NZZ: Krawall in Stuttgart: Deutschlands Polizei als Boxsack
Zu sagen, dass es Deutschlands Polizei gerade nicht leicht hat, wäre eine Untertreibung. Es gab die «Black Lives Matter»-Demos, an denen Zehntausende gegen Rassismus und Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten auf die Strasse gingen – und dabei oftmals die Zustände dort mit den Zuständen im eigenen Land gleichsetzten. Es gab eine Vielzahl von Medienberichten, in denen versucht wurde, das Bild eines «strukturellen Rassismus» zu zementieren. Der Tiefpunkt war eine Kolumne in der «TAZ», in der Polizeibeamte mit Abfall gleichgesetzt wurden. Und nun Stuttgart.
Die Videos der Ausschreitungen rasen seit der Nacht zum Sonntag durchs Netz. Man sieht überforderte Beamte, und man sieht einen Mob, der sich aufführt, als sei die Innenstadt der baden-württembergischen Landeshauptstadt die Bühne für eine Art Gangsta-Rap-Video. «Fuck the police! Fuck the system!», brüllt ein junger Mann in einem der Filmchen. Die Kamera zeigt derweil, wie andere junge Männer ein Polizeiauto unter Gelächter mit Steinen und Stangen demolieren. In einem anderen Video läuft ein Maskierter in vollem Tempo auf einen Beamten zu, der am Boden kniet, und tritt ihn um. In der Summe der Bilder entsteht ein Kaleidoskop der Verachtung: für den Staat, vor allem für die Polizei.
Kein Hauch von Respekt
Die Beamten sind in den Augen der Randalierer offenkundig keine Instanz, der man auch nur mit einem Hauch von Respekt begegnen müsste. Sie scheinen in der deutschen Polizei vielmehr einen Sack zu sehen, auf den man nach Belieben einschlagen kann.
Auf die Frage nach der Verantwortung gibt es zwei Antworten. Die erste Antwortet lautet: die Randalierer selbst. Keine politische Überzeugung und keine möglicherweise einmal erlebte soziale Benachteiligung kann als Rechtfertigung für eine solche Gewalt- und Zerstörungsorgie herhalten. Man kann nur hoffen, dass die Ermittler möglichst viele der Täter mithilfe der Videos identifizieren und dass die Richter später Strafmasse wählen, welche deren Geringschätzung für den Staat nicht noch weiter vertiefen.
Wer sind diese Täter? Auf den Videos erkennt man junge Männer, von denen augenscheinlich viele einen familiären Migrationshintergrund haben. Aber nicht nur. Einige der Randalierer haben sich mit Masken und Sturmhauben vermummt. Dahinter könnten sich sowohl Linksradikale als auch unpolitische Gewalttäter verborgen haben, mit oder ohne Migrationshintergrund.
Die ersten politischen Reaktionen fielen wenig überraschend aus. Für die AfD, die in ihrer Urteilsbildung noch nie auf Ermittlungsergebnisse gewartet hat, steht bereits fest: «Asylanten und Linksextremisten» seien in Stuttgart ausser Rand und Band gewesen, und das wiederum sei das Ergebnis der «Kuschelpolitik» gegen ebendiese Gruppen. Die Vertreter der anderen Parteien blieben im Gegensatz dazu vage. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak etwa twitterte, dass ihn die Gewaltausbrüche in Stuttgart erschütterten. Dem schloss sich die Grünen-Chefin Annalena Baerbock an. Der Staat müsse konsequent gegen Gewalt vorgehen, «egal woher sie kommt», schrieb sie. Saskia Esken, die Vorsitzende der SPD, wunderte sich indes über die «blindwütige Randale». Unbegreiflich sei ihr das.
Die einseitige Wachsamkeit der etablierten Parteien
Nun ist es grundsätzlich nicht verkehrt, wenn Politiker zugeben, dass sie etwas nicht begreifen. Allerdings gibt es auch ein Nicht-Begreifen-Wollen. Wenn irgendwo im Land eine Straftat begangen wird, bei der Fremdenfeindlichkeit eine Rolle gespielt haben könnte, warten Vertreter von Union, SPD, Grünen und Linkspartei selten das Ende der Ermittlungen ab, um ihr Urteil zu sprechen. Man könnte dieses Verhalten als demokratische Wachsamkeit loben, weil gewaltbereite Rassisten und Neonazis tatsächlich eine grosse Gefahr für die innere Sicherheit darstellen. Leider ist sie auffallend einseitig, die Wachsamkeit dieser Demokraten.
SPD und Grüne (und die Linkspartei sowieso) drücken bei linker Randale und Gewalt nicht nur regelmässig beide Augen fest zu, sie bekennen sich sogar als «Antifa»-Sympathisanten. Und zusammen mit den Unionsparteien stehen sie ratlos vor dem Problem, dass bei weitem nicht alle, aber leider mehr als eine Handvoll junger Männer mit Migrationshintergrund dem deutschen Staat und seinen Ordnungshütern ablehnend bis feindselig gegenüberstehen. Man sieht diese Verachtung in den Videos aus Stuttgart, man hört sie im migrantisch dominierten deutschsprachigen Gangsta-Rap, man kann sie regelmässig im Auftreten der Zehntausende Mitglieder zählenden kriminellen Grossfamilien im Land erleben. Man muss all das aber auch sehen, hören und erleben wollen.
Solange dieser Wille fehlt und solange die bürgerlichen und moderat linken Kräfte des Landes stattdessen zuschauen, wie linksradikale Gewalt kleingeredet und -geschrieben wird und Polizisten als potenziell rassistische Gewalttäter unter Generalverdacht gestellt werden, so lange werden sich AfD-Politiker als vermeintliche «Klartext»-Redner inszenieren können. Man spielt nicht das Spiel dieser Partei, wenn man die gesellschaftlichen Verwerfungen, von denen sie lebt, auf eine differenzierte Weise anspricht und zu lösen versucht. Im Gegenteil.
Man hilft, Vorurteile abzubauen: gegen die grosse Mehrheit der Menschen mit Migrationshintergrund, die sich nichts zuschulden kommen lässt und ein Gewinn fürs Land ist, und gegen die Polizisten, die die Verachtung der Minderheit in Form von Worten, Fäusten und Pflastersteinen zu spüren bekommen.
Marc Felix Serrao, Berlin, 21.06.2020, 16.28 Uhr