Alain Finkielkraut: «Ich wurde viel häufiger beschuldigt, ein dreckiger Rassist zu sein als ein dreckiger Jude»
Der Antisemitismus nehme zu, die Cancel-Culture breite sich aus, und Frankreich verleugne seine eigene Kultur – der Philosoph Alain Finkielkraut zeichnet ein düsteres Bild von der westlichen Zivilisation. Einer Gesellschaft, die durchdrungen sei vom Wunsch, nichts mehr zu sein, um niemanden zu verletzen.
NZZ, Benedict Neff 01.11.2021, 05.30 Uhr
«Ich bin ein bisschen ein Stubenhocker.» Alain Finkielkraut im September 2021.
Herr Finkielkraut, Ihr neues Buch heisst auf Deutsch «Ich schweige nicht» – das klingt fast so, als wollte Sie jemand mundtot machen. Auf wen oder was bezieht sich der Titel genau?
Dieser Titel ist nicht von mir. Er wurde vom Verlag gewählt. Im Französischen heisst das Buch «À la première personne». Ich kann meine Bücher veröffentlichen, wann und wo ich will. Ich gebe Interviews, werde ins Radio und ins Fernsehen eingeladen. Deshalb möchte ich nicht das Opfer spielen. Für die Progressiven bin ich aber ein lebender Skandal, ein Toter, der nicht weiss, dass er tot ist. Und da sage ich dann doch klar: Solange ich hier bin, melde ich mich zu Wort.
Ihre Gedanken und Gefühle kreisen um die «Unbewohnbarkeit der Welt». Ohnehin ist Ihr Buch eine pessimistische Zeitdiagnose. Linksliberale Kreise dürften Ihr Werk als typische Einlassungen eines alten weissen Mannes lesen. Sagt das Buch mehr aus über Sie oder über die Welt?
Dieses Buch sagt sehr wenig über mich aus. Ich spreche nicht über mein Privatleben. Aber Sie haben vermutlich recht: Für Linke ist es das Werk eines «old white man». Und wissen Sie, was? Das bedeutet, dass alles noch beschämender ist als in meinem Buch beschrieben. Über siebzig Jahre alt zu sein, scheint eine Sünde zu sein. Umso mehr, wenn man auch noch weiss ist. Und was die Progressiven besonders ärgert, ist, wenn sich die Alten auch noch Sorgen machen, anstatt sich über die wachsende Diversität zu freuen.
Ich nehme an, Sie freuen sich eher nicht.
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Sagen wir es so: Ich sehe nicht wirklich, dass die Diversität Europa Glück bringen würde. Als ob das Leben in den Banlieues so glücklich wäre. Als ob es in Frankreich nicht immer mehr Unsicherheiten gäbe.
Wie würden Sie Ihre Gefühle gegenüber dieser Welt beschreiben? Frustration? Enttäuschung? Bitterkeit?
Ich bin nicht verbittert. Ich habe grosses Glück. Ich habe gesundheitliche Probleme, ja. Aber im Übrigen geht es mir grossartig. Ich lebe mit einer Frau zusammen, die ich liebe. Ich habe wunderbare Freunde. Wenn ich über meine Besorgnis in der Öffentlichkeit spreche, dann nicht primär, um zu klagen. Es geht darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir noch umsteuern könnten.
Welche Rolle spielten bei der Entstehung dieses Buches die Angriffe, die Sie an einer Gelbwesten-Demonstration 2019 erlebt haben?
Das war seltsam. Ich war auf dem Weg nach Hause und bin an einer Demonstration vorbeigekommen. Auf einmal wurde ich erkannt. Etwa zwanzig Leute kamen auf mich zu und schrien: «Dreckiger Zionist, geh zurück nach Tel Aviv.» Zum Glück gab es Polizisten, hinter denen ich mich schützen konnte. Ich war nach dem Vorfall nicht verärgert. Eher verblüfft. Zu Hause habe ich meiner Frau sofort davon erzählt. Kurze Zeit später war die Sache schon in den sozialen Netzwerken. Das Telefon schellte ununterbrochen. Ich habe eine Menge Solidarität gespürt. Ich hatte sogar einen Anruf vom Präsidenten der Republik. Ein paar Stunden nach dem Angriff fühlte ich mich nicht verlassen. Dieses Gefühl war schön.
Das klingt so, als hätten Sie aus der Geschichte vor allem das Positive gezogen.
Nicht nur, denn allmählich habe ich mir vergegenwärtigt, was ich an der Demonstration gehört habe. Ein Mann sagte zu mir: «Frankreich gehört uns, wir müssen es heiligen. Frankreich ist für Einwanderer, und Frankreich ist für Araber, nicht für Juden.» Der Mann gehörte zwar nicht zu den offiziellen Gelbwesten. Aber seinen Worten wurde nicht widersprochen. Das hat mich getroffen und nachdenklich gemacht über einen gewissen Antisemitismus in Frankreich. Aber es hat mich nicht zu meinem Buch inspiriert, und es hat mich nicht traumatisiert.
Haben Sie Angst, wenn Sie sich auf der Strasse bewegen?
In meinem Bezirk kommen die Leute auf mich zu. Alle sind nett. Ich könnte sogar eitel werden, denken, ich sei ein Filmstar. Aber keine Sorge, das tue ich nicht. Dann gibt es aber auch Bezirke in Paris, die für mich tabu sind. Ich könnte nicht mehr im 10. Bezirk wohnen, wo ich aufgewachsen bin. Oder im 12., 19. oder 20. In den Banlieues bin ich nicht sicher, da macht man mir die Dieudonné-Geste. Sie wissen schon, diesen französischen Nazi-Gruss.
Sie zeichnen von sich selbst das Bild eines Outlaws, gleichzeitig wurden Sie 2014 in die prestigeträchtige Académie française aufgenommen. Wie passt das zusammen?
Ich bin kein Geächteter. Es wäre prätentiös, wenn ich das sagen würde. Gleichzeitig ist es so: Keine französische Universität würde es heute riskieren, mich zu einer Konferenz einzuladen. In den neunziger Jahren habe ich Vorlesungen an der École normale supérieure gehalten. Das wäre heute unvorstellbar.
Von der Politik wird in Europa keine Zensur ausgeübt, der Druck auf die Öffentlichkeit geht von Protestbewegungen aus. Wie ist es zu erklären, dass eine kleine Minderheit so viel Einfluss bekommen hat auf den Diskurs, wie zu denken und zu reden ist? Sind der Ursprung all dessen wirklich vor allem die Campus der Universitäten, oder gibt es weitere Faktoren?
Die Campus haben in den Vereinigten Staaten ein sehr starkes Relais in den Medien. Alle Journalisten der älteren Generation sehen dieses Phänomen ziemlich klar. Viele jüngere Journalisten sind selbst intolerante Wokes, die in den Debatten keine Widersprüche wünschen. Für die der politische Antagonist kein Gegner ist, mit dem man diskutiert, sondern eine Person, die eliminiert werden muss. Die Politik wird nach dem Modell des Kriegs gepflegt und nicht nach dem Modell des Gesprächs.
Wie erklären Sie sich, dass sich manche Medien mit den radikalisierten Studenten solidarisieren? Im Grunde kann der Journalismus kein Interesse daran haben, den Diskurs einzuengen.
Es liegt am Einfluss der amerikanischen Universitätskultur. Dann liegt es aber auch an der Jugend selbst. Es ist eine Zeit, in der man allergisch ist gegen Zweideutigkeit, gegen Komplexität. Man neigt in der Jugend dazu, die Dinge zu verabsolutieren. Hier zeigt sich auch der Erfolg von Greta Thunberg. Der Erfolg der Ökologie ist eine perfekte Sache. Sie ist Gerechtigkeit, Wissenschaft und Wahrheit zugleich. Der Manichäismus und das binäre Denken waren Merkmale des 20. Jahrhunderts. Sie werden mit der heutigen Linken wiedergeboren.
Den Kampf um die Universität, genauer um die Kulturwissenschaft, sehen Sie als den «chronischen Weltkrieg des 21. Jahrhunderts». Was passiert, wenn die Polarisierung zunimmt? Führt dies zwingend zu aggressiven Konflikten?
Wir erleben, wie die Ideologie die Geistes- und Sozialwissenschaften erobert. Das ist besonders tragisch, weil Amerika die schönsten Campus überhaupt hatte. Nach dem Krieg war es so, als sei das grosse Europa nach Amerika gekommen. Ich war einmal in Princeton, und ich konnte meinen Augen nicht trauen: die Ruhe, die Schönheit, eine geradezu klösterliche Atmosphäre. Heute wird Princeton von Figuren wie Joan Wallach Scott geprägt, einer wütenden Neofeministin, die die Burka und den islamischen Schleier anpreist. Sie drückt einer Universität den Stempel auf, an der Einstein lehrte. Es ist zum Weinen. Ein obskurantistisches Mittelalter ergreift den Westen. Ich bin überzeugt, dass letztlich die Exzesse an den Universitäten auch Trump hervorgebracht haben. In Europa, insbesondere in Frankreich, werden wir das Äquivalent zu Trump erleben. Er ist die Nemesis der politischen Korrektheit.
Was ist das Problem, wenn Formen zerfallen, wenn etwa das Geschlecht optional wird? Wenn es hinsichtlich der eigenen Identität keine Vorgaben mehr gibt? Man könnte darin auch eine grosse Freiheit sehen.
Das Leben ist nicht so. Es gibt einen nicht gewählten Teil der Existenz, über den man nicht entscheiden kann. In Amerika werden die Studenten an allen Universitäten aufgefordert, ihren Vornamen zu nennen. Man kann entscheiden, ob man männlich, weiblich oder nonbinär ist. Man kann mit einem langen Bart zur Tür hereinkommen und als Frau den Raum verlassen. Ein Typ hat sich über den Fragebogen lustig gemacht und als Name «Majestät» angegeben. Und gewissermassen ist dies genau, was passiert: Der Mensch wird zur Majestät seiner Existenz. Alles ist möglich. Alles ist wählbar.
Nochmals: Was ist das Problem?
Es ist eine Schein-Wahl. Das Geschlecht ist gerade das, was wir nicht wählen können. Es ist durch die Biologie vorgegeben. Natürlich gibt es Fälle, in denen eine Geschlechtsumwandlung absolut notwendig ist. Aber das muss die Ausnahme bleiben. In dem individualistischen und technologischen Wahnsinn, in dem wir leben, müsste es uns eigentlich ein Anliegen sein, den Menschen mit seiner Endlichkeit zu versöhnen.
In Ihrem Buch bezeichnen Sie Antirassismus als eine Ideologie. Das heisst, Sie halten den Kampf gegen Rassismus mittlerweile für heillos übertrieben.
Natürlich. Der Antisemitismus ist eine Variante des Antirassismus geworden, vor allem in Deutschland. Der Beweis ist Israel. Israel gilt als ein rassistischer Staat, der die Palästinenser unterdrückt. Und alle Juden sind verdächtig. Die grosse Errungenschaft des Antirassismus besteht also darin, dass er sich den Antisemitismus einverleibt und die Shoah gegen die Juden gerichtet hat. Ihnen wird vorgeworfen, sie würden die Shoah instrumentalisieren, um ihre Aggression zu rechtfertigen oder sogar die Shoah auf die Palästinenser umzuschreiben. Zu diesem Antirassismus gesellt sich der Islam. Es stimmt, er ist eine Religion. Aber diese Religion ist ein Problem. Sie ist mit der europäischen Zivilisation nicht vereinbar. Muslime können sich natürlich integrieren. Mit dem Islam als solchem ist es aber schwieriger. Wenn Sie das sagen, werden Sie der Islamophobie bezichtigt. Was ist Antirassismus also geworden? Ein Verbot, der Realität ins Auge zu sehen. Ich wurde viel häufiger beschuldigt, ein dreckiger Rassist zu sein als ein dreckiger Jude.
Eine andere These von Ihnen ist, dass jetzt, wo ein globalisiertes Weltbürgertum verkündet werde, die Juden besonders in der Kritik stünden, weil sie sich antizyklisch verhielten: Nach Jahrhunderten des Exils und der Wanderschaft sind viele in Israel sesshaft geworden.
Diese These ist aus dem Buch «Das jüdische Jahrhundert» von Yuri Slezkine. In einer Zeit, in der der Postnationalismus und das Weltbürgertum ausgerufen werden, wird jeder ein Jude. Aber die Tragödie der Juden ist, dass sie, ausgerechnet in diesem Moment, sesshaft werden. Dass die Juden den umgekehrten Weg gehen, zieht auch wieder Aggressionen auf sich.
Auch was Sie über die Erinnerungskultur schreiben, liest sich wie eine aussichtslose Situation: Die Erinnerungskultur gegenüber dem Holocaust schützt die Juden nicht, das Vergessen des Holocausts wäre aber noch schlimmer. Was ist zu tun?
Ich denke, dass wir an die Juden denken müssen. Ich bin mir aber nicht sicher, inwieweit dies zu einem sozialen Gebot werden sollte. Das grosse Paradox ist in Frankreich, dass der Unterricht über die Shoah obligatorisch wird und dass er gleichzeitig in einigen Schulen unmöglich geworden ist. Der Lehrer wird gleich von Zwischenrufen unterbrochen: Schauen Sie sich an, was die Juden den Palästinensern antun! Die Erinnerung darf die Geschichte nicht verschlingen.
Sie attestieren der Gesellschaft einen Wunsch, «nichts zu sein, um nie wieder auszugrenzen, niemanden mehr zu misshandeln». Das klingt nach einer pathologischen kollektiven Selbstverleugnung. Wie kommt es zu diesem Wunsch?
Dieser Wunsch kommt aus dem Trauma des Zweiten Weltkriegs. Im Jahr 1938 fand die Konferenz von Évian statt. Die Juden verliessen Deutschland, und alle grossen westlichen Länder weigerten sich, sie aufzunehmen. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es in Europa eine Art schlechtes Gewissen, das zum Grundsatz führte: «Nie wieder.» Dazu kam die Einsicht, dass die europäische Zivilisation das Grauen hervorgebracht hat, Hitler letztlich ein Produkt einer Hochkultur war. Mit der verfluchten Vergangenheit wollte man also brechen und anstelle der europäischen Zivilisation eine europäische Konstruktion aus Normen und Werten schaffen.
Die einzig auf dem Markt und dem Gesetz fusst und auf Identität verzichtet.
Genau. Und um für die Verbrechen der Grosseltern zu büssen, hat man die Gastfreundschaft im grossen Stil eingeführt. Die Exzesse davon kann man in Schweden sehen. Malmö ist heute eine «judenfreie» Stadt. In ganz Europa zeigt sich eine Libanisierung, die letztlich ein Resultat dieses Reueempfindens ist.
Der Begriff der Libanisierung ist bei uns nicht so geläufig. Ich nehme an, Sie meinen damit eine Art Zersplitterung des Staates, deren Ursache Streit und Konflikte zwischen verschiedenen Glaubensgruppen sind.
Genau. Viele Libanesen, die heute in Frankreich leben, sagen: Wir haben Libanon für Frankreich verlassen. Nun merken wir, wir haben in Wirklichkeit Libanon für Libanon verlassen.
Würden Sie also für eine Identitätspolitik plädieren?
Nein, ich denke nicht an Identitätspolitik.
Sondern?
Eine sinnvolle Politik ist nur in einer Nation möglich. Ich glaube nicht wie Habermas an eine Art postnationale Demokratie. Ich glaube auch nicht an den Verfassungspatriotismus. Das ist Unsinn, übrigens auch für Deutschland. Ich glaube an das Recht der Nationen, an historische Kontinuität, die Wichtigkeit einer gemeinsamen Sprache, Geschichte und Kultur. Die Nation ist aber nicht nur in Frankreich in Gefahr. Deutschland hat Bundestagswahlen abgehalten und nicht einmal über Einwanderung gesprochen. Deutschland war der Abschaum Europas, jetzt macht man auf «Wir schaffen das». In Köln darf der Muezzin sogar zum Gebet rufen. Da frage ich mich: Haben die Deutschen den Verstand verloren? Vielleicht hat sie die Reue so hart getroffen, dass sie zu Idioten geworden sind.
Die Muezzin-Sache ist ein Pilotprojekt der Stadt: Vorerst soll der Gebetsruf nur während fünf Minuten erlaubt sein und nur am Freitag.
Ich hoffe, dass wir dies in Frankreich nicht erleben werden. Und bin entsetzt, dass die Deutschen nicht entsetzter reagieren. Ich will nicht eine unmenschliche Politik befürworten, sondern das Recht der Nationen und die europäische Zivilisation bewahren. Ich will, dass Frankreich Frankreich bleibt, Deutschland Deutschland bleibt und Europa Europa.
Reisen Sie?
Ich arbeite viel. Und ich bin ein bisschen ein Stubenhocker, manchmal fliege ich in die USA. Aber nicht, um die «New York Times» zu lesen. Die «Prawda» kann ich auch zu Hause lesen.
Auch die Zeitung «Le Monde» bezeichnen Sie als «Prawda». Sie sind ein Spezialist für Übertreibungen.
Ich übertreibe vielleicht ein bisschen. Was ich «Le Monde» zum Vorwurf mache: dass sie nie Klartext redet, dass Positionen, die ihrem Denksystem widersprechen, gar nicht mehr vorkommen. Das Denksystem dieser Zeitung geht so: Wir haben einen strukturellen Rassismus, Frauen werden unterdrückt, über Polizeigewalt wird zu wenig gesprochen. – Über das, was in den Banlieues passiert, kein Wort. Übrigens, schreiben wir hier eigentlich ein Buch?
Nicht gerade ein Buch.
Wie viele Seiten machen Sie?
Mal schauen. Vielleicht zwei.
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Was?! Das ist ein Witz. – Okay, zwei reichen.
Wir müssen noch über Éric Zemmour sprechen. Er bewegt Frankreich gerade wie keine andere politische Figur. Der Journalist scheint Marine Le Pen rechts zu überholen. Sein Traktat «La France n’a pas dit son dernier mot» führte die Amazon-Bestseller-Liste an. Möglicherweise wird er für die französische Präsidentschaft kandidieren. Was halten Sie von ihm?
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Zemmour beobachtet, wie sich die Bevölkerung verändert. Ein grosser Teil der Franzosen will nicht in einem Post-Frankreich leben. Viele Leute haben genug von einer Diversität, die am Ende nur kulturelle Unsicherheit, Unsicherheit im Allgemeinen und endemische Gewalt bedeutet. Zemmour ist so erfolgreich, weil er die Dinge anspricht. Und je mehr er verteufelt wird, desto populärer wird er. Denn diejenigen, die diese Angst verspüren, fühlen sich selbst dämonisiert. Was ist also geraten? Wir sollten Zemmour nicht verteufeln. Wir sollten die Probleme lösen, die er anspricht.
Das heisst, Sie wenden sich gegen eine Ausgrenzung von Zemmour. Könnte dies daran liegen, dass sich Ihre Haltungen in vielem ähneln?
Nein. Es gibt klare Unterschiede. Meine Angst ist, dass Zemmour ein Frankreich will, das sich nur durch sein nationales Interesse, den Patriotismus definiert, das den Egoismus heiligt. Ein Blut-und-Boden-Frankreich.
Wo äussert sich das genau?
Wenn es um die Dreyfus-Affäre geht, stellt er sich hinter die Anti-Dreyfusards, obwohl Dreyfus unschuldig war. Die Stärke der Armee soll nicht geopfert werden, auch wenn dadurch ein Unschuldiger geschädigt wird. Das ist Zemmours Argumentation. Wenn wir aber versuchen wollen, Ausländer bei uns zu integrieren, dann sollten wir nicht die Ehrenschuld glorifizieren. Wir sollten die Leute willkommen heissen und sagen: Sieh dir Frankreich an, wie viel Glück hast du, in diesem Land mit dieser Geschichte, dieser Kultur und dieser Sprache zu leben! Zemmour spricht die richtigen Themen an, aber er behandelt sie schlecht.
Zemmour wurde wegen Rassenhasses mehrfach verurteilt. Ist er in Ihren Augen ein Rassist?
Dieses Wort hat keine Bedeutung mehr. Ich habe es satt, dass jeder, der von den strengen Regeln der politischen Korrektheit abweicht, mit diesem Rassismusbegriff belegt wird. Ich habe genug von dieser Absurdität.
Welche Bedeutung hat es, dass in Frankreich ein Jude den Rechtspopulismus an sich zieht? Spielt der jüdische Background bei der öffentlichen Beurteilung Zemmours eine Rolle?
Sein Verhältnis zum Judentum kenne ich nicht genau. Er scheint gläubig zu sein, in die Synagoge zu gehen. Soweit ich weiss, hält er die Kaschrut ein. Zemmour sagt aber oft irritierende Dinge. So spricht er sich beispielsweise für eine teilweise Rehabilitierung von Marschall Pétain aus, der mit den Nazis kollaborierte. Damit hat er viele Juden gegen sich aufgebracht. Die Beziehung von Zemmour zum Judentum ist rätselhaft.
Sie haben die Situation von Malmö angesprochen. In der Schweiz sind einige Artikel zum Exodus der Juden aus Frankreich wegen des arabischen Antisemitismus erschienen. Geht diese Bewegung weiter, was ist Ihr Eindruck?
In fünf Jahren könnte es in einigen Vierteln von Paris ähnlich sein. In Seine-Saint-Denis sind Juden nicht willkommen. Einige von ihnen verlassen die Gemeinden und ziehen in Pariser Stadtteile, in denen sie besser akzeptiert werden. Immer mehr jüdische Eltern ziehen ihre Kinder von öffentlichen Schulen ab, um sie in Privatschulen und manchmal auch in katholischen Schulen unterzubringen. Dies hängt zum einen an dem Verfall der Standards – in vierzig Jahren verrückter Gleichmacherei haben wir den Sinn für Wettbewerb und Anspruch aufgegeben. Es liegt aber auch am Antisemitismus. Wer einen Davidstern trägt, versteckt ihn.
Mit der Einwanderung nehme auch die Demokratiefeindlichkeit zu, schreiben Sie. Sollte die Migration also gebremst werden, oder sollte sich vor allem die Integrationspolitik grundlegend ändern?
Wir müssen die Einwanderung verlangsamen, denn Assimilation oder Integration ist zunächst eine Frage der Zahlen. Integration kann nicht gelingen, wenn Ausländer – von ausserhalb Europas – in einer französischen Kommune die Mehrheit bilden. Jedes Jahr kommen um die 400 000 Menschen neu nach Frankreich. Dies ist eine enorme Zahl. Es ist eine verrückte Zahl. Wir müssen die Schule neu gründen, damit alle Kinder in die französische Kultur eingebunden werden.
Deutlich wird in Ihrem Buch, welche überragende Rolle die jüdische Identität in Ihrem Leben spielt. Ihr Vater hat Auschwitz überlebt. Sie schreiben: «Der Abgrund zwischen dem Lagerinsassen und dem Sohn eines Lagerinsassen ist unüberbrückbar.»
Ich habe es leider verpasst, meinen Vater eindringlich zu seiner Geschichte zu befragen. Wir waren zu sehr mit unserem Leben beschäftigt. Der Holocaust war keineswegs ein Tabu. Mein Vater erzählte mir, bruchstückhaft, fast jeden Tag davon. Aber ich habe nicht nach seinem Stigma gesucht. Ich bin nie mit einem Notizbuch auf meinen Vater zugegangen, um ihn zu bitten, mir alles zu erzählen. Und dafür fühle ich mich schuldig. Ich glaube nicht an Gott. Aber ich habe eine gewisse Hoffnung, das wiedergutzumachen. Ich hoffe, dass ich meine Eltern wiedersehe, um dann die Fragen stellen zu können. Es ist, zugegeben, eine sehr schwache Hoffnung.
Denken Sie manchmal darüber nach, in Israel zu leben?
Nein, daran habe ich nie gedacht. Ich hänge sehr, sehr an der französischen Sprache. Ich hoffe, dass mein Sohn auch nicht daran denken wird. Ich habe Houellebecqs Buch «Unterwerfung» gelesen. Er stellt sich ein islamisches Regime in Frankreich vor. Die Freundin des Protagonisten beschliesst, nach Israel zu reisen und dort zu leben. Er verlässt sie mit den Worten: «Ich habe kein Israel.» – Ein wenig trifft das auch auf mich zu. Ich war nie Zionist. Ich habe mir immer gewünscht, dass Israel in Ruhe gelassen wird, dass dem Land etwas mehr Verständnis entgegengebracht wird. Ich hoffe, dass ich nicht gezwungen sein werde, Frankreich zu verlassen. Da ich schon alt bin, sollte das nicht passieren.
Wie sieht Frankreich Ende des 21. Jahrhunderts aus?
Ich glaube nicht, dass Frankreich ein islamisiertes Land sein wird. Die Libanisierung ist eine viel realere Gefahr. Das heisst, die Entstehung geschlossener, einander feindlich gesinnter Gemeinschaften mit zunehmend gewaltsamen Auseinandersetzungen: Europäer gegen Araber, Araber gegen Schwarze, Tschetschenen gegen Maghrebiner und Asiaten gegen Algerier. Im Kleinen erleben wir das ja schon heute in Paris. Auch wenn die Zeitungen darüber nicht gern berichten.
Wir sind fertig.
Okay. Bitte tun Sie mir einen Gefallen, und schreiben Sie nun nicht, dass Sie einen Faschisten getroffen haben.
ben. · Alain Finkielkraut (* 1949) ist Philosoph und Autor. Bis 2014 war er Professor für Ideengeschichte an der École polytechnique in Paris. Im selben Jahr wurde er als Mitglied in die französische Gelehrtengesellschaft Académie française gewählt. Im September veröffentlichte er sein Buch «Ich schweige nicht: Philosophische Anmerkungen zur Zeit» im Langen-Müller-Verlag. Teil des Buches ist ein Gespräch zwischen ihm und dem deutschen Philosophen Peter Sloterdijk.