Henry Kissinger: Warnung vor strategischem Schlafwandeln
Damit in Zukunft nicht Mächte wie China oder Russland über uns bestimmen, braucht es mehr als aussenpolitische Improvisation. Dazu ermahnen uns Henry Kissinger und zwei regierungserfahrene Autoren.
Maximilian Terhalle 10.10.2019, 06:00 Uhr
Der inzwischen 96-jährige Henry Kissinger warnt die westlichen Politiker vor dem Verlust des Blickes auf das grosse Ganze. (Bild: Kevin Lamarque / Reuters)
Die Forderungen der deutschen Bundeskanzlerin Merkel, die liberale Weltordnung nicht durch Schlafwandeln unbewusst und unbedacht der Erosion preiszugeben, sind Legion. Ob die Substanz und die Finesse ihrer Aussenpolitik die tektonischen Herausforderungen an Europas vitale Interessen mit Verve gemeistert oder ob sie gerade nicht verhindert haben, dass die Grundlagen von Sicherheit, Freiheit und Wohlstand bedenklich geschwächt worden sind – es sind zunehmend mehr Strategen und vielleicht sogar eine lange im Unklaren gelassene Mehrheit der Deutschen, die überzeugendere Taktiken für notwendig halten.
Die hierin implizierten Fragen nach Gesamtansätzen, die dem schlafwandlerischen Element im Verfall von Ordnungen Einhalt gebieten und Staatsführungen strategische Konzeptionen anbieten, werden nun in den Schriften eines Doyens westlicher Strategie und Weltordnung, Henry Kissinger, ehedem Sicherheitsberater und amerikanischer Aussenminister, sowie zweier regierungserfahrener Professoren, Hal Brands und Charles Edel, mit grosser Souveränität und Blick auf die Zukunft erörtert.
Tragödie zeigt Fragilität
Die beiden Letztgenannten führen die klassische Tragödie als Rahmenkonzept ein. Kenntnisreich nutzen sie diese als Folie, um die gesellschaftliche Funktion der seinerzeit alljährlichen Aufführungen zu veranschaulichen. Die Fragilität aller sozialen Ordnungen, reflektiert in ihrem wiederkehrenden Scheitern, bezeugt die Gefahren, die von der Hybris ihrer Anführer und der Nachlässigkeit von Gesellschaften gegenüber dem Wert des für selbstverständlich Gehaltenen ausgehen. Brands und Edel vertiefen hier nicht die altphilologisch wichtige Bedeutung tragischer Entscheidungen, sondern betonen, dass der Zweck der Aufführungen und ihres tragischen Endes immer darin lag, durch das zerstörerische Moment den Zuhörern einen Anstoss geradezu aufzudrängen, ja hierin den Weckruf für die Zukunft zu sehen – nie das unvermeidliche Ende. Im Kern leiten sie den Blick des Lesers auf den verschwimmenden Ursprung der westlichen Ordnung von 1945: Krieg. Ohne Ausflüchte betonen sie, ja, Krieg ist immerwährender Teil der Geschichte. Der Dämon wird wiederkehren, wenn wir uns nicht die militärischen Voraussetzungen hart erkämpfter Freiheit, von Sicherheit und Wohlstand bewusstmachen und diese entsprechend energisch schützen. Und zwar hier und jetzt, mit allen verfügbaren Mitteln, um nicht später einen Krieg führen zu müssen, der unweigerlich allergrösste Opfer verlangt. Wer deshalb den Westen als seine Lebenswelt begreift, so die Autoren, der muss in diesen Mahnungen auch seine vitalen Interessen verorten. Dies schliesst die glaubhafte Fähigkeit ein, für seine Existenz kämpfen zu können und kämpfen zu wollen. Deutsches Sonderwegsdenken ist dabei der sichere Weg, diese Mahnungen folgenreich zu ignorieren. Dazu gehört nicht zuletzt die stete deutsche Weigerung, schieres militärisches Gewicht und seine politische Nutzung als integralen Bestandteil aller internationalen Machtbeziehungen zu betrachten.
Kissinger komplementiert diese Mahnungen, indem er Staatslenkern ein Werkzeug an die Hand gibt, mit dem sie beim Blick auf die Zukunft die immanente Komplexität und Unsicherheit internationaler Politik begrenzen können. Sein historisch-politisches Studium und die Praxis haben ihn gelehrt, dass Strategie nicht Problemlösen bedeutet, wonach Bürokratien routinemässig Komplexität in individuelle Probleme segmentieren und auf Entwicklungen sowie Überraschungen nur reagieren. Gewiss, das auch. Aber der Kern von Strategie, den die Führung eines Landes trotz allen internationalen Unwägbarkeiten und Widerständen standhaft beibehalten muss, ist dies: Vitale Interessen müssen in der Weltpolitik durch eine genau durchdachte Konzeption der Zukunft gesichert werden. Daraus folgt, ähnlich wie bei Brands und Edel, nicht reaktiv, sondern aktiv gilt es, die Zukunft im Sinne einer solchen Konzeption zu formen, um Grundlagen vitaler Interessen zu schützen.
Auf-Sicht-Fahren genügt nicht
Dass Kissinger damit auch das von Kanzlerin Merkel zum Alleinstellungsmerkmal erhobene Auf-Sicht-Fahren gemeint hat, sagt er nicht explizit. Aber er lässt den Umkehrschluss bemerkenswert offen, dass nämlich Auf-Sicht-Fahren gerade zum Verlust der Sicht auf das grosse Ganze, die vitalen Interessen, führen kann. Und damit legt er implizit nahe, dass so dem Schlafwandeln Vorschub geleistet wird.
Die strategische Gesamtschau zeigt dies: dass die Sanktionen gegen Russland seit Beginn vom simultanen Weiterbau von Nord Stream 2 unterlaufen wurden und Putin überdies nicht vom Bruch des INF-Vertrages abgehalten haben; dass die öffentliche Weigerung Merkels, Trump aufgrund innenpolitisch unvereinbarer Sichtweisen in der Frage der zwei Prozent nicht erheblich entgegenzukommen, zur Spaltung der Nato beiträgt; dass Macron 2017 Merkel gegenüber die Hand zu einem grossen Schritt nach vorne ausgestreckt hat, sie diese Gelegenheit versäumte und der Franzose neuerdings auf Russland zugehen will; und dass deutsche Antworten auf China bisher überraschend blass geblieben sind – all das verdeutlicht, dass Berlin den ihm gegebenen Vertrauensvorschub nicht eingelöst hat und damit schlafwandelnd zur Schwächung des Westens beigetragen hat. Die Bücher bieten zukünftigen Führungsfiguren wie Annegret Kramp-Karrenbauer und Friedrich Merz letztlich konkrete Ideen, um diesen Fehlentwicklungen zu begegnen. Kissinger gibt ihnen im Umbruch der Weltordnung den zentralen Rat, die Dynamik der Spielräume der stärksten Militärmächte als Begrenzung deutscher Strategiebildung zu betrachten.
Welchen Preis wird Putin verlangen ?
Als der amerikanischen Verteidigungsminister James Mattis 2017 sagte, die USA könnten nicht zwei Grosskriege führen, meinte er im Kern, dass die stärkste Grossmacht in einer Epochenwende sich stets dem schwächeren Rivalen zuwende, um den stärkeren zu balancieren. Berlin sollte dies genau bedenken, bevor sich die USA Moskau zuwenden. Sich dagegenzustellen, ist aussichtslos, wenn selbst Macron seit dem G-7-Gipfel in Biarritz in diese Richtung tendiert. Welchen Preis wird Putin von Europa dafür verlangen, dass es Amerika den Rücken gegen China freihält? Gelingt es Washington, Moskau von Peking zu lösen, wird dieser Preis sehr hoch sein. Das ist nicht 19. Jahrhundert, so denken Grossmächte seit je. Deutschland wird diese eiserne Realität nicht ändern.
In dieser rasant nahenden Zukunft sollte Berlin vielmehr alles daransetzen, die Verbindung mit der stärksten Militärmacht der Welt zu erhalten. Brands und Edel zitieren hier den deutsch-jüdischen Emigranten Hans Morgenthau: Es sei eine Illusion zu glauben, dass der Vorhang in absehbarer Zeit falle und die Tragödie der Machtpolitik nie wieder gespielt werde. Sie bieten ihrerseits eine zweite Idee: Wie kann die grassierende Nachlässigkeit gegenüber dem Schutz der Grundlagen von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand vermindert werden? Hier böte sich der zukünftigen Führung in Berlin ein Narrativ, das erklärend und gewinnend dies verdeutlicht: Wollen wir in einer Welt chinesisch-russischer Normen leben? Wenn ja, dann schaut nach Moskau und Hongkong. In den Demonstrationen dort zeigen diese Länder ihr wahres Gesicht. Wenn wir nicht wollen, dass «andere Hand anlegen an unsere Lebenswelt» (Joachim Gauck), dann müssen wir für unsere Werte auch kämpferisch einstehen wollen.
Die westliche Ordnung ist die beste, die wir kennen – schlafwandelndes Auf-Sicht-Fahren ist jedoch gewiss nicht ihre Bestandsgarantie. Machtgestützte Strategiekonzeptionen der Zukunft und Narrative hingegen, die die Bedrohung der westlichen Welt verständlich machen, sind es.
Winston Lord, Henry Kissinger: Kissinger on Kissinger: Reflections on Diplomacy, Grand Strategy, and Leadership. St. Martins Press, New York 2019. 176 S., Fr. 33.90
Hal Brands, Charles Edel: The Lessons of Tragedy. Statecraft and World Order. Yale University Press, New Haven 2019. 216 S., Fr. 35.90
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