Sich um Putins Gesichtswahrung Sorgen zu machen, ist eine Verrücktheit – seine Macht bewegt sich jenseits aller Realität, auch jener des Krieges
NZZ, Timothy Snyder, 18.06.2022
Zurzeit kursiert im kriegsmüden Westen die Idee, dass man Putin die Brücke für einen sanften Ausweg aus einem Krieg bauen müsse, in dem Russland eine Niederlage droht. Konkret gemeint sind territoriale Zugeständnisse der Ukraine. Eine krasse Fehleinschätzung.
Manche Beobachter des russisch-ukrainischen Krieges scheinen zu glauben, dass die grösste Gefahr darin bestehe, dass die Ukraine gewinnen oder zu schnell gewinnen könnte und dass dies für Putin einen Gesichtsverlust darstellen würde, den man ihm besser ersparen sollte.
Es ist dies eine zutiefst perverse Sicht der Dinge. Putin hat sich dazu entschieden, in der Ukraine einen Aggressions- und Vernichtungskrieg zu führen. Wo immer Russland ukrainisches Territorium unter seine Kontrolle bekommt, begehen die Russen völkermörderische Verbrechen an den Bürgern der Ukraine, einschliesslich Massenvergewaltigung, Massentötung und Massendeportation. Eine Demokratie setzt sich gegen eine Autokratie zur Wehr, und mit ihrem Erfolg oder Misserfolg steht das Schicksal aller Demokratien auf dem Spiel.
Die russische Karbon-Oligarchie gibt uns einen Vorgeschmack auf den Kataklysmus, der uns erwartet, wenn wir uns nicht von Öl und Gas befreien. Russland blockiert das Schwarze Meer, verhindert die ukrainische Getreideausfuhr und droht damit, in diesem Jahr Dutzende von Millionen Menschen im Nahen Osten oder in Afrika dem Hungertod auszuliefern. Das sind die Dinge, über die wir uns Sorgen machen sollten, nicht über Putins Selbstbild.
Geschlossenes Informationsumfeld
Es gibt jedoch noch ein grundlegenderes Problem mit dieser Argumentation, das von einem falschen Verständnis der Funktionsweise der Macht in Russland herrührt. Das russische Medien- und Politiksystem ist darauf ausgelegt, Putin an der Macht zu halten, und zwar unabhängig davon, was in der Aussenwelt geschieht. Die russische Politik findet in einem geschlossenen Informationsumfeld statt, das Putin selbst entworfen hat und das er selbst kontrolliert. Er braucht unsere Hilfe in der realen Welt nicht, um beruhigende Fiktionen für die russische Bevölkerung zu erschaffen. Er schafft dies schon seit zwanzig Jahren ganz ohne unsere Hilfe.
In der virtuellen Realität gibt es stets einen Ausweg, und aus diesem Grund kann Putin gar nicht «in die Enge getrieben» werden.
Die Ukrainer haben das begriffen, und dies ist einer der Gründe, warum sie irritiert sind, wenn bei uns Vorschläge kursieren, dass die Ukraine Russland aus Sorge um Putins innere Befindlichkeit Territorium oder gar den Sieg abtreten solle. Sie wissen, dass dies nicht nur ungerecht, sondern auch sinnlos wäre. Was in der russischen Politik wirklich zählt, sind nicht Putins Gefühle oder die Realitäten auf dem Schlachtfeld, sondern die Fähigkeit des Regimes, den Spin der Geschichte für die russischen Medienkonsumenten zu definieren. Die Ukrainer haben die Erfahrung gemacht, dass es sich nicht auszahlt, reale Menschen in real existierenden Territorien für russische Narrative leiden und sterben zu lassen. Denn diese Narrative hängen gar nicht von der Realität ab.
Was passiert, wenn Putin zu dem Schluss kommt, dass ihm die Ukraine eine Niederlage bereitet? Er wird Massnahmen ergreifen, um sich zu schützen – indem er einen «Sieg» verkündet und das Thema wechselt. Er braucht keine Andockstelle mit Bezug zur realen Welt, weil seine Macht nicht dort ruht. Alles, was er zu tun braucht, ist, die Geschichte in Russlands virtueller Welt zu ändern, so wie er dies schon seit Jahrzehnten macht. Dabei geht es lediglich darum, in einer Sitzung die Tagesordnung neu festzulegen. In der virtuellen Realität gibt es stets einen Ausweg, und aus diesem Grund kann Putin gar nicht «in die Enge getrieben» werden. (Genauso wenig wie übrigens die reale russische Armee in der realen Ukraine. Wenn russische Einheiten besiegt zu werden drohen, ziehen sie sich einfach über die Grenze nach Russland zurück.)
Putins Macht ist gleichbedeutend mit seiner Fähigkeit, im russischen Fernsehen das Thema zu wechseln. Das tut er die ganze Zeit über. Man erinnere sich daran, wie der Krieg begann. Bis Ende Februar hiess es in allen russischen Medien, eine Invasion in der Ukraine sei undenkbar und alle Evidenzen seien einzig Kriegshetze der CIA. Die russische Bevölkerung hat das geglaubt – oder so getan, als glaube sie es. Als die russische Armee dann tatsächlich in die Ukraine einmarschierte, wurde der Krieg als unvermeidlich und gerechtfertigt dargestellt. Auch das glauben die Russen wieder, oder sie tun wenigstens so. Im Jahr 2015, als Russlands letzter Einmarsch in die Ukraine nicht alle seine Ziele erreichte, schalteten die russischen Medien von einem Tag auf den anderen um: von der Ukraine zu Syrien.
So wird Russland nun einmal regiert: mit Invasionen und Geschichten über Invasionen. Wenn es mit der Invasion nicht klappt, wird eine andere Geschichte aufgetischt.
Sollte eine reale Niederlage eintreten, wird Putin diese im Fernsehen als Sieg verkaufen, und die Russen werden ihm glauben oder so tun, als glaubten sie ihm. Er wird ein neues Thema finden, auf das er die allgemeine Aufmerksamkeit lenken kann. Wie er das schafft, ist das Problem des Kremls, nicht unseres. Es handelt sich um interne Mechanismen, für die externe Akteure im Grunde irrelevant sind. Es ergibt keinen Sinn, Putin einen sanften Ausweg in der realen Welt anzubieten, wenn alles, was er braucht, ein Ausweg in seiner virtuellen Welt ist. Er wird von seinen Propagandisten aus Pixeln errichtet werden, dafür braucht es uns nicht. Es hat in der Tat etwas mehr als nur ein wenig Demütigendes, wenn sich westliche Politiker dazu russischen Fernsehsendern als unbezahlte und unbedarfte Lehrlinge anbieten.
Das Seltsame daran ist, dass die westlichen Staats- und Regierungschefs all dies wissen – oder zumindest wissen sollten. Nach Russlands letztem Einmarsch in der Ukraine 2014 gab es viel Zeit zum Nachdenken. Evident wurde die vorrangige Rolle, welche die politische Fiktion im russischen Leben einnimmt. Jeder, der in der öffentlichen Diskussion über den Ukraine-Krieg mitmischt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass Putin mittels der Medien und nicht auf der Basis von Realität regiert. Noch vor drei Monaten konnten wir alle nur zusehen, wie Putin die Geschichte von «Der Krieg ist undenkbar» zu «Der Krieg ist unvermeidlich» änderte. Und dennoch ignorieren nicht wenige westliche Politiker aus irgendeinem Grund diese grundlegende strukturelle Tatsache der russischen Politik, wenn sie sich für Beschwichtigungsgesten gegenüber Putin einsetzen.
Gewiss, Putin könnte sich irren, in diesem oder in einem anderen Krieg. Er könnte zu lange damit warten, in der virtuellen Welt den Sieg zu verkünden. Dann verliert er die Macht – und jemand anderes übernimmt die Macht über die Fernsehkanäle. Wir im Westen können ihn vor einer solchen Fehleinschätzung nicht bewahren. Sie wird früher oder später passieren. Es ist durchaus möglich, dass die Macht in Russland während des Kriegs den Besitzer wechselt. Wir werden wissen, dass dies geschehen ist, wenn die russische Medienlandschaft ihr Gesicht ändert. Unabhängig davon, ob Putin während des Ukraine-Kriegs oder später stürzt, wird seine Kontrolle über die Medien bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie zu ihrem Ende kommt, umfassend sein. Es gibt keinen zeitlichen Konnex, mittels dessen unser eigenes Handeln in der realen Welt diesen Vorgang beeinflussen könnte.
Man muss wissen, was wir von den Ukrainern verlangen, wenn wir davon sprechen, dass sie ukrainisches Territorium abtreten sollten, um Putin eine sanfte «Ausfahrt» zu ermöglichen. Wir verlangen von Menschen, die Opfer eines völkermörderischen Krieges sind, dass sie für den Übeltäter eine Komfortzone schaffen. Wir erwarten von den Ukrainern, die ganz genau wissen, dass die russische Politik nur eine Fiktion ist, dass sie Opfer bringen in der Welt, in der ihre Familien und Freunde real leben und sterben. Wir verlangen von den Ukrainern, dass sie ihr eigenes Volk der ethnischen «Säuberung» überlassen, nur um den russischen Fernsehproduzenten das Leben leichter zu machen, deren völkermörderische Hassreden eine Ursache für die Greueltaten sind.
Wie uns die Ukrainer immer wieder klarzumachen versuchen, wird der Krieg durch Klischees über einen «in die Enge getriebenen» Putin, dem man einen «gesichtswahrenden Ausweg» offen halten sollte, verlängert, weil sie von der schlichten Notwendigkeit einer russischen Niederlage ablenken.
Fehlgeleitete Empathie
Wenn wir Putins psychische Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen und unseren eigenen Missverständnissen über die russische Politik erliegen, marginalisieren wir die ukrainische Demokratie. Anstatt eine Allianz verbündeter Demokratien zu bilden, üben wir uns in Laientherapie für einen Diktator. Es liegt kein Segen darin. Wir lenken unsere Empathie auf einen Diktator, der diese nur ausnutzen wird, um seinen Krieg fortzuführen, und weg von einem Volk, das diesen Krieg gewinnen muss, um ihn zu beenden.
Die Beschwichtigung Russlands lenkt uns von den Menschen ab, die wirklich in die Enge getrieben sind: die Ukrainer. Sie sind von der physischen Ausrottung bedroht, und deshalb kämpfen sie. Präsident Selenski muss tatsächlich nach einem Weg suchen, um diesen Krieg zu beenden, weil er nicht mittels Fiktionen regiert, weil er ein gewählter Anführer ist und weil er sich für seine Leute verantwortlich fühlt. Anders als Putin kann er nicht einfach das Thema wechseln. Er muss sein Volk hinter sich scharen.
Gegenwärtig sind die Ukrainer mit grosser Mehrheit der Meinung, dass der Krieg gewonnen werden müsse, und sie sind keineswegs bereit, Gebiete abzutreten. Im Gegensatz zu Putin wird Selenski Argumente vorbringen müssen, indem er sich auf die tatsächlichen Geschehnisse vor Ort bezieht. Er braucht also wirklich Hilfe, um den Krieg so schnell wie möglich zu gewinnen, aber auch um den Ukrainern eine Perspektive für die Nachkriegszeit zu geben.
Jeder vernünftige Mensch will, dass dieser Krieg ein Ende findet. Das aber bedeutet, mehr an das Wohl des ukrainischen Volkes zu denken und sich weniger um Probleme zu sorgen, die Putin in Wirklichkeit gar nicht hat.
Timothy Snyder, Jahrgang 1969, ist amerikanischer Historiker und Professor an der Yale University mit den Schwerpunkten Osteuropa und Holocaust-Forschung. Der abgedruckte Text wurde zuerst auf seiner Website veröffentlicht. – Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.