen Wähler ist wichtig, was am Ende herauskommt. Trumps Ruppigkeit ist für viele eher unwichtig. Man darf zumindest fragen, ob seine gelegentlichen chauvinistischen Ausfälle schlimmer sind als das Moralisieren und die Besserwisserei seiner Kritiker, die an allem Anstoss nehmen. Viele derer, die beim Bekanntwerden des berüchtigten «Hollywood Access»-Videos in Ohnmacht fielen, hatten (nur wenige Jahre zuvor) auf viel schwerer wiegende Vorwürfe sexueller Übergriffe von Bill Clinton als Justizminister und Gouverneur von Arkansas und als späterer Präsident absolut gleichgültig reagiert. Man kann Trump Vulgarität vorwerfen, aber man kann nicht so tun, als lebten wir nicht in einer vulgären Zeit.
Die Amerikaner haben allen Grund, sich an die Trump-Jahre als gute Jahre zu erinnern.Und was ist mit den anderen Kandidaten der Republikanischen Partei? Warum entscheiden sich die Wähler der Grand Old Party bei den Vorwahlen nicht für sie, sondern für Trump, trotz des ganzen Ballasts und seiner Angeberei?
Meine Theorie sieht so aus: Wenn republikanische Wähler glauben, das grösste Problem im heutigen Amerika seien die verhassten Progressiven, dann kann man ihnen am besten eins auswischen, indem man ihnen Trump noch einmal für vier Jahre vorsetzt. Sollte Nikki Haley die Nominierung und dann die Wahl gewinnen, wären die Demokraten enttäuscht, aber sie würden nicht, wie nach Trumps Wahlsieg 2016, in Tränen ausbrechen und mit den Zähnen klappern. Aus Sicht vieler Republikaner würde die Befriedigung über die Verzweiflung der Linken bei einer Wiederwahl Trumps seine Schattenseiten mehr als wettmachen.
Aber es gibt noch einen tieferen Grund, den Trumps Gegner bedenken sollten, wenn sie überlegen, wie er zu besiegen wäre. Wie Publizisten wie Alana Newhouse von Tablet angemerkt haben, ist das Wort «kaputt» aus dem Leben der Amerikaner nicht mehr wegzudenken: kaputte Familien, kaputte öffentliche Schulen, kaputte Innenstädte, kaputte Universitäten, kaputte Gesundheitsversorgung, kaputte Medien, kaputte Kirchen, kaputte Grenzen, kaputter Staat – bestenfalls Hüllen dessen, was sie einmal waren. Und überall ist deutlich zu spüren, dass die Institutionen Amerikas und ihre hirntoten und selbstgefälligen Führungsfiguren nicht ewig auf Autopilot weitermachen können.
Die Kritiker Trumps sollten es nicht merkwürdig finden, dass jemand, der aus unserer Sicht ein Chaot ist, von seinen Anhängern als ein Mann angesehen wird, der Ordnung schaffen kann. Ich teile diese Ansicht nicht. Man repariert beschädigte Systeme nicht, indem man sie noch weiter beschädigt. Reparatur und Erneuerung sind fast immer besser als Reaktion oder Revolution. Aber ich sehe nicht, dass Trumps Gegner etwas ausrichten können, solange sie die Legitimation und die Kraft der grundlegenden Unzufriedenheit nicht zumindest anerkennen. Wer von «Morgenröte in Amerika» spricht, wenn 77 Prozent der Amerikaner glauben, dass das Land auf einem falschen Weg ist, der hat etwas Wesentliches nicht verstanden.Trumps Gegner sagen, dass die bevorstehenden Wahlen die wichtigsten in unserem Leben sind. Wäre es dann nicht an der Zeit, den Kopf aus dem Sand zu ziehen?
Bret Stephens ist Pulitzerpreisträger und Meinungskolumnist der New York Times. Dieser Artikel erschien zuerst in der New York Times.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork