Neue Finanzkrise – verantwortlich ist die Gesellschaft auf Kredit
Eine neue Finanzkrise droht – doch nicht der Kapitalismus, sondern die Gesellschaft auf Kredit trägt die Verantwortung
Unzählige staatliche Hilfsinterventionen, Rettungspakete und Nachhaltigkeitsprogramme haben in den letzten Jahren eine schuldenfinanzierte Wohltätigkeit geschaffen. Sie ist nicht die Lösung, sondern der Ursprung der Krisenanfälligkeit.
** NZZ, Martin Rhonheimer, 13.04.2023**
Während Europa für Waffenlieferungen in die Ukraine enorme Summen mobilisiert, beginnt es im Gebälk des Bankensektors und der Finanzmärkte zu krachen. Gemeint ist nicht das Debakel der Credit Suisse, das höchstens indirekt mit einer sich abzeichnenden neuen Finanzkrise zu tun hat. Da ist schon eher der Zusammenbruch der Silicon Valley Bank ein beängstigendes Wetterleuchten.
Die Finanzmärkte haben sich nicht nur an das billige Geld gewöhnt, sondern infolge der jahrzehntelangen Niedrigzinspolitik nun Risiken aufgebaut, die sich jederzeit auswirken können. Nach der letzten Finanzkrise 2008 wurde gerettet und reguliert, was das Zeug hielt. Die geldpolitische Lockerung schuf jedoch genau jene Anreize, die das nächste Desaster vorprogrammierten. Regulierungen können auch Klumpenrisiken schaffen, weil nun alle dasselbe tun und somit auf dem gleichen Auge erblinden. Man glaubt, aus der Vergangenheit gelernt zu haben, doch erzeugt falsche Sicherheit die gleichen Fehler in neuem Gewand.
Ein Klumpenrisiko bilden die das Finanzsystem beherrschenden Staatsanleihen – Wertpapiere also, die nichts anderes als vom Bankensystem übernommene Staatsschulden sind. Sie sind die Frucht monetärer Staatsfinanzierung in gigantischem Ausmass unter Führung der Notenbanken. Schulden, die seit 2008 von der Politik für Bankenrettung, Euro-Rettung, Pandemie-Wiederaufbaufonds, Green Deal und anderes aufgenommen wurden.
Höchst unsichere Werte
In den Bilanzen der Geschäfts-, vor allem aber der Zentralbanken figurieren diese Schuldpapiere als scheinbar sichere Werte. Nominal mag das stimmen, doch steckt in diesen Papieren nicht drin, was draufsteht.
Insbesondere die nun steigenden Zinsen führen zu ihrer Entwertung. Und das heisst: Die Werte, mit denen Währungen wie der Dollar und der Euro besichert sind – Staatsschulden in den Bilanzen der Zentralbanken –, existieren so gar nicht. Sie nehmen ab, je mehr die Zinsen steigen und die Staaten, also die Schuldner, infolge steigender Zinsen in die Bredouille geraten.
Unser Geldsystem, das weitgehend auf Kreditgeld, also auf Geld in der Form von Schulden beruht, hängt in der Luft. Sobald die Märkte – letztlich die Bevölkerung – das Vertrauen in die Bonität der Schuldner verlieren, werden auch die vor allem durch Staatsschulden besicherten Währungen wie der Dollar und der Euro abstürzen.
Analoges, aber auf viel niedrigerem Niveau, geschah 2008, als das internationale Bankensystem mit hypothekenbesicherten Wertpapieren miserabler Qualität infiziert war: Nach dem Platzen der staatlich befeuerten Immobilienblase in den USA kam auch das Bankensystem an den Rand des Abgrunds. Mit neuen Regelwerken und noch mehr Geld zum Nulltarif versuchte man nun schlauer als der angeblich irrationale Markt zu sein. Wird jedoch jede Bereinigung verhindert und hinausgeschoben, werden sich die regulierenden Kräfte des Marktes schliesslich umso massiver zurückmelden.
Der Prozess der Erosion unseres Geldes wird jetzt infolge der Inflation und ihrer Bekämpfung durch die – an sich heilsame – Erhöhung der Leitzinsen kurzfristig zusätzlich beschleunigt. Natürlich ist die Inflation Folge genau jener Politik, mit der man so viel Gutes tun wollte. Tragisch ist: Gerade die Inflationsbekämpfung ist geeignet, das Bankensystem wieder an den Rand des Abgrunds zu bringen, also genau das zu bewirken, was mit der inflationären Geldpolitik verhindert werden sollte.
Frühwarner im Mittelalter
Am Ende, dessen Zeitpunkt niemand kennt, wird kommen, was am Ende schon immer kam: Schuldenschnitt oder Währungsreform, um einen währungspolitischen Neustart zu versuchen. Wird dieser jedoch nicht mit einschneidenden Wirtschaftsreformen verbunden, führt er lediglich zur Enteignung der Bürger zugunsten der Entschuldung der Staaten. Die politischen Risiken und Verwerfungen solch marktfeindlicher – und extrem unsozialer – Politik sind jedenfalls unabsehbar, das wissen wir aus der Geschichte.
Spätestens an diesem Punkt sollte klar werden: Das ist kein Thema für Ökonomen allein, sondern eines für den aufgeklärten Bürger generell. Bereits im 14. Jahrhundert meinte der französische Bischof Nikolaus von Oresme in seinem Traktat «De mutatione monetarum», Geldabwertung sei ein Betrug an den Bürgern, denn das Geld sei Frucht ihrer Arbeit und ihr Eigentum, nicht das der Fürsten – sprich: des Staates.
Die Entwertung des Geldes wurde damals vorgenommen durch Münzverschlechterung mit dem Zwecke der Ausweitung der Geldmenge für die Finanzierung politischer Projekte. Dies sei, so Oresme, nichts anderes als eine versteckte und besonders perfide Steuer, weil die Bürger sich dagegen nicht wehren könnten.
Kapitalismus als Sündenbock
Dasselbe sollte später der als einer der grössten Ökonomen des 20. Jahrhunderts angesehene Brite John Maynard Keynes erkennen – aber nicht um die Inflation zu geisseln, sondern um sie als besonders probates Mittel zur Stimulierung der Wirtschaft anzupreisen. Von den Ideen Keynes’ ist die Politik des billigen Geldes der letzten Jahre wesentlich inspiriert. Sie ist jedoch einer liberalen, rechtsstaatlichen und demokratisch verfassten Gesellschaft unwürdig und eher für antike und mittelalterliche Despoten typisch.
Allerdings spielen die Gesellschaft, die Bürgerinnen und Bürger der westlichen Industrienationen dieses Spiel freudig mit: «So lang’ der Wirth nur weiter borgt, sind sie vergnügt und unbesorgt», meint Goethes Mephisto in Auerbachs Keller und fügt maliziös hinzu: «Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte.»
Die Probleme unseres Finanzsystems sind letztlich das Problem einer Gesellschaft, die auf Kredit lebt, dies bereitwillig tut und die Verantwortung für die Folgen ablehnt. Wenn es dann schiefgeht, schiebt man das gerne dem Kapitalismus in die Schuhe.
Freilich: Kapitalismus ist ein Wohlfahrts- und Konsumtreiber. Aber das Leben auf Kredit, die Schuldenmacherei der öffentlichen Hand wie der Privaten, das Über-die-eigenen-Verhältnisse-Leben: Gerade das ist nicht kapitalistisch. Das Anspruchsdenken, Sozialleistungen und dazu schuldenfinanzierte Rettungspakete überall, nur um schmerzhafte Korrekturen zu vermeiden: Das kann auf die Dauer nicht gut gehen.
Die Babyboomer in Rente
Hinzu kommt die demografische Falle. Unsere Rentensysteme beruhen zum grossen Teil auf dem Umlageprinzip, das einen inneren Widerspruch enthält. Wie ein bereits 2005 vom damaligen deutschen Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit publiziertes Gutachten zeigt, erwirbt man in diesem System «einen Rentenanspruch schon dann, wenn man auf dem Wege der Beitragszahlung die Generation seiner Eltern finanziert. Dass man selbst Kinder hat, ist nicht wichtig. Ohne Kinder kollabiert jedoch das Umlagesystem.»
Das derzeitige System muss mit Steuergeldern oder Schulden am Leben erhalten werden. Nun gehen auch noch die Babyboomer in Rente, die dafür aber nicht vorgesorgt haben. Denn sie hatten zu wenig Kinder – der zunehmende Fachkräftemangel ist nur eine der Folgen. Auf Kredit finanzierte man nicht nur den eigenen Wohlstand, sondern auch die Zukunft – die Rente. Dafür wird nun die nachkommende Generation zur Kasse gebeten. Die Umverteilung von Jung zu Alt in unserem Sozialsystem hat bereits begonnen. Gleichzeitig wird das Leben teurer – auch dies eine Folge eines allzu spendierfreudigen und inflationstreibenden Sozialstaates.
Freilich hat die Generation der Babyboomer auch hart gearbeitet und den Wohlstand geschaffen, dessen sich nun die nachkommenden Generationen erfreuen dürfen. Dennoch war ihre Lebensführung weder nachhaltig noch zukunftsorientiert. Man beachte: Das ist rein ökonomisch, nicht moralisierend gemeint.
Immer weiter mit staatlicher Wohltätigkeit
Wer in jener Generation, die auf Kredit lebte, den «Konsumismus» kritisierte, sah das Problem selbstredend im Kapitalismus. In Wirklichkeit ist das Gegenteil wahr. Denn Kapitalismus beruht auf produktiver Arbeit und Sparen («Konsumverzicht»), das in erster Linie nichts anderes als Investieren privaten Eigentums auf eigenes Risiko ist – mit der Hoffnung auf Gewinn durch Wertschöpfung, die alle besserstellt. Dies aber ist das Gegenteil eines Lebens auf Kredit.
Aufrufe zum Umdenken werden ungehört verhallen. Denn unsere Wohlstandsgesellschaften sind wie Riesendampfer auf Kollisionskurs, bei denen Kurskorrekturen zu spät kommen. Vieles lässt sich auch gar nicht von heute auf morgen ändern. Zudem sehen viele im Maschinenraum und auf der Brücke die Probleme nicht – oder wollen sie nicht sehen.
Den Politikern kommen die klimahysterischen Endzeitpropheten, die Verächter des freien Marktes und das in vielen Formen auftretende Kapitalismus-Bashing zu Hilfe. Denn sie legitimieren die Politik, immer wieder neue Hilfs-, Rettungs- und Nachhaltigkeitsprogramme aufzusetzen und mit der schuldenfinanzierten staatlichen Wohltätigkeit weiterzufahren. Gute Aussichten für Politiker, die wiedergewählt werden wollen, aber schlechte für die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger.
Martin Rhonheimer war von 1990 bis 2020 Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien, wo er gegenwärtig lebt.