Beziehung Schweiz – EU: «Sollte ein Rechtsakt durchrutschen, ist es zu spät, dann gilt das EU-Recht mit allen Konsequenzen»

Für den Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser (*) geht die dynamische Rechtsübernahme weiter als erwartet, die Mitwirkung von Volk und Parlament stehe auf dem Spiel. Der Bundesrat vernachlässige die innenpolitischen Folgen.

NZZ, Katharina Fontana, Fabian Schäfer, 15.07.2025

Illustration Simon Tanner / NZZ

Was hat Sie bei der Lektüre der neuen Abkommen am meisten überrascht?

Wie wenig der Bundesrat dazu sagt, wie er die neuen institutionellen Regeln innenpolitisch umsetzen will. Die Mitwirkung von Volk und Parlament bleibt offen. Dies ist umso erstaunlicher, als die Rechtsübernahme weiter geht als erwartet – auch das war eine Überraschung. In den Abkommen sind zwei Arten der Rechtsübernahme vorgesehen: Die mildere Form ist das Äquivalenzverfahren, bei dem die Schweiz neues EU-Recht mit einer eigenen Gesetzgebung übernimmt. Die andere – das Integrationsverfahren – geht deutlich weiter.

Können Sie das ausführen?

Mit der Integration wird neues EU-Recht direkt Teil der Schweizer Rechtsordnung. Wenn hier ein Rechtsakt durchgeht, ohne dass die Schweiz Nein sagt, gilt er unmittelbar auch in der Schweiz, und zwar ohne dass Bundesrat oder Parlament noch etwas beschliessen müssen. Das ist ein weitgehender Eingriff, zumal dieses Verfahren auch beim heikelsten Abkommen, bei der Personenfreizügigkeit, gelten soll.

Aber auch in diesem Verfahren kann die Schweiz eine Übernahme ablehnen, oder?

Ja, aber mit den Abkommen verpflichtet sich die Schweiz, in den fraglichen Bereichen neues EU-Recht grundsätzlich immer zu übernehmen. In Ausnahmefällen kann sie dies ablehnen, aber das ist nicht mehr als ein Notventil. Man darf zudem das Integrationsverfahren in der Praxis nicht unterschätzen: Es erfordert hohe Aufmerksamkeit. Wenn der Bundesrat in der ersten Phase des Verfahrens, im Gemischten Ausschuss, nicht bemerkt, was da auf die Schweiz zukommt, kann es ungemütlich werden. Sollte da etwas durchrutschen, ist es zu spät. Dann gilt das neue Recht mit allen Konsequenzen wie den damit verbundenen Verordnungen und Gerichtsurteilen.

Aber könnte das Volk im Notfall nicht immer noch Nein sagen?

Nur wenn das Parlament rasch genug handelt. Es braucht verbindliche Abläufe, um die Entwicklung des EU-Rechts zu verfolgen.

Was hätten Sie vom Bundesrat erwartet?

Eine innenpolitische Antwort auf die institutionellen Protokolle, die man mit der EU ausgehandelt hat. Wer entscheidet bei einem neuen Rechtsakt, ob die Vertreter des Bundes im Gemischten Ausschuss die Übernahme akzeptieren, verweigern oder einen Vorbehalt anbringen? Macht dies der zuständige Departementschef alleine? Wann ist ein Thema so wichtig, dass der Gesamtbundesrat entscheidet? Wie werden die Kommissionen des Parlaments einbezogen? Kann das Parlament bereits beim Decision-Shaping ein Veto einlegen? Wenn die Schweiz bei der Rechtsübernahme einmal zu spät oder falsch reagiert, verbaut sie sich Spielräume. Das Risiko eines Betriebsunfalls besteht.

Gab es bei Ihrer Lektüre der Verträge auch positive Überraschungen?

Ja. Die verschiedenen Ausnahmen etwa zum Lohnschutz oder zur Zuwanderung sind sehr präzis umschrieben. Sie sind so genau definiert, dass man davon ausgehen kann, dass sie auch gegen künftige Entwicklungen des EU-Rechts abgesichert sind.

Dann halten Sie die Ausnahmen für wasserdicht?

Sicherheit gibt es in Gerichtsverfahren nie. Aber so weit sollte es gar nicht kommen. Die Verträge zeigen, dass die EU-Kommission diese Ausnahmen politisch akzeptiert hat. Sie wird also kaum deswegen mit der Schweiz vor Schiedsgericht ziehen.

Gegner befürchten, dass die Rechtsübernahme ausufert. Laut Bundesrat ist sie klar abgegrenzt und kann den Geltungsbereich der Abkommen nicht verändern. Wie sehen Sie das?

Für den Status quo des EU-Rechts sehe ich keine grossen Risiken. Aber wir wissen nicht, welche Umgestaltungen die EU in Zukunft vornehmen wird. Niemand hat etwa geahnt, dass sie die Personenfreizügigkeit über den Arbeitsmarkt hinaus auf alle Unionsbürger ausweiten würde. Die grosse Frage ist dann, ob die EU mit der Schweiz wie bis anhin politische Verhandlungen aufnimmt – oder ob sie versuchen wird, die grundlegenden Reformen über die Rechtsübernahme durchzubringen.

Konkret: Wenn die EU bei der Personenfreizügigkeit den Familiennachzug ausweitet oder die Frist für den Daueraufenthalt von fünf auf drei Jahre reduziert, muss die Schweiz dies dann übernehmen?

Wo es keine expliziten Ausnahmen gibt, muss die Schweiz grundsätzlich alles übernehmen. Für den Daueraufenthalt hat sich die Schweiz eine Ausnahme ausbedungen, hier gilt eine Frist von fünf Jahren. Beim Familiennachzug sehe ich keine Ausnahme. Wenn die EU ihn also eines Tages ausweiten sollte, müsste die Schweiz dies in ihr Recht integrieren.

Laut Bundesrat ist sichergestellt, dass die Freizügigkeit weiterhin am Arbeitsmarkt anknüpft und die EU keine Ausdehnung auf alle erzwingen kann. Sehen Sie das auch so?

Ja, aber die Grenzen sind fliessend. Vor allem beim Familiennachzug stellen sich heikle Fragen. Je stärker er ausgeweitet wird, umso mehr schwappt die Freizügigkeit über den Arbeitsmarkt hinaus. Da könnte es Streitfälle in der Anwendung geben, wie sie auch in der EU häufig sind. Wann darf jemand nachziehen? Wer erhält welche Kinderzulagen? In solchen Fällen wird die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) entscheidend sein: Er entscheidet praktisch immer für eine Ausweitung der Rechte. Im Unterschied zur EU kann aber weiterhin niemand in die Schweiz einwandern und von Anfang an Sozialhilfe beziehen.

Sie haben den EuGH angesprochen. Er wird bei der Streitbeilegung überall mitreden, wo die Verträge auf EU-Recht verweisen. Nur in den anderen Fällen entscheidet das Schiedsgericht alleine. Wer hat nun wie viel zu sagen?

Das ist unklar. Sicher ist, dass das Schiedsgericht in eigener Kompetenz entscheidet, ob Ausgleichsmassnahmen verhältnismässig sind. Wenn aber Begriffe aus dem EU-Recht eine Rolle spielen – und das wird gerade bei der Freizügigkeit fast immer der Fall sein –, ist die Auslegung des EuGH bindend. Oft wird das Schiedsgericht den EuGH nicht einmal beiziehen müssen, weil seine Position aus seinen Urteilen bereits klar ist.

Was halten Sie von der Schutzklausel, mit der der Bundesrat die Zuwanderung notfalls bremsen will? Ist sie mehr als ein Papiertiger?

Zumindest ist sie im Abkommen klarer als bisher, und sie wird durch ein Schweizer Gesetz umgesetzt. Wenn der Bundesrat im Gemischten Ausschuss nicht durchdringt, kann er vor das Schiedsgericht gehen. Wenn dieses einwilligt, kann er Schutzmassnahmen ergreifen. Die Frage ist, was passiert, wenn er diese Einwilligung nicht bekommt.

Der Bundesrat sagt, dass er in diesem Fall die Zuwanderung eigenmächtig beschränken könnte. Der mögliche Vertragsbruch ist Teil des bundesrätlichen Konzepts. Was halten Sie davon?

Es handelt sich um eine politische Ankündigung im Gesetz, aber völkerrechtlich zulässig wird das Ganze dadurch natürlich nicht. Auch ist es nicht logisch, zum einen mit der Rechtssicherheit zu argumentieren, welche die Verträge bringen, und zum andern schon von vorneherein den Vertragsbruch in Aussicht zu stellen. Und es wäre wohl auch treuwidrig. In diesem Fall könnte man der EU kaum einen Vorwurf machen, wenn auch sie sich nicht mehr an das Vereinbarte halten und die Schweiz bei der Forschung erneut ausgrenzen würde.

Das Schiedsgericht soll aus drei oder fünf Richtern bestehen, paritätisch zusammengesetzt, der Präsident wäre von beiden Seiten zu wählen. Wer würde die Schweizer Richter bestimmen?

Das weiss man nicht, wie man einiges zum Schiedsgericht noch nicht weiss, was die Umsetzung durch die Schweiz betrifft. Im Abkommen steht aber, dass es eine Liste mit Sachverständigen geben soll . . .

. . . werden das Europarechtler sein?

Das ist anzunehmen. Bundesrichter kommen eher nicht infrage, denn im Schiedsgericht kann es auch um deren eigene Fälle gehen. Es ist offen, wie das Ganze umgesetzt werden soll, ob der Bundesrat oder das Aussendepartement die Liste mit Experten erstellt und entscheidet, wer für die Schweiz in das Schiedsgericht delegiert wird. Warum sollte nicht das Parlament die Personen auf der Liste wählen?

Beim Strassburger Gerichtshof für Menschenrechte sieht man, wie viel Einfluss der jeweilige Landesrichter hat. Wie wäre das beim Schiedsgericht?

Die Schiedsrichter hätten sehr viel Macht – deutlich mehr als der Schweizer Richter in Strassburg. Sie könnten über einen Schweizer Volksentscheid befinden. Umso wichtiger ist es, rechtzeitig zu klären, wer die Personen bestimmt, die solche Urteile fällen können. Man sollte nicht warten, bis das erste Urteil vorliegt.

Der Bundesrat sagt, dass sich bei den Volksrechten nichts ändert und die Stimmberechtigten weiterhin Initiativen und Referenden einreichen und abstimmen können. Teilen Sie diese Meinung?

Nein, das ist eine rein formelle Sichtweise, die der Realität nicht gerecht wird. Die Pflicht zur dynamischen Rechtsübernahme bringt einen fundamentalen Wechsel bei Abstimmungen. Man muss sich konkret vorstellen, wie das ablaufen wird: Der Bundesrat wird in den Abstimmungserläuterungen schreiben, dass die Stimmberechtigten zum neuen EU-Rechtsakt Ja sagen müssen, weil das völkerrechtlich so abgemacht ist. Andernfalls muss die Schweiz Ausgleichsmassnahmen gewärtigen. Für die Abstimmungsfreiheit ist das ein Problem.

Beim Schengen/Dublin-Abkommen kennen wir die dynamische Rechtsübernahme bereits, hier drohen bei einem Nein nicht nur Ausgleichsmassnahmen, sondern auch der Ausschluss aus den Abkommen.

Das stimmt, doch die neuen EU-Verträge umfassen viel mehr Rechtsgebiete. Mit der dynamischen Rechtsübernahme führt die Schweiz eine neue Rechtspflicht ein, die man in dieser Verbindlichkeit und in diesem Ausmass bisher nicht hatte und die mit Ausgleichsmassnahmen verbunden ist. Mir scheint klar, dass dies die Willensbildung bei einer Abstimmung beeinflusst. Der saubere Weg wäre, die Neuerung klar zu benennen und in der Verfassung zu verankern. Sinngemäss: «Bei der dynamischen Übernahme von EU-Recht gelten für das Parlament und für die Stimmbürger spezielle Regeln.» Andere Staaten haben das gemacht, als sie beim EU-Beitritt ihre gesetzgeberische Souveränität teilweise abgetreten haben.

Sie sprechen das Parlament an. Was würde sich für das Parlament ändern?

Sehr viel. Änderungsanträge und andere Mittel, die dem Parlament heute bei seiner Gesetzgebungstätigkeit offenstehen, haben bei der dynamischen Rechtsübernahme keinen Raum: Das Schweizer Parlament kann die EU-Rechtsakte ja nicht ändern. Es muss versuchen, seine Position viel früher einzubringen, schon bei der Ausarbeitung eines europäischen Erlasses.

Braucht es für die EU-Verträge ein obligatorisches Referendum mit Ständemehr?

Die Abkommen haben spürbare Auswirkungen auf Volk, Parlament, Bundesrat und Justiz. Damit sind sie von Verfassungsqualität. Es wird für gewisse Rechtsbereiche eine Art Nebenverfassung geschaffen. Das Parlament sollte sich ernsthaft überlegen, die Verträge dem Referendum sui generis und somit dem Ständemehr zu unterstellen. Auch nur schon deshalb, weil das Paket riesengross ist und neben den Abkommen auch zahlreiche Gesetzesanpassungen umfasst.

Beim EWR hat man zwei Verfassungsänderungen in den Beschluss eingefügt und das Ständemehr damit zusätzlich gerechtfertigt. Wäre das auch hier der richtige Weg?

Aus meiner Sicht: ja. Es gibt verfassungsrechtlichen Handlungsbedarf. Man müsste die Auswirkung der dynamischen Rechtsübernahme auf die Volksrechte klar benennen. Die Verfassung ist die grosse Leerstelle in diesem Paket, die vom Bundesrat nicht angesprochen wird. Er sollte dies in der Botschaft nachholen und Kompensationen vorsehen. Das Referendum könnte vorverlagert werden.

Vorverlagert? Das müssen Sie erklären.

Wenn die Schweiz im Gemischten Ausschuss der Übernahme eines wichtigen Gesetzgebungsakts zustimmen wollte, unterstünde dieser Beschluss direkt dem fakultativen Referendum. Die Integration ins Abkommen wäre vorläufig blockiert, und es würde schnell Klarheit geschaffen. Ausserdem könnte man an eine neue Volksinitiative zur Aktivierung der Schutzklausel denken. Die Kantone bekommen ja auch eine entsprechende Standesinitiative.

Wenn die Schweiz die Verträge abschliesst, wie wird sich das auf das Machtgefüge zwischen Volk, Parlament, Regierung und Justiz auswirken?

Aus der Europäisierung von anderen Staaten wissen wir, dass mit einer Verschiebung zur Exekutive zu rechnen ist. Aller Erfahrung nach wird der Bundesrat mächtiger werden. Das Bundesgericht wird möglicherweise ebenfalls zu den Gewinnern zählen. An Einfluss verlieren werden das Parlament und das Volk. Die Vernehmlassung sollte dazu genutzt werden, diesem Effekt entgegenzuwirken.

Sind Sie persönlich für oder gegen die Verträge?

Ich sehe meine Aufgabe als Wissenschafter in der kritischen Begleitung der Politik. Deshalb beziehe ich politisch keine Stellung.

  • Andreas Glaser ist Professor an der Universität Zürich für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht unter besonderer Berücksichtigung von Demokratiefragen. Daneben ist er Direktionsmitglied am Zentrum für Demokratie Aarau. Glaser hat an der Universität Heidelberg habilitiert.