Erfühlte Meinungen und historische Fakten – über ein paar verbreitete Legenden in Sachen «Palästina»
Die Haltung der Weltöffentlichkeit zum Gaza-Krieg ist gespalten wie kaum je zuvor. Wer sich ein schlüssiges Bild des scheinbar unlösbaren Konfliktes machen will, sollte die lange Geschichte gut kennen und genau analysieren – wider die Vorspiegelung falscher Tatsachen.
NZZ, Michael Wolffsohn, 21.10.2024
Nach der islamisch-arabischen Eroberung Jerusalems im Jahre 638 errichteten Muslime 690 den Felsendom.
Unauthentisch ist der Begriff «Palästina». Diese Ortsbezeichnung verfügte nämlich im Jahre 135 der römische Kaiser Hadrian, nachdem sein Militär den Aufstand der Juden Judäas blutig niedergeschlagen hatte. Nichts sollte mehr an Jüdisches erinnern. «Palästina» sollte als extrem antijüdische Chiffre bedeuten: «Land der Philister», denn: Die Philister waren sozusagen die Urfeinde der Juden Judäas. Der Hinweis auf den kleinen, dann König David und den Philister-Riesen Goliath genüge.
Wenig authentisch, ja nahezu geschichtsmasochistisch ist die schwarz-weiss-grün-rote Flagge Palästinas. Entworfen hat sie der britische Diplomat Mark Sykes für das bis 1926 haschemitische, dann saudische Königreich Hejas, aus dem 1932 Saudiarabien wurde. Kolonialistischer geht es nicht, denn ebenjener Mark Sykes hat mit seinem französischen Kollegen François Georges-Picot 1916 die Beute des Osmanischen Reiches, eben auch Palästina, nach hochimperialistischer Art aufgeteilt, genauer: aufteilen wollen.
Unwissende verkünden: Die heutigen Palästinenser seien die Nachfahren jener einst an der Ostküste des Mittelmeeres, in der Grossregion Gaza, ansässigen Philister. Diese These hat einen Schönheitsfehler: Die Philister stammen nicht von der Arabischen, sondern von der Balkan-Halbinsel. Sie waren also keine Araber. Um das zwölfte vorchristliche Jahrhundert kamen die Philister bzw. die «Seevölker» als Invasoren in den Vorderen Orient, wo sie, ostwärts ausgreifend, gegen die zuerst auf den Anhöhen des Westjordanlandes lebende vor- und frühjüdische Gemeinschaft anrannten.
Monopolistischer Anspruch
Warum mehr als dreitausend Jahre in die Geschichte zurück? Weil die heutige Selbstbezeichnung der Palästinenser als «Palästinenser» gewollte Geschichtsklitterung ist. Dennoch (oder gerade deswegen) gehört die Philister-Palästinenser-Legende zum kontrafaktischen und letztlich antijüdischen Instrumentarium der Israel-Bekämpfer.
Zu diesem zählt auch der islamisch-monopolistische Anspruch auf den Jerusalemer Tempelberg. Mehrfach, letztmals im Oktober 2016, diente dabei die internationale Gemeinschaft im Rahmen der Vereinten Nationen mit der Unesco als freiwilliger Helfer bzw. nützlicher Idiot. Fakt eins: Auf jenem Hügel – nicht Berg – stand von der Mitte des zehnten vorchristlichen Jahrhunderts bis zum Jahre 586 v. Chr. der erste (salomonische) sowie von 515 v. Chr. bis 70 n. Chr. der zweite Judentempel. Vor der jüdischen Stätte war der «Berg» eine Kultstätte der Jebusiter. Nach der islamisch-arabischen Eroberung Jerusalems im Jahre 638 errichteten Muslime 690 den Felsendom. Die Al-Aksa-Moschee wurde 712 eingeweiht. Ergo: Historisch gibt es zwei Ansprüche, wobei die beiden polytheistischen und das vorislamisch byzantinisch-christliche Zwischenspiel ausser acht bleiben.
Die heutige Selbstbezeichnung der Palästinenser als «Palästinenser» ist gewollte Geschichtsklitterung.
Wir überspringen Jahrhunderte, in denen Völker in «Palästina» kamen und gingen. Allein: Weder das Land noch seine Bewohner, mehrheitlich muslimische Araber, auch wenige Juden, hiessen «Palästina» oder «Palästinenser». Der Rückgriff auf diese knapp zweitausend Jahre alte, ursprünglich eindeutig antijüdische, Araber und Arabien missachtende Bezeichnung erfolgte im internationalen politischen Gebrauch erst wieder im späten 19. Jahrhundert – auch im Zionismus!
Damals, genauer: ab 1517, gehörte (das noch nicht amtlich so genannte) Palästina zum Osmanischen Reich. Völkerrechtlich gültig übertrug der Völkerbund 1922 Grossbritannien das Mandat bzw. die Treuhandschaft über Palästina zu untreuen Händen. Die programmierte britische Untreue ist leicht belegbar. Bereits während des Ersten Weltkrieges hatte Britannien die osmanische Erbmasse mehrfach verteilt. 1915 der haschemitisch-arabischen Dynastie aus dem Hejas (heute Saudiarabien), 1916, wie erwähnt, sich selbst, Frankreich sowie Italien und Russland und 1917 den zionistischen Juden.
Was gehörte zum britischen Mandatsgebiet Palästina? Das Westjordanland einschliesslich Jerusalems, das Ostjordanland (heute Jordanien), das heutige Israel sowie der Gazastreifen.
Das auf dem Papier formulierte Ziel der Treuhandschaft war die «Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina», aber nicht ganz Palästina als jüdische Heimstätte. Ausserdem sollte nichts unternommen werden, was die zivilen und religiösen Rechte der nichtjüdischen Bevölkerung einschränken würde. Das las sich wunderbar human und friedlich. Doch wie verwirklichen bei zweiseitigen Einseitigkeiten?
Von jüdisch-zionistischer sowie besonders palästinensischer Frustration, Agitation und Gewalt weitgehend nicht beirrt, traten die britischen Treuhänder als Kolonialisten auf. Sie teilten auf: Das Ostjordanland Palästinas übergaben sie 1923 den bei der Mandatsvergabe betrogenen Haschemiten. Der Völkerbund besiegelte diesen Betrug 1924 völkerrechtlich. Recht, nicht Gerechtigkeit – innerarabischer Kolonialismus.
Doppeltes Murren
Die Juden sagten zum Mandatsstatut Ja, aber murrten. Sie murrten, wegen des «in Palästina». Die einheimischen Araber in Restpalästina murrten, weil ihnen als demografischer Mehrheit nicht die politische Souveränität in Aussicht gestellt wurde. Sie übersahen (oder wollten übersehen), dass die Grösse der jüdisch-zionistischen Heimstätte im Text überhaupt nicht fixiert worden war. Jenes «in» konnte ein Mini- ebenso wie ein Maxi-In sein. Kein Wort ausserdem darüber, was in «Palästina» mit Juden geschehen sollte. Statt diese Lücke politisch zu nutzen, um möglicherweise fast alles von Palästina zu bekommen, bekämpfte die palästinensische Führung jeglichen jüdisch-zionistischen Anspruch von Anfang an gewaltsam und total.
Das wiederum bedeutet erstens: Historisch und demografisch ist Jordanien Ostpalästina. Das wiederum bedeutet analytisch zweitens: Das Völkerrecht ist für die Haschemiten und ihre Günstlinge vorteilhaft und faktisch gegen die Selbstbestimmung der Palästinenser gerichtet. Recht, Völkerrecht und Gerechtigkeit klaffen hier weit auseinander. 1946 wurde Ostpalästina als Königreich Transjordanien von Britannien in die – militärisch weiter von London abhängige – «Unabhängigkeit» entlassen.
Der nächste Einschnitt: der Uno-Teilungsplan vom 29. November 1947. Das seit 1923 verbliebene Restpalästina sollte in einen jüdischen und einen arabisch-palästinensischen Staat geteilt werden. Das setzte beidseitiges Einverständnis voraus, die jeweils andere Seite als Minderheit sowohl gesetzlich zu tolerieren als auch inwendig bzw. emotional zu akzeptieren.
Am Tag nach der Uno-Abstimmung begann die Palästinenserführung den Bürgerkrieg gegen das entstehende Israel. Sie verlor ihn im April 1948 und rief nach Israels Staatsgründung vom 14. Mai die arabischen Brüder zu Hilfe. Besonders Ägypten und Transjordanien. Sie kamen und nahmen. Ägypten «verwaltete» den eroberten Gazastreifen, und das bis dahin ostjordanische Transjordanien wurde 1948 faktisch sowie 1950 amtlich Jordanien, indem es sich Ostjerusalem und das Westjordanland einverleibte. Mit aktiver britischer Hilfe, denn die Armee König Abdallahs I. wurde vom britischen Oberbefehlshaber Glubb Pascha geführt. Zwar wurde diese Annexion nur von Grossbritannien und Pakistan völkerrechtlich anerkannt, doch im Dezember 1955 wurde Jordanien ohne Wenn und Aber Mitglied der Uno.
So ist es meistens mit Kriegen. Wer sie beginnt und zudem verliert, verliert auch Land und muss mit der Vertreibung der eigenen Landsleute oder deren Flucht rechnen. Man denke an das von den Alliierten vollständig besiegte Deutschland. 1939 begann es den Krieg, 1945 hatte es ihn verloren. Dieses von der eigenen Führung selbstverschuldete Schicksal teilten die Palästinenser mit den Deutschen. Rund 750 000 Palästinenser flohen oder wurden von Israeli vertrieben. Anders als die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen waren sie, auf Geheiss ihrer Führung, einerseits nicht bereit, sich an ihren Fluchtorten zu integrieren und auf Gewalt zu verzichten, andererseits verweigerten die sie aufnehmenden arabischen Staaten ihre Integration.
Den Westen kümmert es nicht
Die palästinensische Bevölkerung blies zum Widerstand. Im Innern Jordaniens brodelte es. Besonders im Westjordanland. 1951 wurde König Abdallah I. von einem Palästinenser ermordet. Gegen den Willen des Königs und seines Nachfolgers Hussein I. überfielen palästinensische «Freiheitskämpfer» aus dem Westjordanland Israel. Gleichzeitig schürten sie innenpolitische Unruhen. Höhepunkt waren 1957/58 vornehmlich von Palästinensern getragene Putschversuche. Brennpunkt war das Westjordanland. Erst britische Soldaten sicherten dem König 1958 seinen Thron. Danach «säuberte» er seine Streitkräfte. Sie wurden nahezu «palästinenserfrei». Ihre tragende Säule: loyale Beduinen, denen die überwiegend urbanen Palästinenser von jeher ein Dorn im Auge waren. Eine Variante der menschheitsgeschichtlichen Konfrontation zwischen Urbanität und Nomadentum.
Im Sechstagekrieg vom Juni 1967 eroberte Israel ausser den syrischen Golanhöhen und dem Gazastreifen Ostjerusalem und das Westjordanland und versuchte anschliessend, eine lokale, frei gewählte Selbstverwaltung aufzubauen. Das misslang, weil sich die palästinensische Nationalbewegung unter der Führung der 1964 in Ostjerusalem gegründeten Palestine Liberation Organization (PLO) in und aus Jordanien radikalisierte. Im September 1970 stand die PLO unmittelbar vor der gewaltsamen Machtergreifung im Königreich. Doch Husseins Beduinenarmee obsiegte. Ihr Blutbad nennen Palästinenser den «Schwarzen September». Bis heute wirkt der Schock. Einen Palästinenseraufstand gab es seitdem in Jordanien nicht mehr.
1970 schauten im Westen die Massen zu. Sie protestierten stattdessen gegen den Vietnamkrieg der westlichen Führungsmacht USA. Keine propalästinensische Demonstration, die auch nur annähernd die Dimensionen der Proteste der Jahre 2023/24 als Reaktion auf Israels vermeintlichen «Völkermord» an «den» Palästinensern annahm.
Drei grosse Palästinenseraufstände, geradezu Kriege, gab es dennoch. Im Westjordanland und im Gazastreifen. Von 1987 bis 1993 die erste Intifada. Von 2000 bis 2005 die zweite Intifada und 2023/24 den Gaza-Krieg der Hamas, aus dem zugleich ihr Krieg im Westjordanland wurde und dem sich unter der Regie von Iran der libanesische Hizbullah, die jemenitischen Huthi sowie proiranische Milizen aus Syrien und dem Irak anschlossen.
Ergebnis eins der ersten Intifada: Aus Angst vor einem Überschwappen des Palästinenseraufstandes von West- nach Ostjordanien löste König Hussein im Juli 1988 alle verbliebenen administrativen und rechtlichen Verbindungen zwischen den beiden Jordanufern. Fortan war – scheinbar – nur Israel und nicht mehr auch Jordanien das entscheidende Hindernis für die Selbstbestimmung der Palästinenser. Bis heute stellt sich die Welt diesem Faktum gegenüber blind.
Ergebnis zwei der ersten Intifada mit den Worten des damaligen Ministerpräsidenten Rabin: das «Risiko des Friedens» eingehen und eine Zweistaatenlösung einleiten. Vergeblich, denn die Doppelstrategie der PLO enthielt neben Diplomatie weiter Terror, der einerseits zu gesteigerter Härte Israels führte, andererseits aber 2000/01 zu diesem Angebot von Ministerpräsident Barak: der Gazastreifen, 97 Prozent des Westjordanlandes als Staat Palästina mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Die PLO lehnte ab und begann die zweite Intifada. Deren Ergebnis: militärische Niederlage.
Die Illusion von «Land für Frieden»
Trotzdem erfolgte die totale Räumung des Gazastreifens durch Israel im Juli 2005 unter der Regie von Ministerpräsident Sharon. Statt «Land für Frieden» seit 2007 Hamas-Raketen für Land. Dennoch wiederholte Israels Ministerpräsident Olmert im September Baraks Angebot von 2000/01. Nein war die Antwort der Palästinensischen Autonomiebehörde, und weitere Hamas-Raketen auf Israel folgten. Israels Reaktion: begrenzte, «proportionale» Militäraktionen. Die nächste Hamas-Aktion: die Terrororgie vom 7. Oktober 2023. Israels Reaktion: der Gaza-Krieg, den die Hamas schon bald faktisch verlor, doch militärisch widersinnig fortsetzte, wobei sie die eigene Zivilbevölkerung aus propagandistischen Gründen tausendfach opferte.
Nach rund 140 Jahren Konflikt und Krieg mit Israel kann die stets gespaltene Palästinenserführung ihrem Volk diese «Errungenschaften» vorweisen: im Gazastreifen wegen der Hamas sowie der Milliardengelder vom Golf und aus dem Westen eine total militarisierte Unterwelt einerseits sowie andererseits, als Folge, eine oberirdisch total verarmte, drangsalierte und leidende Bevölkerung. Die Oberwelt des Gazastreifens in Schutt und Asche.
Bald auch das Westjordanland, Libanon, Jemen, Iran? Die Hamas hat die Welt um eine bislang einmalige Misch-Strategie aus Guerilla und Terror als neue Kriegsform «bereichert». Sie wirkt zugleich als Katalysator eines «richtigen» Mehrfrontenkrieges. Nicht nur für das palästinensische Volk eine einzige Tragödie. Aufgrund von dessen Führung sowie der fehl- und irregeleiteten Politik der internationalen Gemeinschaft unter der Regie der Uno, der USA und der EU.
Michael Wolffsohn ist Historiker und Publizist. Aus seiner Feder liegen vor: «Wem gehört das Heilige Land?» (2002) und «Eine andere Jüdische Weltgeschichte» (2022).