Wieweit folgen Wissenschaftler dem Herdentrieb?
Wieweit folgen Wissenschaftler dem Herdentrieb?
In der Forschung gibt es starke Anreize, sich ähnlich zu orientieren wie die Kollegen, auch in der Klimadebatte. Inhaltlicher Mainstream wird beim Publizieren von Fachbeiträgen oft bevorzugt.
Bei Konsumgütern sind wir daran gewöhnt, dass es Moden gibt. Zum Beispiel sind die Röcke in einer Saison lang, in der nächsten kurz und dann ganz kurz, nur um wieder lang zu werden. Moden werden von einem Wechselspiel zwischen Innovation und Imitation getrieben. Influencer, wie man heute sagt, setzen die Agenda, und Follower möchten signalisieren, dass sie modern sind. Von aussen betrachtet, erscheint das absurd.
Aber wie steht es mit der Wissenschaft? Sind Wissenschaftler rationale Suchmaschinen, die, ungeachtet jeder menschlichen Schwäche, der Erkenntnis nachjagen? Seit mehr als dreissig Jahren bin ich Wissenschaftler und habe auch dort schon viele Moden kommen und gehen sehen. Nur entstehen diese Moden nicht so sehr aus menschlichen Schwächen wie Eitelkeit, sondern aus den Anreizen, die das Wissenschaftssystem setzt. Ein Wissenschaftler muss vor allem vorweisen können, dass er Wissen geschaffen hat. Das geschieht dadurch, dass er seine Ergebnisse in anerkannten wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert. Die Gutachter der Zeitschriften haben die Aufgabe, festzustellen, ob das Ergebnis richtig und ob es relevant sei. Dabei ist der Wissenschaftler prinzipiell frei, seine Forschungsthemen zu wählen. Also sollte man vermuten, dass Wissenschaftler in alle Richtungen ausschwärmen, um Erkenntnisse zu finden. Jedoch beobachtet man eher, dass die meisten das erforschen, was andere auch gerade erforschen.
Treffen die Modelle zu?
Je weniger objektiv die Qualität der Forschung gemessen werden kann, desto eher besteht eine Tendenz zur Bildung von Denkschulen, also von Forschergruppen, die an die Richtigkeit gewisser grundlegender Hypothesen glauben, ohne diese beweisen zu können. In der Mathematik kann man – jedoch manchmal mit erheblichem Aufwand – letztlich feststellen, ob eine Behauptung wahr oder falsch ist. Bewegt man sich im Spektrum der Wissenschaften einen Schritt weiter weg von der Mathematik, so ist man bei den Naturwissenschaften. Diese benutzen die Mathematik als Sprache, basieren letztlich aber auf Messungen in der Natur – entweder aus Beobachtungen in der Vergangenheit oder aus neugenerierten Beobachtungen durch Experimente. Wenn Experimente beliebig oft wiederholbar sind, kann sich ein Gutachter einer wissenschaftlichen Zeitschrift selbst davon überzeugen, ob die Behauptung stimmt. So ist zum Beispiel ziemlich gesichert, dass das Gravitationsgesetz gilt, daraus folgt, dass die Strecke, die ein Körper (z.B. ein Apfel) im freien Fall zurücklegt, quadratisch mit der Zeit wächst.
Nur gibt es leider auch in den Naturwissenschaften Probleme, die man nicht durch beliebig häufige Wiederholung von Messungen entscheiden kann. Eines davon ist die Frage, ob es global warming gebe – und wenn ja, wodurch es verursacht werde. Dies ist nach der öffentlichen Meinung ein hochrelevantes Problem. Nur kann man unsere Umwelt nicht beliebig oft nachbauen und dann alle Einflussfaktoren durchtesten. Also versucht man Klimamodelle mittels Beobachtungen aus der Vergangenheit zu optimieren. Da man aber über das vergangene Klima nicht so viel weiss, bleibt es ungewiss, ob die Modelle zutreffen. Noch schlechter ist die Richtigkeit von Behauptungen in den Sozialwissenschaften feststellbar. Hier gibt es typischerweise viel sich widersprechende empirische Evidenz. Und ob ein Gutachter ein Thema relevant findet, ist in den Sozialwissenschaften sehr subjektiv.
Schliesslich gibt es noch die Geisteswissenschaften, die auch Fragen nachgehen, die gar nicht durch Mathematik oder Experimente als wahr oder falsch entscheidbar sind. Dies sind zum Beispiel normative Fragen, also Fragen danach, wie man sich verhalten sollte. Zurück zu den Anreizen eines Wissenschaftlers. Wie sollte er also seine Forschungsthemen auswählen? Das Einfachste ist, er schliesst sich dem Mainstream an. Dann weiss er, dass die Gutachter der Zeitschriften das Thema relevant finden und dass sie an dieselben Grundhypothesen glauben. Zudem wird er dann eingeladen, Gutachter einer solchen Zeitschrift zu sein – eine Hand wäscht bekanntlich die andere. Auch ist klar, dass sich jede Denkschule gegen kritische Erkenntnisse verteidigen muss, denn sonst werden ihre Arbeiten entwertet. Dem Wissenschaftssystem sind also Herdenverhalten und Konservativismus inhärent.
Dennoch gibt es ja von Zeit zu Zeit Umbrüche in der Wissenschaft. Diese können von innen oder von aussen kommen. Manche Probleme werden mit der Zeit gelöst – in der Mathematik durch einen cleveren Beweis, in den Naturwissenschaften durch neue Modelle, die besser zu den Beobachtungen passen, und in den Sozialwissenschaften durch sogenannte kumulative Evidenz, das heisst durch eine Anhäufung von gleichen Beobachtungen.
Dann ist es wie bei den Ameisen: Eine Futterquelle ist erschöpft, und die Ameisen müssen neu ausschwärmen. Manchmal gibt es aber auch viel Futter von aussen. Denn trotz wissenschaftlicher Freiheit gibt es immer wieder Versuche, die Wissenschaft von aussen zu lenken. Politiker, Sponsoren oder Unternehmen können ein Thema als sehr relevant ansehen und für dessen Erforschung Geld bereitstellen. Hierdurch kann dann ein Herdenverhalten ausgelöst werden. Diese Wissenschaftssteuerung kann positive und negative Folgen für die Erkenntnis haben. Sie kann helfen, einen Mainstream schneller umzustürzen, als das im konservativen Wissenschaftssystem geschehen würde, oder sie kann Wissenschaftler auf Gebiete führen, die nicht ertragreich sind, zum Beispiel, weil die Forschungsfragen falsch formuliert wurden.
Diese Tatsachen stellen den Rezipienten von wissenschaftlichen Ergebnissen vor grosse Herausforderungen. Ob er glauben soll, was die meisten Wissenschaftler schreiben, hängt von der Disziplin ab. Zudem ist es ratsam, dass man sich fragt, wie die beteiligten Wissenschaftler gefördert wurden. Moderne Hochschulen wie die Universität Zürich legen dies auf ihrer Website offen.
Thorsten Hens ist Professor für Finanzmarktökonomie an der Universität Zürich.