NZZ: Auch im Krieg singen die Vögel - und die Ukraine bewegt sich doch
Früher verkniffene Gesichter, scheue Blicke, gekrümmte Schultern und steife Feierlichkeit. Heute knallbunte Fröhlichkeit und expressive Gesten – die Schule in der Ukraine wandelt sich.
NZZ, 6.2.2021, Christoph Brumme
Vor dem Krieg konnten die Einheimischen ihre Produkte in der Gebietshauptstadt Donezk verkaufen, zwei Haubitzenschüsse entfernt, Luftlinie 80 Kilometer.
Wir kommen am frühen Morgen in Welyka Nowosilka an, nach einer neunstündigen Busfahrt aus der ukrainischen «Kulturhauptstadt» Poltawa. Wer hier in der Gegend Kohle und Industrie erwartet, wird enttäuscht werden. Schönste Heidelandschaft erwartet den Besucher! Der nächste Kohleschacht ist viele Dutzend Kilometer entfernt. Drei Flüsschen schlängeln sich an der Siedlung mit ihren etwa 6000 Einwohnern vorbei, die Schaitanka, der Mokri Jaly und der Kaschlagatsch. Welse sollen in ihnen leben, früher gab es auch viele Krebse, jetzt mehr Schildkröten. Am östlichen Waldrand leben zwei Schwäne auf einem See.
Nur nicht auffallen
Meine Frau bemerkt einen Unterschied zwischen den Wohnhäusern hier und denen in Poltawa. Hier werden die Häuser und die Gartenzäune nicht bunt angemalt. Nackte Steine, keine Holzverkleidung, kein Zierrat, keine Skulpturen, Keramiken oder Mosaike, das ist die vorherrschende Norm bei den meist einstöckigen Häusern. Man will nicht auffallen, keinen Neid erwecken, keine Individualität betonen.
Die erste Überraschung in Welyka Nowosilka ist das Denkmal, das den Lenin abgelöst hat. Den Sockel hat man praktischerweise stehen lassen. Aber an der Stelle des diktatorischen Revolutionsführers steht jetzt eine schwarze Urne. Vielleicht den Opfern des roten Terrors gewidmet? Aber wäre das nicht ein makabres Symbol? Was wollte uns der Künstler damit sagen? Hier ruhe Lenins Asche, witzeln die Einheimischen.
«Schlechte Strassen sind gute Ärzte», lernt man im Donbass.
Doch die Inschrift an der Vorderseite verrät: «Gewidmet den ersten Siedlern – Eingeborenen der Krim, die 1779 das Dorf Grosses Janisol gründeten.» Griechen sollen sie gewesen sein, «Rumejani» und «Urumam i». Dass sie nicht freiwillig in diese Steppe kamen, sondern wahrscheinlich von der Krim gewaltsam hierher verschleppt wurden, wird nicht gesagt. Russische Truppen hatten das Gebiet erobert, das freie Kosakentum zerstört und die Leibeigenschaft eingeführt. Die Saporoger Sitsch, das Zentrum des ukrainischen Kosakenstaates, ist nur etwa 160 Kilometer entfernt. Ausländer wie Griechen oder Deutsche wurden auf Befehl der russischen Zarin Katharina II. hier angesiedelt, um den Widerstand der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit gegen die Kolonisatoren zu brechen.
Man spricht Griechisch
Die schwarze Urne auf dem Sockel soll offenbar eine Amphore sein, eine griechische Vase. Auch die Zeichnungen an den Seiten des Sockels zeigen wohl Menschen in griechischen Kleidern. Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2001 gaben 20 Prozent der Einwohner als Nationalität griechisch an, nur 13 Prozent bezeichneten sich als Russen, 65 Prozent als Ukrainer. In Nowosilka gibt es einen griechischen Chor, eine griechische Kulturgesellschaft und im historischen Museum einen eigenen Raum für griechische Kostüme und Haushaltsgeräte. Auch zu Sowjetzeiten wurde hier an den Schulen Griechisch unterrichtet.
Wir treffen Arthur, unseren Gastgeber, bei dem wir wohnen werden, vor dem Kulturhaus. Schon etliche Nächte haben wir vor dem Krieg zusammen verzecht. Arthur trägt ein T-Shirt mit einem deutschen Aufdruck, den er allerdings nicht versteht und sich von mir übersetzen lässt. «Bitte kein Neid, dass ich mit 40 noch so gut aussehe!» Er freut sich über den Slogan. Hauptsache, deutsch, es wird schon etwas Lustiges sein. In Poltawa hatte ich früher einmal einen Nazi getroffen, der ein T-Shirt trug mit dem Motto «Nazis, eure Eltern waren Geschwister». Nachdem ich ihm den Text übersetzt hatte, trug er das Kleidungsstück nicht mehr.
Während wir vor dem Kulturhaus rauchen, erzählt Arthur, dass bei Kriegsbeginn im Innenhof des Kulturhauses 200 Soldaten des Bataillons Donbass lagerten. Danach wurde dort ein Skate-Park aufgebaut. Die Soldaten wollten Arthur einmal nicht in sein Büro lassen; erst nach Rücksprache mit dem Direktor durfte er es betreten. Arthur arbeitet als Allround-Künstler im Kulturhaus, als Chronist, Fotograf, Kameramann und Musikant bei Kulturfesten. Er wurde vom ukrainischen Geheimdienst SBU zum Gespräch gebeten, um seine Teilnahme am illegalen Referendum zu erklären. 90 Prozent der Einwohner hätten damals für die Donezker Volksrepublik gestimmt, für die Abspaltung von der Ukraine, behauptet er. Bei einer heutigen Abstimmung wären es aber nur noch 50 Prozent, so seine Einschätzung. Als seine Gründe für die Teilnahme am Referendum nennt er das Fehlen von Arbeitsplätzen und die hohen Gebühren für Strom und Gas, angeblich die höchsten in der Ukraine. Im Spital könnten nur einfache Operationen durchgeführt werden, denn es fehlten Spezialisten für die moderne Technik.
Bevor wir in Arthurs Büro gehen, will ich unbedingt den Theatersaal in dem verschachtelten Gebäude wiedersehen. Gern würde ich hier einmal den «Besuch der alten Dame» von Friedrich Dürrenmatt mit den einheimischen Talenten inszenieren. Das Stück des Schweizer Dramatikers passt ja derzeit nahezu in jede ukrainische Siedlung, fast überall träumt man vom Besuch reicher Damen und grosszügiger Sponsoren. Doch das Prinzip Hoffnung wird im Stück bekanntlich verhöhnt von einem Racheengel. Auf die hiesigen Verhältnisse bezogen könnte man wunderbar darstellen, inwiefern die Einheimischen auch selbst an ihrem Elend schuld sind.
Ersatzweise singe ich spät in der Nacht wenigstens ein Spottlied über die Liebe der Donbassiten zu ihren Banditen, über ihre fröhlich-sarkastische Bereitschaft, sich betrügen zu lassen. Der Anlass ist ein Fluch, den Arthur auf den Banditen Janukowitsch ausstösst. Da greife ich zur Gitarre und erinnere Arthur daran, mit welchem Slogan er damals Janukowitsch wählte: «Wir wissen, dass er ein Bandit ist, aber er ist unser Bandit!» Eine Rechtfertigung, die man aber nicht nur damals im Donbass hörte, sondern sogar heute noch in vielen ukrainischen Orten.
Holocaust in Poltawa
In einer der zwei Bars im Zentrum, etwas abseits der Hauptstrasse, trinken wir unser Frühstücksbier. Arthur hat mich schon vorgewarnt. Fünf Liter Whisky hat er von moldauischen Händlern besorgt zur Feier meiner Ankunft. Am Abend wird ein griechischer Chor im Kulturhaus singen, eine Tanzgruppe ihre neueste Choreografie vorführen; wir sind herzlich eingeladen.
Während wir in Erinnerungen schwelgen, fährt ein sportlicher älterer Herr auf einem schicken und chromglänzenden Motorrad vor die Bar. Wir erkennen einander im selben Moment, es ist Iwan, bekennender russischer Nationalist. Er hat mehrere philosophische Bücher über strenge Erziehung verfasst, seine Spezialität ist die autoritäre Erziehung als Voraussetzung für geistige Gesundheit, seine Hausgötter sind Friedrich Nietzsche und Fjodor Dostojewski. Starke Männer, devote Frauen, Disziplin und Ordnung, Willenskraft und Fleiss, das liebt Iwan. Wir umarmen uns, an Corona denkt niemand, niemand trägt eine Maske. Auch Iwan bestellt sein Bier. Als ich Gast in seinem Haus war, trank er immer «spirt», reinen Alkohol. Wirkt schnell und soll gesünder als Wodka sein.
Iwan erinnert daran, dass ich schockiert war über seine Behauptung, das Konzentrationslager Auschwitz und den Holocaust habe es nicht gegeben. Für einige andere seiner steilen Thesen konnte ich mindestens Verständnis aufbringen oder jedenfalls so tun. Doch für diese natürlich nicht. Als kleine Rache erzähle ich ihm jetzt von unserem Film über den Holocaust in Poltawa, wo die Deutschen mehrere tausend jüdische Menschen ermordeten. Er nimmt es nickend zur Kenntnis.Die grösste Neuerung in Nowosilka ist das neue Sportstadion, wo Kinder auf einem gepflegten, sattgrünen Rasen in schicken Trikots Fussball spielen. Ringsum Laufbahnen aus Kunststoff, die weissen Trennstriche millimetergenau gezogen. Daneben noch eine Sporthalle mit hohen Glaswänden. Die Lehrerin Wiktoria erzählt, dass ein Junge, der mit seinen Eltern in eine andere Siedlung gezogen ist, unbedingt zurückkommen will, um hier Fussball spielen zu können. Auch in unserer Männergesellschaft wird das Stadion gelobt. «Die Kinder treiben Sport, sie werden nicht trinken wie wir», so die Hoffnung, nachdem Arthur die Fünf-Liter-Flasche Whisky in kleinere Flaschen gefüllt hat. Unsere Partys dauern bis Mitternacht. Einige Frauen vom griechischen Chor singen für uns griechische, ukrainische und russische Lieder über die Heimat, die man nicht gewählt hat.
Der Abgeordnete Sergei, ein anderer langjähriger Freund, lacht bei unserem Treffen über Arthurs Zahlen vom Referendum. Arthur verschweige, dass sich nur 25 Prozent der Bewohner an der Abstimmung beteiligt hätten. Und viele von ihnen hätten dagegen gestimmt, so dass real nur 10 Prozent der Wahlberechtigten für die Abspaltung von der Ukraine gewesen seien.
Arthur behauptet, Sergei habe die Teilnehmer des Referendums fotografiert und die Fotos dem Geheimdienst SBU gegeben. Sergei erzählt, er habe niemanden fotografiert, sondern beim SBU lediglich darauf hingewiesen, dass Fotos von den Teilnehmern ja im Internet veröffentlicht worden seien. «Ich will keinen russischen Panzer in meinem Garten haben», so begründet er seine proukrainische Position.
Nicht immer ganz nüchtern
Sergei fährt uns durch die Siedlung, zeigt die renovierte Schule, die neu asphaltierten Strassen, neue Geschäfte, eine neue Autowaschanlage. In den Wäldern ringsum lebten auch Fasane, erzählt er. Man könne sie mit Steinen töten und essen, meint er, manche täten das.
Gerücht und Wahrheit sind manchmal schwer zu unterscheiden. Eine Frau solle von betrunkenen Soldaten ermordet worden sein, erzählt eine Verkäuferin, aber ausser ihr hat niemand etwas davon gehört. Drei Männer wollen eine Grossmutter gesehen haben, die ihre Ziegen mit einer Maschinenpistole bewacht. Allerdings waren die Männer nicht ganz nüchtern.
«Schlechte Strassen sind gute Ärzte», lernt man im Donbass. Die Lehrerin Wiktoria liess sich nach Donezk ins Krankenhaus fahren, um Gallensteine entfernen zu lassen, es war dringend, heftige Schmerzen. Im besetzten Donezk sind die Operationen billiger, es gibt da ein besonderes Förderprogramm für Ukrainer aus dem ukrainischen Teil des Oblast Donezk. Als Lehrerin verdient Wiktoria umgerechnet 230 bis 270 Euro. Sie fuhren also im Auto über die «Kontaktlinie», die Front. In Donezk lehnte es das erste Krankenhaus allerdings ab, sie zu behandeln, und der Weg zum nächsten Krankenhaus war so schlecht, dass sich die Gallensteine von selbst lösten. Die Operation hatte sich erübrigt. Der Taxifahrer will künftig seine Dienste als Chirurg anbieten.
Aufregender als der Krieg sind inzwischen aber die beinahe revolutionären Veränderungen in der Schule. Alle sind begeistert, was da passiert. Vom sowjetischen Mief keine Spur mehr, stattdessen ein buntes und fröhliches Gebäude, in dem das spielerische Lernen eingeübt wird. Rechenaufgaben an den Treppenstufen, Sitzpolster auf den breiten Fluren, das Alphabet und bunte Kreise zum Hüpfen, farbige, bequeme und funktionale Tische und Stühle, ein moderner Sportsaal. Die Schule hat einen «besten Lehrer der Ukraine», und eine Tanzgruppe gewann bei landesweiten Wettbewerben.
Ein Höhepunkt im vorigen Jahr war die Teilnahme am internationalen Wettbewerb Kreatives Essen, zusammen mit Schülern und Erwachsenen aus Grossbritannien, Nigeria, Indien und Algerien. Indem man die Vorzüge der eigenen Region international anpreist, lernt man die Heimat lieben. Schülerinnen und Schüler der 6. bis 11. Klasse entwickeln Geschäftsprojekte und stellen sie einer Jury vor. Die Sieger Elisabeth und Nikita aus der 6. Klasse gewinnen mit ihren Ideen für die Ausrüstung von Erholungsgebieten in der Schule.
Ewgenia aus der 7. Klasse arbeitet an der «Umsetzung der Ideenschule», an der Ausstattung des Kommunikationszentrums, und gewinnt damit den zweiten Preis. Mit dem neuen Schuljahr soll ein gesunder Lebensstil popularisiert werden, es werden Musikpausen für die Grundschüler durchgeführt, in denen sie singen und tanzen. Die Direktorin ist jung und postet auf Facebook viele begeisterte Berichte über die fröhlichen Veränderungen. Vier Programme der Uno unterstützen die Modernisierung der Schule und die Teilnahme an internationalen Wettbewerben, ausserdem die Europäische Union.Vergleicht man die Fotos aus den Schulchroniken, so werden die Unterschiede zwischen den Generationen deutlich. Früher Schwarz-Weiss-Fotos oder blasse Farben, verkniffene Gesichter, scheue Blicke, gekrümmte Schultern, steife Feierlichkeit. Heute knallbunte Fröhlichkeit, expressive Gesten, das Posieren ein Training für den eigenen Youtube-Kanal.
Von den Kindern lernen
Manchen Erwachsenen fällt es schwer, mit diesem Tempo mitzuhalten.«Wir hatten nie eine Zukunft, nie Chancen auf qualifizierte Arbeit», klagt Arthur am letzten Abend. Sein zwanzig Jahre jüngerer Freund Iwan erklärt ihm, wie man gesund und erfolgreich leben kann. Er solle weniger trinken und mehr Rad fahren. Iwan macht mit dem Fahrrad weite Touren und arbeitet für eine internationale Firma. Schon lange spricht man über die Idee, ein Fahrradfest zu veranstalten. Aber leider sind nicht genug Erwachsene bereit, sich zu engagieren. Sie müssen noch von den Kindern lernen, wie man das macht – Ideen entwickeln und umsetzen, nicht in Selbstmitleid versinken, sondern die Zukunft anpacken und gestalten.
Auch im Krieg singen die Vögel, sogar während heftigster Artilleriegefechte, wenn die Menschen mit ihren Schreien gegen den Lärm nicht durchdringen. Das berichten Zeugen, Einheimische und Artilleristen. «Die Vögel singen noch», so lautet jetzt ein Trostspruch im Donbass.
Der Schriftsteller ** Christoph Brumme,** 1962 im ostdeutschen Wernigerode geboren, lebt seit 2016 in der ostukrainischen Stadt Poltawa. 2019 ist bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen: «111 Gründe, die Ukraine zu lieben. Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt».